Luther führt dazu an: Messen, Fasten, Psalmen beten. An dieser Stelle hört er auf zu handeln und Gottes Handeln setzt ein: er läßt den Menschen im Gewissen leiden. Er macht den Menschen darin christusförmig. Er schenkt ihm den Glauben, die Sünde auf Christus werfen zu können und sie dadurch vernichtet zu sehen. Er zieht den Menschen in der Betrachtung Christi zu sich und zu der Erkenntnis seiner Liebe. Der Mensch wird so zum Sündenfeind. Er ist ein anderer, er ist neu geboren, er will nicht mehr sündigen. Das heißt: Der Betrachter geht anders und neu aus der Betrachtung hervor, und das liegt darin begründet, daß er von Gott in seiner Beziehung zu ihm „wesentlich“ verwandelt worden ist. Dies wird auch sichtbar in der zu Beginn von Luther formulierten Voraussetzung: Sinn liegt in der Beschäftigung mit der Passion, wenn man sie auf sich selbst bezieht: Er ermahnt den Leser, der sich anschickt, die Passion Jesu zu bedenken, sie auf sich selbst zu beziehen. Das Für-wahr-halten der Wahrheit Gottes ist irrelevant, wenn „er dier nit eyn got ist“. Ebenso ist das Beziehungsmoment erkennbar an dem Ziel der Betrachtung: Am Ende soll stehen, daß im Betrachter die Gottesliebe geweckt wird. Der neue Mensch ist nun zum Sündenfeind aus Gottesliebe geworden. Mit der Gewichtung der Eigenschaften Gottes, die er vornimmt, wird dies bestätigt: Erkenntnis Gottes bedeutet weniger die Erkenntnis der absoluten Gotteseigenschaften wie Gewalt oder Weisheit, sondern der relativen wie seiner Güte und Liebe. Luther weist also, indem er das Moment der Gottesbeziehung stark macht, darauf hin, daß das Handeln Christi am Kreuz erst in dem Menschen zur Vollendung kommt, auf den es gerichtet ist. Erst indem der Betrachter das Leiden Christi erkennt, sich erkennt, ihn als den Liebenden erkennt, hat es sein Ziel erreicht. Der Mensch läßt sich so von Gott verändern, ansprechen, etwas über sich selbst sagen. Läßt sich in Frage stellen, läßt Gott, den anderen, etwas über sich sagen und sich von ihm neu formen. Gottes Handeln am Menschen also konstitutiv dafür, daß das Bedenken der Passion kein imputativer Akt ist, sondern eine Beziehungsstiftung. Paränese Der Sermon hat als Thema die Zusage der Neugeburt des Menschen in seiner Betrachtung der Passion Christi. Es ist aber damit der Ernst des Gerichtes nicht hinweggenommen: Als paränetisches Moment weist Luther darauf hin, daß man das Leiden Christi an sich „verlorengehen lassen“ kann. Er weist auf den Unterschied hin zwischen dem, was Christus erleidet und dem, was den Menschen eigentlich erwarten würde, da er im Gegensatz zu Christus Sünder ist. Er läßt als Ermahnung folgen: „Wa Christo eyn nagell seynn haend adder fueß durchmartert, soltestu ewige solch und noch ergere negell erleyden, alßo dan auch geschehn wirt denen, die Christus leyden an yhn laßen vorloren werden“1. Später folgt eine weitere Ermahnung: Die Betrachtung der Passion und das damit verbundene Erschrecken ist unausweichlich. Wenn wir nicht in diesem Leben über den Gekreuzigten erschrecken und Christi Leiden fühlen, dann spätestens beim Sterben und im Fegfeuer. (6) Seelsorglicher Umgang mit dem Leser Der Sermon ist streng durchgegliedert, er führt sachbezogen zu seinem Ziel. Dennoch ist er in der Art eines Zwiegespräches Luthers mit seinem Leser gehalten. Dies wird an dem „Du“ deutlich und der Art, den Leser durch die gesamten Ausführungen hindurch persönlich anzusprechen. Darüber hinaus erweist sich Luther hier als Seelsorger, der um die Schwächen und Ängste der Menschen weiß. Besonders an zwei Stellen tröstet er den Leser, indem er voraussieht, welche Zweifel ihn plagen könnten. Er weist ihn darauf hin, daß es sein kann, daß man Christus um fruchtbares Bedenken seiner Leiden bittet, aber nicht sofort erhört wird. Dann „sol man nit vorzagen odder ablassen“. Dazu ist es möglich, daß man den Eindruck hat, daß das Bitten nicht erhört wird und darunter leidet. Luther tröstet: „… und mag wol seyn, das er nit weiß, das Christus leyden yn yhm solches wirckt.“ (11) Gerade das Leiden unter dem Nicht-Erhört werden kann bedeuten, daß Christus ihn den Schmerz leiden läßt, der zur conformatio führt. Auch die Angst des Menschen, nicht genug zu glauben, um, wie angeraten, die Sünden voll Vertrauen auf Christus zu werden, nimmt Luther vorweg und geht von dieser Erfahrung aus, wenn er rät: „Wan du nit magst gleuben, ßo soltu … Gott darumb bitten … Magst dich aber da zu reitzen, nit das leyden Christi mehr an zusehen …“, (indem er auf das liebende Herz Christ blickt). (14) 2.1.1.2 Die Beziehung des Sermons zur Tradition In mancher Hinsicht wird im Sermon Luthers die Tradition hörbar, aus der er kommt und von der sein Denken gespeist ist. So ist mit dem Bedenken der Passion das Ziel verbunden, daß daraus die Gottesliebe erwachsen soll. In seiner Schrift „De institutione inclusarum“ gibt Aelred von Rielvaux (+ 1167) eine Anweisung, wie durch die Meditation der beneficia Christi die Gottesliebe geweckt werden soll. In zwei Formen zeigt sich die wahre dilectio dei: „affectus mentis“ und „effectus operis“, d.h. im inneren Menschen durch die Meditation und am äußeren Menschen am Handeln erkennbar. Diese zweifache Form der Liebe zu Christus hat sich zum grundlegenden Schema in der Passionsbetrachtung entwickelt und findet sich z.B. auch wieder bei Jordan von Quedlinburg und Ludolf von Sachsen.1 Es geht bei der Betrachtung der Passion auch nach der Tradition darum, daß der Einzelne ein Verhältnis zu Jesu Leiden gewinnen soll2. Diese auf den Einzelnen bezogene Sichtweise ist auch bei Gerhart Zerbolt ausgeführt, wenn er formuliert, daß Christus „… pro te solo crucifixus esset et homo factus“3. Dies bringt Luther als Voraussetzung zu Beginn des Sermons zum Ausdruck, wenn er ausführt, daß das Für-wahr-halten Gottes ohne Bedeutung ist, wenn „er dier nit eyn got ist“. Auch das von Luther im Sermon als von zentraler Bedeutung benannte Ziel der Betrachtung, daß „der mensch zu seyns selb erkenntniß kumme“4, hat seinen Vorläufer in der zeitgenössischen mönchischen Frömmigkeit5. Dennoch versetzt er dieses Ziel durch seine Anweisung zur Betrachtung des Leidens in einen anderen Rahmen: die Selbsterkenntnis ist nicht mehr etwas, das der Mensch durch sein Handeln zu erlangen hoffen kann, sondern sie ist eine Gottesgabe, die ihm in der Betrachtung nach Gottes Willen von diesem übereignet wird.6 In mancher Denkweise und Begrifflichkeit wird die Herkunft von Luthers Denken und sein Stehen in der Tradition deutlich. Doch stellt er seinen Weg der Passionsbetrachtung in eine neue Bewegung. Sichtbar wird dies an seiner Umformung des Verständnisses von exemplum und sacramentum. Am Ende des Sermons, im 15. Punkt, führt Luther die Unterscheidung sacramentum – exemplum ein. Das Leiden Christi ist demnach bis dahin unter dem Aspekt des sacramentum zu verstehen: Es weist hin auf Christi Leiden und Sterben und bezeichnet damit das Leiden des Betrachters im Gewissen und sein Absterben in Bezug auf die Sünde. Es bezeichnet, was es bewirkt: Mit Sterben und Auferstehen Christi sind wir in sein Schicksal hineingezogen und dem Anspruch entzogen, den der Tod auf uns aufgrund unserer Sünde hatte. Dieses Geschehen ist allein das Wirken Christi an uns; sein Leiden ist sacramentum. Erst danach kann sein Leiden uns auch zum exemplum werden: wir folgen ihm in unserem Handeln nach, weil wir ihm gleichförmig geworden sind. Nun können wir selber wirken, seinem Exempel folgend, aber allein aus der Gottesliebe heraus, die durch die Erkenntnis seiner Liebe in uns entstanden ist. Mit diesem Verständnis des überlieferten Unterscheidungspaares von sacramentum und exemplum verleiht Luther diesen Begriffen eine andere Bedeutung als sie von der Tradition her hatten. Die Unterscheidung rührt von Augustin her. Christi Leiden ist dem Menschen als exemplum und sacramentum vor Augen gestellt und darin eine doppelte Handlungsaufforderung an den Menschen.
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