Mais on ne peut pas s’en tenir là; un nom propre n’a pas purement et simplement une signification; quand on découvre que Rimbaud n’a pas écrit La Chasse spirituelle, on ne peut pas prétendre que ce nom propre ou ce nom d’auteur ait changé de sens.36 Der Name als Äquivalent einer Zuschreibung einschlägiger, aus dem Leben oder dem literarischen Werk des Autors geschöpfter Merkmale, birgt die Gefahr der Deformation in sich und gleicht zudem für Genet einem die künstlerische Bedeutung einschränkenden Qualitätssiegel. Im Vordergrund seiner Reflexionen steht der Verzicht auf die dem Namen des Autors eingeschriebene Autorität, welcher er durch die Distanzierung von seinem literarischen Werk Rechnung trägt. Die Autorität resultiert stets aus einer gesellschaftlich erworbenen Anerkennung, welche auch zu jenen Grundmerkmalen gehört, die eine intellektuelle Intervention ermöglichen. Problematisch erscheint daher die Ablehnung der durch den Namen gesicherten Autorität in Hinblick auf Genets Eintreten in das intellektuelle Feld und seine öffentliche Funktion als Sprachrohr bestimmter revolutionärer Gruppierungen wie beispielsweise der Black Panthersoder der palästinensischen Freiheitsbewegung. Denn sein Einsatz in der Öffentlichkeit lässt die Möglichkeit eines Verzichtes auf den Gebrauch der eigenen Reputation fraglich erscheinen. Sein Misstrauen gegenüber der medialen Öffentlichkeit und ihrer Prozesse der Instrumentalisierung zeichnet sich somit bereits in seinen frühesten politischen Stellungnahmen ab. Tatsächlich repräsentiert auch Genets erster politischer Artikel jenen medienkritischen Standpunkt, wobei die Kritik an den Deformationsmechanismen der Öffentlichkeit in diesem Text nicht autoreferentiell, sondern in Hinblick auf Daniel Cohn-Bendits medial konstruiertes Image geäußert wird.37 Durch die Einschreibung des eigenen Namens in den medialen Diskurs wird der Name mit Bedeutung und Autorität aufgeladen, wodurch es zu seiner Verselbständigung und Deformation kommt, ein Prozess, der an Barthes’ Konzept des Mythos erinnert.38 In einem unveröffentlichten Text von 1976 mit dem programmatischen Titel „J’ai peur de mon nom“ zeigt sich, dass diese Thematik der medialen Defiguration auch weiterhin von Genet reflektiert wird.39 Die sich in Genets Kritik an der Einschreibung des Eigennamens in den medialen Diskurs abzeichnende Reflexion über die eigene Position in der Öffentlichkeit kann grundsätzlich als für das intellektuelle Feld der 1960er und 1970er Jahre symptomatisch eingestuft werden, in dem die Intellektuellen aufgrund der sozialen Umwälzungen zu einem kritischen Überdenken ihrer eigenen Autorität und Funktion in der medialen Öffentlichkeit sowie ihres Verhältnisses zu den revolutionären Gruppierungen veranlasst wurden. 2.2 Intellektuelle Handlungsentwürfe Genets Verortung im intellektuellen Feld orientiert sich an jenen beiden Persönlichkeiten, die dieses Feld in den 1960er und 1970er Jahren in Frankreich maßgeblich bestimmt haben und zu denen Genet in einem ambiguen Verhältnis stand: Jean-Paul Sartre und Michel Foucault. Daher soll bei der Analyse die Interdependenz zwischen Genet, Foucault und Sartre im Vordergrund stehen. Genets Verhältnis zu den beiden Philosophen kann als unstet und problematisch bezeichnet werden. Während Genets Beziehung zu Sartre auf die Anfänge seiner eigenen literarischen Schaffensphase zurückführt, beschränkt sich seine Beziehung zu Foucault auf jene kurze Zusammenarbeit in dem von Foucault gegründeten Groupe d’information sur les prisonsin den frühen 1970er Jahren sowie im Rahmen anderer politischer Aktionen für die Rechte der Immigranten in Frankreich, an denen auch Sartre beteiligt war. Trotz der offenen Distanzierung von den beiden Philosophen müssen sie als Bezugsgrößen betrachtet werden und sollen nicht einfach als Negativfolie zur Bestimmung der Stellung Genets im intellektuellen Feld dienen. Aufgrund der Solidarität in gemeinsamen militanten Aktionen sowie der Erfahrung derselben historischen Ereignisse und Begebenheiten einerseits und der impliziten, teilweise auch expliziten Bezugnahme zueinander andererseits lassen sich thematische und motivische Parallelen herausfiltern. Unter Berücksichtigung der interpersonalen sowie intertextuellen Dialogizität werden thematische Schwerpunkte untersucht, die sich als besonders relevant auszeichnen und welche die Basis jenes gemeinsamen diskursiven Bezugssystems bilden, das nicht auf Konsens abzielt, sondern Freiraum für jenen offenen Dissens lässt, den Sylvain Dreyer als prototypisch für Genets politische Positionierung herausstellt.1 Ursprung dieses Dissenses ist allerdings, wie Dreyer in seinem Beitrag behauptet, nicht alleine Genets Engagement für die Befreiung der palästinensischen Gebiete, wodurch er sich bewusst von Sartres pro-israelischer Haltung distanziert, sondern tatsächlich vor allem die grundsätzliche Poetisierung des Politikverständnisses, welche Genet beispielsweise im palästinensischen Kampf realisiert glaubt. Die Bedeutung und Funktion des Intellektuellen in der Öffentlichkeit, die damit verbundenen Handlungsmuster sowie die Kritik am Rechtssystem bilden die drei thematischen Hauptachsen. Die Herausbildung einer gemeinsamen diskursiven Formation der Kritik an der Rechtsstaatlichkeit kennzeichnet sich durch spezifische Diskursobjekte und -konzepte, die in einem weiteren Schritt näher beleuchtet werden. 2.2.1 Genet und Sartre: Der Poet und der Philosoph Gemäß Edmund Whites biographischer Rekonstruktion traf Genet im Mai 1944 Sartre zum ersten Mal im Café Floreund war dem Philosophen als letzte Entdeckung Jean Cocteaus bekannt.1 Gemeinsam mit Cocteau, durch dessen Beziehungen Genet bereits einmal einer lebenslangen Gefängnisstrafe entgangen war, richtete Sartre 1948 ein Gesuch an den französischen Präsidenten, um eine erneute Inhaftierung aufgrund einer noch nicht abgesessenen Strafe abzuwenden.2 Sartre beschreibt seine Beziehung zu Genet stets in Abgrenzung zu Cocteau: „[N]os rapports à l’égard de Genet étaient très différents; moi je l’encourageais à être seul, comme j’étais, seul; je ne veux pas dire abandonné de tous, mais ne cherchant aucun parrain pour entrer dans la littérature, alors que Cocteau l’aurait volontiers parrainé.“3 Die Beziehung zwischen Genet und Sartre ist durch einen gegenseitigen geistigen Austausch über Literatur und Kunst geprägt, wie White betont: „They shared an interest in all literary forms (theatre, cinema, fiction), although Sartre was no poet and Genet no biographer.“4 Von diesem offenen Dialog zeugen beispielsweise auch die gegenseitigen Textwidmungen sowie der Schriftwechsel über die Konzeption der Homosexualität, eine Frage, die Sartre in besonderem Maße faszinierte.5 Der intensive Austausch zwischen Sartre und Genet ist in jener historischen Phase zwischen 1945 und 1956 zu situieren, die mit Annie Cohen-Solal als die „années Sartre“ zu bezeichnen sind, in welcher der Philosoph sein Konzept des literarischen Engagements ausarbeitet.6 Er kulminiert in Sartres monumentaler, existentialistisch-psychoanalytischer Biographie Saint Genet, comédien et martyr7, die von Sartres Interesse an Genets Leben und Persönlichkeit Zeugnis ablegt und für die weitere Beziehung ein richtungsweisendes Fundament darstellt. Sartre erinnert sich, dass Genet selbst ihn um ein Vorwort zur in Planung befindlichen Gesamtausgabe seiner Werke bei Gallimard bat.8 Ursprünglich als Vorwort gedacht, bildet sie schließlich den ersten Band der Gesamtausgabe und übersteigt mit ihren rund 600 Seiten die Leseerwartungen eines Vorwortes. Sartre interpretiert Genets negative Reaktion auf das Werk als Effekt eines Spiegels, der ihn auf sich selbst zurückgeworfen habe: [Q]uand j’ai eu fini, je lui ai donné le manuscrit, il l’a lu, et une nuit, il s’est levé, il est allé jusqu’à une cheminée et il a pensé le jeter au feu. Je crois même qu’il a jeté des feuilles et qu’il les a reprises. Ça le dégoûtait parce qu’il se sentait bien tel que je l’avais décrit.9 Sartres Biographie, „objet bâtard, obèse, énorme, monstrueux“10, wie Cohen-Solal affirmiert, beschließt eine Kanonisierung des Werks und erhebt Genet zum Protagonisten seiner existentialistischen Philosophie: „Et Jean Genet sera enfermé, entre ces pages, dans le rôle du plus sartrien des personnages sartriens, du héros sartrien par excellence.“11 Genet selbst betont die sterilisierende Wirkung des Werks in einem 1964 entstandenen Interview mit Madelaine Gobeil:12 „[J’]ai mis un certain temps à m’en remettre. J’ai été presque incapable de continuer d’écrire. […] Le livre de Sartre a créé un vide qui a permis une espèce de détérioration psychologique.“13 Tatsächlich erkalten die Beziehungen zwischen Sartre und Genet im Folgenden. Zu einem späteren Zeitpunkt bestreitet Genet, das Buch jemals bis zum Ende gelesen zu haben, da es ihn langweile.14 Auch Genets Wertschätzung für den Philosophen bleibt zwiespältig, wie sich bereits im Interview von 1964 zeigt: „Sartre se répète. Il a eu quelques grandes idées et les a exploitées sous diverses formes. En le lisant, je vais souvent plus vite que lui.“15 Hier jedoch zollt er Sartre eine gewisse Sympathie und Anerkennung, indem er betont: „J’aime Sartre parce qu’il est drôle, amusant, et qu’il comprend tout.“16 Das hier nur implizit zu Tage tretende Konkurrenzverhältnis erstarkt in den Jahren des politischen Engagements und insbesondere durch den Dissens in Hinblick auf den Nahost-Konflikt, welcher, wie Winock herausstellt, das linke Lager mehr als jede andere Krise in Frankreich spaltete.17 So erinnert sich auch Edward Said, dass nicht so sehr Sartres monumentale Biographie Unfrieden gestiftet habe, die Genet mit den ironischen Worten kommentiert habe: „If the guy wanted to make a saint of me, that’s fine.“18 Vielmehr sei es aufgrund der pro-israelischen Haltung Sartres zu einem Zerwürfnis zwischen den beiden gekommen, wie die Wiedergabe des nachfolgenden Zitates von Genet belegen soll: „He’s [Sartre, S.I.] a bit of a coward for fear that his friends in Paris might accuse him of anti-Semitism if he ever said anything in support of Palestinian rights.“19 Möglicherweise ist das Spannungsverhältnis auch darauf zurückzuführen, dass Genet, so White, seinen politischen Aktivismus an Sartres Modell ausrichtete: „Although he [Genet, S.I.] did not turn actively to politics until the late 1960s, he certainly modelled his political activism on Sartre’s.“20 Dabei erscheint vor allem Genets Negation seines eigenen Status als Intellektueller bemerkenswert und es muss hinterfragt werden, inwieweit sich diese gegen Sartres Modell richtet. Die Distinktion zwischen der Rolle des Poeten und des Philosophen beschäftigt Genet bereits zum Zeitpunkt der Publikation von Saint Genet, comédien et martyr, wie Sartre in seinen Erinnerungen evoziert: „Il [Genet, S.I.] se prenait pour le poète et me prenait pour le philosophe et il a beaucoup usé de cette distinction qui n’était pas dite, mais on la sentait; il disait des choses sur le poète, il disait des choses sur le philosophe […].“21 Während der Phase seines politischen Aktivismus beansprucht Genet dann den Status des Poeten in Abgrenzung zur Funktion des Intellektuellen. In Genets Verständnis bedeutet ‚Poet‘, wie Alexandre Romanès betont, neben der religiös-ethischen Figur des Heiligen, des saint, die höchste Auszeichnung, welche Genet wenigen Auserwählten – beispielsweise Albert Einstein – zuteilwerden ließ.22 Etymologisch aus dem Griechischen stammend bezeichnet poïétèsden Schöpfer bzw. Erfinder. Bei Aristoteles wird seine Aufgabe von der des Geschichtsschreibers unterschieden, insofern letzterer in seinem in Prosa verfassten Geschichtswerk das wirklich Geschehene mitteilt, wohingegen der Dichter in Versform kommuniziert, was geschehen könnte.23 Darüber hinaus grenzt er mit seinen Werken zur Poetik und Rhetorik die Dichtkunst und die Redekunst gegeneinander ab und wendet sich mit seiner Poetikgegen Platons Verurteilung der Dichtung, wie dieser sie insbesondere im zehnten Buch seiner Ausführungen über den Staat verlautbart.24 Über gattungsspezifische Kontrastierungen hinaus begründet Platon seine Vorstellung einer traditionellen Feindschaft zwischen Philosophie bzw. Wissenschaft und Poesie, jenes „alte[n] Streit[s] zwischen Philosophie und Dichtung“25 unter Rekurs auf die ästhetischen und gesellschaftspolitischen Ansprüche beider Disziplinen. Während der Philosoph die Wahrheit sucht und Ideenkonzepte bildet, schafft der Poet entsprechend der platonischen Ideenlehre nur Illusionen und Trugbilder, indem er nämlich stets nur das Abbild eines Abbildes hervorbringt. Auf dieser Logik wird eine dichotome Struktur begründet, innerhalb welcher sich Wahrheit und Imagination bzw. Täuschung, Vernunft und Emotion, Wesenhaftigkeit und Abbilder einander gegenüberstehen. Platon fundiert in Ionund Politeiaseine Vorstellung des Dichters als „inspiré des dieux, et donc en tant que tel, porteur d’images incontrôlables, sources des mouvements passionnels violents“26 und „fauteurs de désordre potentiels“27, den es aus seinem Idealstaat zu vertreiben oder zumindest durch die Philosophen zu kontrollieren gilt. Genets bewusste Anknüpfung an die Funktion des Poeten und nicht des Philosophen oder Intellektuellen entpflichtet ihn von jener gesellschaftspolitischen Verantwortung, die mit dieser Rolle traditionell verbunden ist, und distanziert ihn von Sartres Modell des literarischen Engagements. Bereits zum Zeitpunkt der Entwicklung jenes Konzeptes in Qu’est-ce que la littérature?28 zeichnet sich ab, dass Sartre sein Verständnis von Kommunikation als sprachlich realisierte Beziehung zum Anderen durch den gattungsspezifischen Kontrast zwischen Prosa und Poesie kennzeichnet. Die Möglichkeit eines poetischen Engagements schließt er aus.29 Ziel des engagierten Autors nach Sartre ist die Enthüllung der Welt und des Menschen, um den Prozess der Bewusstwerdung und die Übernahme der Verantwortung des Individuums in der Gesellschaft voranzutreiben: „[L’]écrivain a choisi de dévoiler le monde et singulièrement l’homme aux autres hommes pour que ceux-ci prennent en face de l’objet ainsi mis à nu leur entière responsabilité.“30 Dieser enthüllenden Funktion von Literatur und Sprache stellt er die autoreferentiellen Literatur- und Kunstformen gegenüber, zu denen für ihn die Poesie zählt. Sartre klassifiziert die Poesie als negative Kunstform, insofern sie niemals Teil einer Aktion sei, sondern sich selbst genüge. Daraus resultiert seine Kritik an der gesellschaftlichen Abgeschiedenheit und Einsamkeit des Dichters, welche durch jene negativen Charakteristika der Nichtmitteilung und des Narzissmus determiniert werden, die Sartre der Lyrik auch noch Mitte der 1960er Jahre attestiert.31 Nur die Prosa werde durch ihre Öffnung zur Gesellschaft hin jenem ethischen Imperativ gerecht, den Sartre in seiner Kongruenz zu dem von ihm erhobenen ästhetischen bzw. prosaischen Imperativ als Grundlage des literarischen Engagements versteht. Benoît Denis definiert den engagierten Autor in diesem Verständnis zu Recht als „celui qui a pris, explicitement, une série d’engagements par rapport à la collectivité, qui s’est en quelque sorte lié à elle par une promesse et qui joue dans cette partie sa crédibilité et sa réputation.“32 Die kontextuelle Unmittelbarkeit des literarischen Engagements schafft eine historisch fundierte Interaktion zwischen dem Autor und seinen Zeitgenossen, wobei der Autor die Funktion eines Mediators einnimmt: „L’écrivain est médiateur par excellence et son engagement c’est la médiation.“33 Im Unterschied zu Roland Barthes unterscheidet Sartre daher auch nicht zwischen „Écrivains et écrivants“34, also zwischen Schriftsteller und Schreibendem, als welchen Barthes den Intellektuellen bezeichnet, sondern untermauert die Kongruenz jener beiden Standpunkte des Schriftstellers und des Schreibenden bzw. des Intellektuellen aufgrund der identischen Funktion als gesellschaftlicher Mediator vermittels eines ethischen Gebrauchs von Sprache.35 Für Sartre repräsentiert der Schriftsteller die Funktion des Intellektuellen „ par essence“36. Die Mediatorenfunktion kennzeichnet folglich auch Sartres Konzept des universellen Intellektuellen, dessen funktionellen Wandel er bereits 1965 konstatiert, der dann jedoch mit Mai ’68 seine vorläufige Vollendung findet.37 Sartres Definition des Intellektuellen basiert auf der Unterscheidung zwischen Experten und Intellektuellen, wobei er jedoch jeden so genannten „technicien du pouvoir pratique“ als potentiellen Intellektuellen betrachtet, insofern er nämlich seinen Kompetenzbereich überschreitet.38 Eigentümlich sei daher für den Intellektuellen das ständige Spannungsverhältnis zwischen spezifischem und universellem Wissen, wobei jedoch für Sartre der Intellektuelle seine Funktion erst als „technicien de l’universel“ erfüllt.39 Wenn auch Sartre die Inkarnation jenes ‚universellen Intellektuellen‘ repräsentiert, so lässt sich im Nach-Mai gerade auch ein Transformationsprozess seiner Vision des intellektuellen Engagements konstatieren, welcher sich in seinem Bestreben äußert, „[de] nier le moment intellectuelpour tenter de trouver un nouveau statut populaire.“40 Er postuliert die Auflösung des klassischen universellen Intellektuellen durch die Hinwendung zu dem, was er in seiner Einleitung zum Plädoyer für den Intellektuellen als „compagnon radicalisé des forces populaires“41 und in einem Interview von 1970 als universelles Konkretes, als „universel concret“42, bezeichnen wird: Il faut d’abord qu’il [l’intellectuel, S.I.] se supprime en tant qu’intellectuel. Ce que j’appelle intellectuel donc c’est la mauvaise conscience. Il faut qu’il mette ce qu’il a pu retirer des disciplines qui lui ont appris la technique de l’universel directement au service des masses. Il faut que les intellectuels apprennent à comprendre l’universel qui est désiré par les masses, dans la réalité, dans le moment, dans l’immédiat.43 Sartre argumentiert, dass der klassische bzw. universelle Intellektuelle sich als Theoretiker des praktischen Wissens stets in einem Spannungsverhältnis zwischen dem Universellen und dem Spezifischen befand44 und dass sein Universalitätsanspruch nur noch durch seine Verbindung zur universellen Gesellschaft, nämlich den Massen, gesichert werden könne:45 [I]l faut que ceux d’entre eux [les intellectuels, S.I.] qui ont vraiment changé se rendent compte qu’il n’y a plus d’autre possibilité d’avoir une fin universelle que de se mettre en liaison directe avec ceux qui réclament une société universelle, c’est-à-dire avec les masses. Mais ça ne veut pas dire qu’ils doivent, comme les intellectuels classiques, ‚parler‘ au prolétariat, bref faire de la théorie, soutenue par les masses dans l’action.46 Sein Verständnis des Intellektuellen basiert folglich auf einer Kooperation des Intellektuellen mit den Massen, die jedoch dessen Rolle als Sprachrohr bestimmter Gruppierungen überschreitet. So lehnt Sartre auch die Ansprache an die Arbeiterschaft ab und befürwortet stattdessen den kommunikativen Austausch. Diesen sieht er in La cause du peuple, dem Presseorgan der maoistischen Gauche prolétarienne(GP), dessen Herausgabe er 1970 auf Anfrage Pierre Victors nach der Inhaftierung der Herausgeber Le Dantec und Le Bris wegen Verbrechen gegen die Staatssicherheit nominell übernimmt, durch die journalistische Zusammenarbeit der Intellektuellen mit der breiten Masse realisiert.47 Sartre beschreibt seine veränderte Wahrnehmung und Vorstellung der gesellschaftlichen Funktion des Intellektuellen als einen seiner Zusammenarbeit mit den Maoisten entspringenden inhärenten Prozess: Les premiers temps, je ne faisais pas grand-chose au journal, mais si j’avais voulu y écrire, ils m’auraient ouvert les pages. On a travaillé davantage ensemble, et petit à petit, je me suis gauchi, en ce sens que le travail avec eux m’obligeait – sans qu’ils fassent la moindre pression sur moi – à me contester comme intellectuel. L’intellectuel en partie bourgeois, que le P.C. acceptait sans le changer comme compagnon de route-potiche, ne pouvait pas travailler avec les maos sans découvrir ses contradictions et sans vouloir en sortir. Il ne fallait pas que l’intellectuel se prît pour un conducteur du peuple, mais qu’il regagne au plus vite, la place qui l’attendait dans le peuple.48 Dennoch betrachtet er sein fortgeschrittenes Alter als Hindernis für die Vollendung des Transformationsprozesses des Intellektuellenmodells, wonach der Intellektuelle in der Masse aufgehen soll. Denn als „victime de la division du travail“, so die marxistische Auslegung der Maoisten, müsse der Intellektuelle zusätzlich eine handwerkliche Arbeit verrichten.49 Für Sartre koexistieren daher beide Modelle, das des klassischen Intellektuellen und das jenes neuen, „polyvalenten“ Intellektuellen in ihm: Ma contradiction profonde en tant que j’écris L’Idiot de la famille, c’est que celui qui écrit est un intellectuel classique qui se casse les os de la tête pour vous suivre et qui, déjà, sur certains plans, quand il va chez Renault caché dans un camion, ou qu’il fait irruption dans l’immeuble des Câbles de Lyon, se rapproche un peu de l’intellectuel polyvalent que vous imaginez […]. Les deux types d’intellectuel coexistent chez moi, et, d’une certaine façon, ils se contredisent et, en même temps s’appuient l’un sur l’autre.50 Während Sartre in Reaktion auf die zeitpolitischen Ereignisse seine Funktion in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit zu redefinieren versucht, hält Genet trotz seiner Distanzierung vom literarischen Feld an seiner Denomination als Poet fest. Dabei postuliert er jedoch niemals die Aktionsform eines Engagements, das durch die literarische Gattung der Poesie vermittelt würde. Genets Verständnis von Poesie umfasst vielmehr eine über die Gattungsspezifizität hinausgreifende Form der öffentlichen Kommunikation und Positionierung, die an die tradierte Vorstellung der gesellschaftlichen Ungebundenheit anknüpft und sich dadurch von Sartres Konzept der littérature engagéedistanziert. Wie sich auch in Genets Misstrauen gegenüber einer medialen Vereinnahmung seines Namens und damit seines im literarischen Bereich erworbenen gesellschaftlichen Prestiges widerspiegelt, macht Genet durch das Festhalten an seiner Rolle als Poet jenen von Winock als „transfert de notoriété“51 bezeichneten Überschreitungsprozess vom literarischen zum intellektuellen Feld unkenntlich. Trotz dieser offenkundigen Distanzierung vom intellektuellen Feld weist Genets Interventionsform in der Praxis Analogien zu Sartres Verständnis des Engagements auf, die im Anschluss analysiert werden sollen. 2.2.1.1 Genet und die Funktion des intellektuellen Mediators Genets Relation zum intellektuellen Engagement kommt besonders ausgeprägt in einem scheinbar unverfänglichen Artikel von 1974 über zeitgenössische maghrebinische Autoren zum Ausdruck.1 Darin legitimiert er seine eigene Intervention durch die mangelnde Präsenz der Intellektuellen und grenzt sich virulent von Sartre ab, den er in insgesamt vier Textpassagen offensiv kritisiert: Il faut donc que je parle, et je reparlerai de ces voix plus lucides que plaintives puisque nos intellectuels, ceux qu’on appelle encore bêtement nos maîtres à penser, se dérobent, ceux qu’on supposait les meilleurs se taisent, l’un des plus généreux, Jean-Paul Sartre, semble avoir fait faillite, se complaire dans sa faillite. Il n’ose pas prononcer un mot, un nom qui pourrait aider ces voix de Tahar Ben Jelloun et d’Ahmed. Il avait pourtant si admirablement commenté le livre de Fanon. Il semble refuser de dire les paroles non d’apaisement mais celles qui apporteraient une aide réelle. Il refuse de parler d’eux, comme s’il avait peur, ma parole, d’en avoir les mains sales! Mais Sartre n’est déjà plus le maître à penser de personne sauf d’une très pittoresque bande déjà débandée.2 Genets hier geäußerter Vorwurf, dass Sartre seiner Funktion als Intellektueller nicht nachkomme und sich in Hinblick auf die Probleme der Immigranten in Stillschweigen hülle, mündet in einer Entthronung des Intellektuellen schlechthin. Mit der impliziten Anspielung auf den Begriff der mauvaise foiund Sartres Theaterstück Les mains sales, „comme s’il avait peur […] d’en avoir les mains sales“3, in dem der Konflikt zwischen politischem Pragmatismus und revolutionärer Ideologie behandelt wird, unterstellt er Sartre mit ironischem Unterton ein inkonsequentes und in Sartres Verständnis inauthentisches Verhalten. Genet bewertet das fehlende Engagement der Intellektuellen als Zustimmung zur Situation der Unterdrückung, in welcher die Immigranten in Frankreich lebten, und betont die Ersetzbarkeit der Intellektuellen: Évidemment, les intellectuels aussi ont un rôle dans une situation semblable, mais en refusant de hurler avec les opprimés, ils hurlent avec les loups. Mais puisque aucun écho, aucune résonance ne vient d’eux pour porter les voix, les faire entendre à ceux qui ont presque la même vie, les mêmes misères, il faut bien qu’on s’adresse directement au public: Sartre ne compte plus. Qu’il ne parle pas, que d’autres esthètes du silence ne parlent pas: on se passera d’eux.4 Genet stellt in Aussicht, dass die gesellschaftliche Funktion Sartres bzw. des Intellektuellen substituiert werden müsse und eine direkte Kommunikation mit der Arbeiterschicht jenseits einer intellektuellen Transferinstanz stattfinden solle, wie durch die Aussage „il faut bien qu’on s’adresse directement au public“5 untermauert wird. Die durch den Doppelpunkt eingeleitete Satzfolge „Sartre ne compte plus“6 verzichtet bewusst auf einen konjunktional gesicherten, kausalen Sinnzusammenhang, demzufolge man sich direkt an die Öffentlichkeit wenden müsse, weil Sartre seine Bedeutung verloren habe. So kann man die Feststellung, dass Sartre nicht mehr zähle, auch als eigentliche Botschaft für die Öffentlichkeit bewerten, wodurch dessen Bedeutungsverlust gleichsam zur Hauptaussage des Textes avanciert. Genets Ansprache ist explizit an die Arbeiter adressiert, die das Schicksal der Immigranten teilen und hat eine appellierende Funktion. Tatsächlich fordert Genet dazu auf, den Stimmen der Immigranten eine Zuhörerschaft zu bieten: „Ces voix qui brûlent avec des phrases presque en lambeaux, si les intellectuels refusent de les entendre, je demande aux ouvriers de les écouter.“7 Die offene und vehemente Kritik an den Intellektuellen verschleiert dabei, dass Genet selbst in seiner Ansprache das intellektuelle Interventionsschema bedient. Dieser Eindruck wird durch seine Ankündigung, „on se passera d’eux [des intellectuels, S.I.]“8, verstärkt. Durch die Verwendung des unpersönlichen Personalpronomens ‚on‘ bleibt unklar, wo Genet sich selbst situiert. Der zusätzliche Gebrauch der futurischen Zeitform des reflexiven Verbs ‚se passer de‘ dient dazu, das, was man in diesem Diskurs als Genets persönliche politische Intervention klassifizieren könnte, hinter einer auf grammatikalischer Ebene unpersönlichen Zukunftsprojektion zu verschleiern. Seine eigene öffentliche Funktion bleibt dadurch unkenntlich. Albert Dichy bemerkt in seinem Kommentar zu diesem Text, dass die Polemik gegen Sartre nicht alleine aus den Divergenzen im israelisch-palästinensischen Konflikt resultieren könne, da sie zu vehement und frontal gegen den Philosophen gerichtet sei.9 Er betont, „que, par un curieux paradoxe, l’aventure politique de Genet dont on peut penser qu’elle ne serait pas tracée de la même façon sans le modèle sartrien, se sera fait contre lui.“10 Die hier geäußerte Vermutung eines paradoxen Zusammenspiels aus Modell und Gegenmodell, an dem Genet seine gesellschaftliche Positionierung ausrichte, erklärt die Unmöglichkeit der Zuschreibung eines festen Handlungsmodells und -konzepts. Genet postuliert die Substitution Sartres, ohne jedoch dessen gesellschaftliche Funktion als Sprachrohr unterdrückter Bevölkerungsgruppen tatsächlich ausfüllen zu wollen. Insbesondere sein Engagement für die Black Pantherszeigt jedoch, dass Genet durchaus jene Mediatorenfunktion ausübt, die für Sartre eine bedeutende Komponente des intellektuellen und literarischen Engagements konstituiert. Wie sich in seinem frühen Text über den Rassismus in den USA mit dem Titel „Lettre aux intellectuels américains“11 manifestiert, versucht er als Mediator zwischen jenen Gruppierungen, deren politische Ziele er unterstützt, und den Intellektuellen zu fungieren. Der Titel indiziert die Intellektuellen als Adressaten des Textes und richtet sich de factoan ein anonymes, lediglich als „les Blancs“ determiniertes „nous“, dem sich Genet in diesem Text selbst zuzurechnen scheint. Genet nimmt eine vermittelnde Rolle zwischen den ‚weißen‘ Intellektuellen und den Black Panthersein, indem er auf die nicht tolerierbare Situation der afroamerikanischen Bevölkerung in den USA sowie exemplarisch auf die Verhaftung des Vorsitzenden der Black PanthersBobby Seale aufmerksam macht. Stärker als in seinem späteren Text von 1974 steht 1970 das Moment der Solidarität mit den Intellektuellen im Zentrum, was sich in Hinblick auf die gemeinsamen Aktionen in diesem Zeitraum erklären lässt. So etwa mobilisierte Genet zu diesem Zeitpunkt auch andere Intellektuelle für die Bildung eines Aktionskomitees für George Jackson und organisierte ein Petitionsschreiben, für das er etwa Derrida, Barthes, Duras oder Sollers gewinnen wollte.12 Auch in seiner „May Day Speech“ 1970 appelliert er unter Anwendung eines Analogieschlusses mit der Dreyfus-Affäre in Frankreich an die amerikanischen Intellektuellen: Naturellement, ce parallèle avec l’affaire Dreyfus ne peut pas se poursuivre point par point. Et je dois reconnaître qu’en Amérique, jusqu’à présent, il n’y a aucun Clemenceau, aucun Jaurès, ni surtout, parmi les intellectuels, aucun Zola pour écrire ‚J’accuse‘. Un ‚J’accuse‘ qui porterait condamnation contre la magistrature de votre pays et contre la majorité des Blancs restés racistes.13 Seine Rede zum Ersten Mai rechtfertigt er durch seine Mittlerfunktion, welche die Kommunikation zwischen den Black Panthersund den amerikanischen Intellektuellen unterstützt: „L’entreprise du Black Panther Party ne cesse de s’étendre, le public est de plus en plus nombreux à les comprendre et les intellectuels blancs vont peut-être les soutenir: c’est pourquoi je suis parmi vous aujourd’hui.“14 Wie auch bereits der Text von 1974 demonstriert, positioniert sich Genet jedoch stets in einem nicht definierten Zwischenraum zwischen, in diesem Fall, der revolutionären Gruppierung der Black Panthersund jenem Publikum, um dessen Aufmerksamkeit er wirbt. Dennoch kennzeichnen jene um 1970 entstandenen Texte Genet als vermittelnde, öffentliche Instanz und sind ihrer Bestimmung nach vornehmlich als pragmatisch zu charakterisieren, da Genet hier meist auf die finanzielle Unterstützung und das Engagement der Adressaten für die Black Panthersabzielt – nämlich „populariser le mouvement et ramasser de l’argent“15, wie er selbst in einem Interview mit Michèle Manceaux unterstreicht. Es scheint kaum überraschend, dass Éric Marty, der die Verstrickung von Poesie und Politik in Genets Werk mit dem Vorwurf der Amoralität grundsätzlich kritisiert, die Unterstützung der Black Panthersals kohärentestes politisches Engagement bezeichnet, welches in Konkurrenz zu Jean-Paul Sartre stehe.16 Der Einsatz seines Namens, der Transfer seines literarischen Prestiges in den gesellschaftspolitischen Bereich und vor allem die handlungsorientierte und gesellschaftsrelevante Ausrichtung seiner Reden und Texte formen eine bedeutende Schnittmenge mit der intellektuellen Interventionsform. Genet selbst verlautbart in seiner „May Day Speech“, „dans mes interventions, aucune irréalité ne doit se glisser, car elle serait préjudiciable au Black Panther Party, et à Bobby Seale, qui est bel et bien dans une prison réelle, de pierre, de ciment et d’acier“17, und distanziert sich von einer auf dem Prinzip der Irrealität basierenden Aktionsform, die sich nachteilig für die Black Panthersauswirken könnte. Dieses Phänomen zeigt sich auch in der Modifikation des sprachlichen Codes, den er an die Handlungsziele seiner Reden für die Black Panthersanpasst, wie auch aus Jacques Derridas Anmerkung hervorgeht: I don’t mean to say he was without irony, but it wasn’t at all the same code. I remember seeing him address a meeting in Paris, during which he asked for money […] and then he expressed himself truly with a great passion and anger and even a certain hostility toward the people from whom he was demanding money – but then he wasn’t playing.18 Dieses paradoxe Verhältnis zwischen einer pragmatischen und fiktiven Verhandlung der realen Zustände in seinen Interventionen resultiert aus der bewussten Opazität der öffentlichen Positionierung und erschwert darüber hinaus auch die Klassifizierung der intervenierenden Texte, deren Affinität zur militanten Literatur Jerôme Neutres betont: „[L]es textes qui accompagnent cette période d’action n’échappent pas toujours aux écueils de la littérature militante.“19 Dennoch erscheint Neutres eine Klassifizierung jener „textes contemporains de son action, les dits et écrits qui cherchent à être performatifs, à provoquer une action“20 unproblematischer, als die des posthum erschienenen Werks Un captif amoureux, da erstere sich nicht als Literatur präsentierten.21 Zum einen muss jedoch angemerkt werden, dass auch die in L’Ennemi déclaréversammelten politisch-pragmatischen Texte, anders als Jérôme Neutres hier behauptet, kein homogenes Korpus darstellen, wie sich besonders prägnant am Beispiel seiner im Kontext der gegenkulturellen Proteste in Chicago entstandenen journalistischen Beiträge im dritten Kapitel zeigen wird. Denn während Genet in den Texten um 1970 im Rahmen des G.I.P. und des Kampfes für die Black Pantherseine zwischen Intellektuellen und Revolutionären vermittelnde Position ausfüllt und damit selbst zumindest aus strategischen Gründen das Interventionsschema einer zwischengeschalteten intellektuellen Transferinstanz übernimmt, bleibt er in anderen Texten, wie beispielsweise den hier genannten journalistischen Artikeln, auch auf stilistischer Ebene stärker seiner Rolle als Poet verpflichtet. Zum anderen verwundert es, dass sich Neutres dann insbesondere auf Un captif amoureuxbezieht, um Genets Interventionsform mit Sartres Engagement zu vergleichen. Zwar eröffnet Neutres’ Ansatz eine interessante Gegenstimme zu jenen zahlreichen Untersuchungen, denen zufolge sich Genets gesamtes Werk durch eine eigentümliche Verschränkung des Literarischen und des Politischen auszeichne und unabhängig vom Entstehungszeitpunkt nicht zwischen politischen und literarischen Werken unterschieden werden müsse.22 So nämlich untermauert Neutres zu Recht den Zusammenhang zwischen den politischen Interventionen und Un captif amoureux, dessen Genese sich nicht ohne diese beschreiben lasse, und betont dabei, dass sich Un captif amoureuxdurch seinen literarischen Status radikal von den politischen Interventionen unterscheide.23 Doch Genets politische Aktivitäten grenzt Neutres dann gerade in Bezug auf Un captif amoureuxvon Sartres Konzept des literarischen Engagements ab und er orientiert sich dabei an Goytisolos Vorstellung einer „littérature compromise“: Pour Goytisolo, comme pour Genet et avant eux, Marx et Trotski, la littérature engagée, l’écriture mise au service d’une cause politique concrète, d’une organisation ou d’un mouvement n’a jamais donné le jour à une œuvre de valeur. Les livres engagés se révèlent illisibles dès l’oubli ou la disparition des circonstances qui les ont motivés. L’écriture compromise se distingue de la littérature engagée par un investissement radical de l’écrivain dans uns réalité politique. N’est plus engagée seulement une facette de l’écrivain – son opinion politique sur telle ou telle cause – mais tout son être.24 Diese Form des literarischen Engagements geht über die Positionsergreifung in einem spezifischen politischen Kontext hinaus und manifestiert sich in einer absoluten politischen Verpflichtung des Schriftstellers, in der auch sein Werk aufgehe. Jene hier angedeutete Verflechtung von Politik und Ästhetik bei Genet konstatiert auch Moreno, ohne jedoch dabei zwischen Genets Früh- und Spätwerk zu unterscheiden: „Le politique n’est pas un aspect extérieur à l’œuvre, il est inséparable de sa recherche esthétique: il fait partie de sa littérarité.“25 Gerade jene Studien, in denen keinerlei Differenzierung zwischen dem Status des literarischen Frühwerks, den Interventionen und dem aus diesen hervorgegangenen letzten Werk vorgenommen wird, können Genets politisches Engagement nur unvollständig erschließen, da die Beleuchtung des Status der intervenierenden Texte nicht nur Aufschluss über Genets öffentliche Position liefert, sondern auch über die Klassifizierung von Un captif amoureux. Neben Neutres konstatiert auch Sylvain Dreyer in seiner Untersuchung zu engagierten Texten und Filmen aus den 1960er und 1970er Jahren den Einfluss Sartres als „contre-modèle“26 auf die in dieser Zeit aktiven Autoren und Regisseure, darunter Genet, bezieht sich jedoch in seinem Fall ausschließlich auf Un captif amoureux. Letzteren Text wählt er in seiner exzellenten Studie über die Entwicklung einer an Sartres Modell ausgerichteten Form des selbstkritischen literarischen und filmischen Engagements als Endpunkt der Ausdifferenzierung jener von ihm als „œuvres engagées critiques“27 bezeichneten Werke. Dreyer blendet dabei die Bedeutung aus, die der werkimmanenten Evolution von Genets politischen Texten hin zu Un captif amoureuxzukommt. So ist nämlich fraglich, inwieweit Genet diesen überhaupt noch als Intervention konzipiert und ob dieser nicht vielmehr sein politisches Detachement bestätigt, wie im vierten Kapitel näher beleuchtet wird. Genets ablehnender Rekurs auf Sartres Interventionsmodell prägt sich stärker in seinen pragmatischen Texten aus, wie sich nachfolgend beispielsweise auch anhand seiner Vorworte aufzeigen lässt. 2.2.1.2 Genet als Verfasser von Vorworten Die Textgattung des Vorwortes, derer sich Genet während seines politischen Aktivismus mehrfach bedient, konstituiert aufgrund ihrer liminalen Stellung einen Sonderstatus in Hinblick auf das Spannungsverhältnis zwischen Pragmatik und Literarizität. Genet orientiert seine Rolle als préfacieran Sartres Modell.1 In seinem Text über zeitgenössische maghrebinische Autoren mit dem Titel „Sur deux ou trois livres dont personne n’a jamais parlé“ (1974) zeichnet sich seine Wertschätzung für Sartres Vorwort zu Frantz Fanons Les damnés de la terre2 ab, wobei er jedoch bemängelt, dass jener nichts dergleichen für Tahar Ben Jelloun oder Ahmed in der Aktualität unternehme: „Il [Sartre, S.I.] n’ose pas prononcer un mot, un nom qui pourrait aider ces voix de Tahar Ben Jelloun et d’Ahmed. Il avait pourtant si admirablement commenté le livre de Frantz Fanon.“3 Sartres Vorwort muss in Hinblick auf Genets eigene Funktion als préfacierbewertet werden. So verfasste Genet das Vorwort zu den Gefängnisbriefen von George Jackson4, zur vierten Broschüre des Groupe d’information sur les prisonsüber George Jacksons Tod im Gefängnis von Saint Quentin5 und zu den Gefängnisbriefen der Roten Armee Fraktion6. Als literarische Kategorie repräsentiert das Vorwort auf textueller Ebene die vermittelnde Scharnierstellung, welche Genet zwischen den Black Panthersund den Intellektuellen bzw. der interessierten Öffentlichkeit einnimmt. Wie Jacques Derrida herausstellt, gehört es durch seinen Status der Vorrede bzw. des ‚avant-dire‘ „à la fois au dedans et au dehors du concept“7, welches im Werk selbst veranschaulicht wird. Diese Wechselbeziehung aus Werkinteriorität und -exteriorität kennzeichnet jene als „liminaire“ designierte Textsorte,8 wobei sich das der Textsorte inhärente Spannungsverhältnis zwischen Innen und Außen auch in Genets Mittlerfunktion widerspiegelt. Darüber hinaus repräsentiert der préfaciernach Genette nicht nur einen „‚parrain‘ littéraire ou idéologique“9, der unter Berufung auf seine Bekanntheit das Werk implizit empfiehlt, sondern er interveniert zudem auf gesellschaftspolitischer Ebene als porte-parolefür ein bestimmtes politisches Ziel.10 Die gesellschaftspolitische Referentialität und Kontextualisierung des Vorwortes begründet auch die umstandsbedingte Notwendigkeit, welche das Erscheinen dieses Paratextes charakterisiert: „Les préfaces […] se multiplient d’édition en édition et tiennent compte d’une historicité plus empirique; elles répondent à une nécessité de circonstance.“11 Die Verankerung des Vorwortes in der politischen Aktualität sowie die auf den Haupttext vorausschauende Perspektive fundieren die Zeitform einer manifesten Gegenwärtigkeit, einer „présence manifeste“12. In Sartres Vorwort zu Les damnés de la terrevon 1961 wird die liminale Stellung dieser Textsorte anhand der Problematik der Adressateninstanz thematisiert. Während sich nämlich Fanons Text an die algerische Bevölkerung richtet und zur Befreiung von der französischen Kolonialmacht aufruft, schreibt Sartre sein Vorwort explizit für die Europäer, wie die zahlreichen Appelle unterstreichen, so beispielsweise „nous, les Européens, nous pouvons l’entendre [Frantz Fanon, S.I.]: la preuve en est que vous tenez ce livre entre vos mains“13 oder „Européens, ouvrez ce livre, entrez-y“14. Sartre rechtfertigt seine adressatenorientierte Vorrede, indem er auf die – gerade für die okzidentale Gesellschaft bedeutsame – informative und auch bewusstseinsverändernde Charakteristik des Textes verweist: „Fanon révèle à ses camarades […] la solidarité des ‚métropolitains‘ et de leurs agents coloniaux. Ayez le courage de le lire: par cette première raison qu’il vous fera honte et que la honte, comme a dit Marx, est un sentiment révolutionnaire.“15 Sartre positioniert sich somit explizit als Vermittlerinstanz zwischen Fanons Text und dem okzidentalen Leser und beschreibt diese Mission mit Bezug auf die marxistische Dialektik als komplementären Bestandteil eines revolutionären Prozesses: Ce livre n’avait nul besoin d’une préface. D’autant moins qu’il ne s’adresse pas à nous. J’en ai fait une, cependant, pour mener jusqu’au bout la dialectique: nous aussi, gens de l’Europe, on nous décolonise: cela veut dire qu’on extirpe par une opération sanglante le colon qui est en chacun de nous.16 Während Fanon den Bewusstseinsprozess der algerischen Bevölkerung vorantreiben möchte, zielt Sartres Vorwort darauf ab, den Leserkreis um die europäischen Leser zu erweitern. Der Philosoph nimmt die Funktion eines Fürsprechers an, der darüber hinaus die theoretischen Grundgedanken des Werks erklärt und interpretiert, was sich vor allem durch seine Kommentierung des Gewaltkonzeptes in Fanons erstem Kapitel offenbart. Auch Genets erstes Vorwort zu George Jacksons Gefängnisbriefen wird durch jene Scharnierstellung determiniert, welche die Vorrede zwischen Haupttext und Leserkreis einnimmt. Wenn sich Sartre selbst jedoch jenem „nous“ zurechnet, mithilfe dessen er die potentiellen europäischen Leser adressiert, vermittelt Genet zwischen zwei Lagern, ohne jedoch sich selbst mit dem „vous“ zu identifizieren, das er auf diejenigen Leser anwendet, welche den Erfahrungshorizont Jacksons nicht teilen. Jene Haltung der offenen Distanzierung vom Leser knüpft an die narrative Struktur seiner frühen Romane an, in denen er gleichsam unter Rekurs auf die Personal- und Possessivpronomen „vous“ bzw. „votre“ eine Demarkation zur normierten Welt außerhalb von Kriminalität und Gefängnis markiert. Genet erhebt die im Gefängnis oder in der Reklusion entstandenen Texte, denen auch Jacksons Buch angehört, zu einer eigenen literarischen Kategorie, deren verbindendes Merkmal sich in einer Gleichgesinntheit zeige: Si une même complicité noue les œuvres écrites en prison ou dans les asiles (Sade et Artaud se rejoignent dans la même nécessité de trouver en eux-mêmes ce qui, pense-t-on, doit les conduire à la gloire, c’est-à-dire, malgré les murs, les fossés, les geôliers et la magistrature, dans la lumière, dans des consciences non asservies), ces œuvres ne se rencontrent pas dans ce qu’on nomme encore la déchéance: se cherchant elles-mêmes à partir de cette déchéance exigée par la répression sociale, elles se découvrent des points communs dans l’audace de leur entreprise, dans la vigueur et la justesse de leurs idées et de leurs visions.17 Wie in diesem Zitat deutlich wird, präsentiert sich Genets Vorwort als Literaturkritik, und er selbst figuriert als „‚parrain‘ littéraire ou idéologique“18 im Sinne Genettes, eine Rolle, zu der ihn seine eigene Gefängniserfahrung prädestiniert. Das Identifikationsmoment liegt für Genet folglich hier weniger im Programm der Black Panthersoder in der Problematik des Rassismus als in der literarischen Aufarbeitung jenes Momentes der Reklusion, welche an eine ganze literarische Tradition anknüpft, die auch durch sein eigenes Frühwerk repräsentiert wird. Es scheint daher kaum verwunderlich, dass auch seine beiden anderen Vorworte in den Kontext des Gefängnisses zu rücken sind. Damit unterscheidet sich Genets Initiative als préfaciermaßgeblich von jener Sartres, wie sie in seinem Vorwort zu Les damnés de la terremanifest wird. Sartre rechtfertigt seine mithilfe des Vorwortes operierende Vermittlung, indem er auf einen ethisch intendierten Bewusstwerdungsprozess der europäischen Bevölkerung abzielt, wohingegen Genet sein Vorwort auf Basis seiner Affinität zur Thematik des Gefängnisses als Literaturkritik verfasst. Dadurch nimmt Genet eine ambigue Position ein, insofern in seinem Vorwort Jacksons politische Forderungen und dessen poetisches Konzept gleichgewichtet behandelt werden, denn, wie Genet betont, „Jackson est poète, mais il encourt la peine de mort.“19 Über die Darstellung der gesellschaftspolitischen Situation der Afroamerikaner in den USA hinaus erläutert Genet den für ein im Gefängnis entstandenes literarisches Werk eigentümlichen Stil und hält für jene „lecteurs non réprouvés, qui jamais n’ont été et n’iront en prison“20 einen Lektüreschlüssel bereit. Par excellencewird in diesem Text die Verquickung von Poesie und Politik inszeniert, durch welche auch Genet sein eigenes politisches Engagement legitimiert.21 So beschreibt er den „génie poétique“ als Quelle jeder revolutionären Unternehmung: Si l’on accepte cette idée, que l’entreprise révolutionnaire d’un homme ou d’un peuple a sa source en leur génie poétique, ou, plus justement, que cette entreprise est la conclusion inévitable du génie poétique, il ne faut rien rejeter de ce qui permit l’exaltation poétique.22 Die unwissende Leserschaft warnt Genet vor, dass ihr der Inhalt von Jacksons Werk unmoralisch erscheinen könne, und er begründet dies mit den Worten, „c’est parce que l’œuvre tout entière refuse votre morale“23. Im Unterschied zu Sartre identifiziert sich Genet in seiner Vermittlerrolle nicht mit den Adressaten, sondern mit dem Autor, dessen Werk er nicht mit dem erklärenden Anspruch einer moralischen Instanz, sondern aufgrund seiner persönlichen Erfahrung kommentiert. Die Situation dieser Mediation zwischen Autor und Leserschaft durch die Gitterstäbe der Gefängniszelle hindurch, denn „c’est donc derrière une grille, seule acceptée par eux, que ses lecteurs […] devineront l’infamie“24, soll im Nachfolgenden vor dem Hintergrund des von Foucault gegründeten Groupe d’information sur les prisonsund dem darin operationalisierten Konzept des Gegen-Diskurses näher beleuchtet werden. Zusammenfassend muss Genets offene Konkurrenz zu Sartre betont werden, auf dessen Interventionsmodell er stets negierend rekurriert. Als Mediator agiert er zwar strategisch für die politischen Zielsetzungen der Black Panthers, verortet sich selbst dabei jedoch nie eindeutig in deren oder etwa im intellektuellen Lager. Im textuellen Zwischenraum des Vorwortes für George Jackson positioniert er sich insbesondere durch die gemeinsame Gefängniserfahrung auf der Seite des Autors. 2.2.2 Genet und Foucault: Kooperation im ‹Groupe d’information sur les prisons› Genet und Foucault verbindet eine ähnlich konfliktreiche Beziehung, wie Didier Eribon in seiner Biographie über Michel Foucault berichtet.1 Die Kontaktaufnahme zwischen Genet und Foucault in Hinblick auf die gemeinsame Publikation einer Broschüre des Groupe d’information sur les prisons(G.I.P.) zur Ermordung George Jacksons im Gefängnis von San Quentin im Sommer 1971 erfolgt durch die Vermittlung von Catherine von Bülow, die zu diesem Zeitpunkt bei Gallimard angestellt ist. Neben dieser kurzzeitigen Kooperation im Rahmen des G.I.P. sind beide – neben unter anderem Sartre – Mitbegründer des Komitees Djellali, an dessen antirassistischen Aktionen von Bülow erinnert.2 Eribon betont die Anerkennung, welche Foucault Genets Werk und seiner Persönlichkeit zollt.3 Zeugnis seines frühen Interesses an dessen Werk ist beispielsweise die Lehrveranstaltung an der Universität Uppsala zur Thematik der Liebe in der französischen Literatur von Sade bis Genet,4 deren Unterlagen jedoch dort nicht mehr auffindbar sind.5 Auch in den Jahren der Zusammenarbeit bringt Foucault seine frühe Wertschätzung für Genet zum Ausdruck: „Je suis comme tout le monde. J’ai lu Jean Genet quand j’étais jeune, et j’ai été, comme beaucoup de gens, extraordinairement bouleversé. Le Journal du voleurest à coup sûr l’un des très grands textes.“6 Foucault bewundert nicht nur Genets schriftstellerische Leistung, sondern betont auch seine Qualitäten als Mensch und als Revolutionär: Il s’est trouvé que j’ai connu Genet, personnellement, dans des conditions tout à fait autres, et hors du contexte, justement, écrivain, écriture. C’était à propos des Black Panthers, à propos des trucs politiques, et on s’est pas mal liés. On se voit très souvent, enfin, quand il est à Paris, on se voit tous les deux ou trois jours. On bavarde, on se promène. C’est un homme dont je ne peux pas dire qu’il m’impressionne. Si je l’avais connu à l’intérieur de l’institution littéraire, il m’aurait sans doute profondément intimidé. Mais la simplicité avec laquelle il s’est mis à travailler sur des choses politiques et, en même temps, son sens politique très profond – cet homme est profondément révolutionnaire, dans tous les instants de sa vie, dans le moindre de ses choix – sont évidemment impressionnants et donnent à ses réactions une justesse profonde, quand bien même elles ne sont pas formulées directement.7 Die von Foucault hier geschilderte Verbundenheit bleibt jedoch ein kurzes Intermezzo, wie Eribon herausstellt: Les liens entre Genet et Foucault se distendront bien vite et ils ne se verront plus après ces quelques épisodes militants: Genet, en fait, ne se privait pas, selon plusieurs témoignages, de tenir des propos assez sarcastiques sur Foucault, à cette époque où il leur arrivait de se côtoyer, et, de son côté, Foucault ne conservera pas l’admiration qu’il avait éprouvée dans sa jeunesse pour l’auteur du Journal du voleur.8 Diese offenbare plötzliche Missstimmung zwischen Genet und Foucault ließe sich ähnlich wie in der Beziehung zwischen Genet und Sartre auf die Divergenzen im palästinensisch-israelischen Konflikt zurückführen, muss jedoch auch relativiert werden. So berichtet Tahar Ben Jelloun, zu dem Genet nach Erscheinen von dessen erstem Roman Harrouda1973 Kontakt aufnimmt, dass Genets paradoxes Verhältnis gegenüber Foucault vielmehr aus einem Spannungsverhältnis zwischen Anerkennung und Argwohn resultiere: „Quand je parlais de Barthes à Genet, il m’écoutait mais ne disait rien. Quand j’évoquais Michel Foucault, c’était différent, il le connaissait, l’estimait et le redoutait à la fois. […] Genet n’était pas à l’aise avec Foucault.“9 Im Unterschied zu Genet ist ähnlich wie bei Sartre auch bei Foucault eine grundsätzliche Revision der intellektuellen Funktionszuschreibung zu beobachten. Was sich bei Sartre als Versuch einer Überwindung des intellektuellen Separatismus ausdrückt, konkretisiert sich bei Foucault als bewusste Zurücknahme der intellektuellen Vormundstellung. Mit dem maßgeblich auf Foucaults Initiative gegründeten Groupe d’information sur les prisons(G.I.P.) und seiner innovativen Form des politischen Engagements gelingt Foucault, wie Gilcher-Holtey zu Recht konstatiert, durch seine Redefinition des Mandates des Intellektuellen eine Abgrenzung im intellektuellen Feld.10 Die Gründung des Groupe d’information sur les prisons, die auch von Jean Genet unterstützt wurde, geht aus einer Verbindung „entre le mouvement issu de Mai et l’univers clos des prisons“ hervor, die eine „épisode charnière dans l’histoire de l’après-Mai“ konstituiert, nämlich „l’instant où s’esquisse une transformation de l’intelligence politique“.11 Die problematische Situation in den Gefängnissen gelangt erst durch die Inhaftierung politischer Aktivisten und Demonstranten in den Fokus des Interesses jener sich transformierenden Intelligenz. Foucaults Konzept des ‚spezifischen Intellektuellen‘, welches sich in der Aktionsform des G.I.P. herauskristallisiert, muss als Reaktion auf das in der Nachkriegszeit insbesondere von Sartre verkörperte und bis dato vorherrschende Modell des universellen Intellektuellen gedeutet werden. Foucault versteht sich nicht mehr als Vermittler von universellen Werten oder von Bewusstsein, sondern beruft sich auf die Experten-Funktion innerhalb eingrenzbarer, umstandsbedingter Kämpfe, wodurch eine tiefgreifende Veränderung für das intellektuelle Selbstverständnis markiert wird. Foucault löst Sartre als intellektuellen Bezugspunkt ab.12 In einem Beitrag zur politischen Funktion des Intellektuellen aus dem Jahre 1976 präzisiert Foucault diesen Wendepunkt für den Linksintellektualismus: Un nouveau mode de ‚liaison entre la théorie et la pratique‘ s’est établi. Les intellectuels ont pris l’habitude de travailler non pas dans ‚l’universel‘, ‚l’exemplaire‘, le ‚juste-et-le-vrai pour tous‘, mais dans des secteurs déterminés, en des points précis où les situaient soit leurs conditions professionnelles de travail, soit leurs conditions de vie (le logement, l’hôpital, l’asile, le laboratoire, l’université, les rapports familiaux ou sexuels). Ils y ont gagné à coup sûr une conscience beaucoup plus concrète et immédiate des luttes. Et ils ont rencontré là des problèmes qui étaient spécifiques, ‚non universels‘, différents souvent de ceux du prolétariat et des masses.13 Die Gegenüberstellung der beiden Formen intellektuellen Engagements leitet Foucault zudem historisch her. Im Ursprung sei der ‚universelle Intellektuelle‘ mit dem „homme de justice, […] homme de loi“ verwandt, „celui qui, au pouvoir, au despotisme, aux abus, à l’arrogance de la richesse oppose l’universalité de la justice et l’équité d’une loi idéale.“14 Die Funktion des politisch aktiven Intellektuellen nach Foucault charakterisiert sich durch ihre Verflechtung mit einem redefinierten Machtbegriff, wonach Macht in einer netzartigen Struktur das gesamte Gesellschaftssystem zusammenhält. Während der traditionelle Intellektuelle sich für Foucault mittels zweier Kriterien in der Öffentlichkeit behauptet, nämlich „sa position d’intellectuel dans la société bourgeoise, dans le système de la production capitaliste“15 sowie „son propre discours en tant qu’il révélait une certaine vérité, qu’il découvrait des rapports politiques là où l’on n’en percevait pas“16, positioniert sich der Intellektuelle in Reaktion auf Mai ’68 neu: Or ce que les intellectuels ont découvert depuis la poussée récente, c’est que les masses n’ont pas besoin d’eux pour savoir. Pouvoir qui n’est pas seulement dans les instances supérieures de la censure, mais qui s’enfonce très profondément, très subtilement dans tout le réseau de la société. Eux-mêmes, intellectuels, font partie de ce système de pouvoir, l’idée qu’ils sont les agents de la ‚conscience‘, et du discours fait elle-même partie de ce système. Le rôle de l’intellectuel n’est plus de se placer ‚un peu en avant ou un peu à côté‘ pour dire la vérité muette de tous; c’est plutôt de lutter contre les formes de pouvoir là où il en est à la fois l’objet et l’instrument: dans l’ordre du ‚savoir‘, de la ‚vérité‘, de la ‚conscience‘, du ‚discours‘.17 Das Modell des ‚spezifischen Intellektuellen‘ grenzt sich insofern vom Modell des ‚universellen Intellektuellen‘ ab, als er nicht mehr das Wort für diejenigen ergreift, die dessen nicht mächtig sind, sondern deren Diskursproduktion vielmehr stimuliert. In Foucaults Verständnis obliegt dem Intellektuellen ein Eingreifen in lokale gesellschaftliche Machtkämpfe, und sein politisches Engagement konzentriert sich in erster Linie auf den als Machtzentrum gekennzeichneten Untersuchungsgegenstand des Gefängnisses, womit er an seinen bereits in den Publikationen zum Wahnsinn angelegten Forschungsschwerpunkt der Ausschlussprinzipien normativer Gesellschaftsordnungen anknüpft. In der Handlungsstrategie des G.I.P. werden die daraus resultierenden neuen Zielsetzungen des Intellektuellen konturiert und ein neuer Typ des Engagements geschaffen. Im Nachfolgenden soll aufgezeigt werden, inwieweit Genet sich durch seine Kooperation mit dem G.I.P. dieser intellektuellen Aktionsform nähert. 2.2.2.1 ‚Philosophe-journaliste‘ und ‚poète-journaliste‘? Wie die erste Broschüre des G.I.P. belegt, intendiert der G.I.P. im Modus einer Diagnostik des nicht Tolerierbaren innerhalb ausgewählter Machtinstanzen verfahrend – „[s]ont intolérables: les tribunaux, les flics, les hôpitaux, les asiles, l’école, le service militaire, la presse, la télé, l’État“1 – die Befreiung des Wortes jener sozial und gesellschaftlich ausgeschlossenen Individuen wie beispielsweise der Gefangenen: Le GIP (Groupe Information Prison) ne se propose pas de parler pour les détenus des différentes prisons: il se propose au contraire de leur donner la possibilité de parler eux-mêmes, et de dire ce qui se passe dans les prisons. Le but du GIP n’est pas réformiste, nous ne rêvons pas d’une prison idéale: nous souhaitons que les prisonniers puissent dire ce qui est intolérable dans le système de la répression pénale. Nous devons répandre le plus vite possible et le plus largement possible ces révélations faites par les prisonniers mêmes. Seul moyen pour unifier dans une même lutte l’intérieur et l’extérieur de la prison, le combat politique et le combat judiciaire.2 Es lassen sich hier zwei repräsentative Kriterien benennen, anhand welcher sich der Richtungswechsel des Intellektuellen bei Foucault abzeichnet: die Erteilung des Wortes an jene, die davon bislang ausgeschlossen waren, sowie die Informationsproduktion und -vermittlung ausgehend von empirischen Untersuchungen statt auf Basis eines vorgefertigten theoretischen Gerüsts. Durch das Produzieren eines neuen Wissensdiskurses, ausgehend von den Gefangenen selbst, dezentriert der G.I.P. die Funktion seiner Organisatoren, deren Handlungsspielraum dennoch nicht unterschätzt werden darf. Betrachtet man nämlich Aufbau und Struktur jener Fragebögen, die im Rahmen der ersten Untersuchung in den Gefängnissen konzipiert wurden,3 drängt sich der Begriff der Wissenssteuerung auf. Dahinter steht die Taktik, die Informationsverbreitung in eine Kampfstrategie zu transformieren und dadurch eine Gegenstimme zum institutionalisierten Diskurs des Justizapparates und der Medien zu schaffen. Vor diesem Hintergrund zielt Foucault auf den Zugriff auf das Informationssystem ab4 und versteht seine Rolle als Intellektueller mithin als die eines „philosophe-journaliste“5. Wie das Forschungsteam um Philippe Artières eindrücklich schildert, manifestiert sich der G.I.P. durch sein Interesse an der Produktion und Verwaltung eines innovativen politischen Wissens als eine eigene Presseagentur: „Cette attention, qui prend d’abord la forme du questionnaire, fait très vite du GIP une sorte d’agence de presse relative aux conditions d’emprisonnement et à la vie quotidienne en détention.“6 Zeugnis davon legt auch beispielsweise der programmatische Titel eines Artikels von Daniel Defert ab, „Quand l’information est une lutte“7, worin der Autor nicht nur den Mechanismus der Befragungen durch den G.I.P. erläutert, sondern auch jene allgemeine Pressestimme kritisiert, die eine einseitig institutionell ausgerichtete Berichterstattung liefert. Unter diesem Gesichtspunkt lässt sich die Arbeit des G.I.P. in den Kanon des historisch fundierbaren Projektes einbinden, nämlich „de construire un système de contre-information“8, das Pascal Ory und Jean-François Sirinelli als emblematisch für die Intellektuellen der Zeit zwischen 1968 und 1975 herausstellen. Die Gewichtung der Informationsverbreitung spiegelt sich auch im Sigel des G.I.P. wider. Wie Daniel Defert sich erinnert, evozierte es für Foucault die maoistische Gauche prolétarienne(GP) und damit den Ursprung der Gruppierung,9 jedoch „avec ce iota de différence que se devaient d’introduire les intellectuels.“10 Jean Genets Partizipation im G.I.P. wurde in der bisherigen Forschung weitestgehend ausgeblendet,11 was dadurch begründet werden kann, dass Genets Interesse im Aktionszeitraum von 1970 bis 1972 vornehmlich den Black Panthersin den USA gilt. Interferenzen zwischen seinem Engagement im G.I.P. und seiner Unterstützung der Black Panther Partyin den USA resultieren aus den gemeinsamen historischen Rahmenbedingungen. Die in den frühen 1970er Jahren erstarkende staatliche Repression widerständiger Protestgruppen und -bewegungen mittels juristischer Direktiven determiniert nämlich einen politischen Wirkungskreis, in dem sich zeitpolitische mit juristischen Diskursen überlagern. Ebendieses Phänomen ist auch in Genets politischen Schriften zu beobachten, wobei jene für den G.I.P. verfassten Texte und weitere darüber hinaus entstandene mit analoger diskursiver Thematik voneinander zu differenzieren sind. Genet nimmt in gewisser Weise eine Mittlerrolle zwischen den Aktionen des G.I.P. und dem Kampf der Black Panthersin den USA ein, wovon die beiden im Kontext des G.I.P. entstandenen Texte zeugen, nämlich jener zur Revolte der Inhaftierten im US-amerikanischen Gefängnis von Attica12 sowie das bereits erwähnte Vorwort13 zur dritten der insgesamt vier vom G.I.P. herausgegebenen Broschüren mit dem Titel L’Assassinat de George Jacksonvom 10. November 1971. Es ist kein Zufall, dass allein sein Text zu der für die Gründung des G.I.P. grundlegenden Fragestellung einer Trennung von politischen und gewöhnlichen Strafgefangenen unveröffentlicht bleibt.14 Wie Edmund White berichtet, lehnte Genet die Publikation mit der Begründung ab: I don’t want to publish anything about France. I don’t want to be an intellectual. If I publish something about France I’ll strike a pose as an intellectual. I am a poet. For me to defend the Panthers and the Palestinians fits in with my function as a poet. If I write about the French question I enter the political field in France – I don’t want that.15 Genet verdeutlicht hier, dass sein Engagement für die Black Panthersund die Palästinenser seiner Funktion als Poet entspricht, wohingegen jegliche Publikation über Frankreich dem Funktionsbereich des Intellektuellen zufällt. Obwohl er damit eine Positionierung als Intellektueller eindeutig zurückweist, lassen sich Affinitäten zu Foucaults Aktionsform feststellen, die ihm nicht nur eine Plattform bietet, um auf den latenten und manifesten Rassismus der amerikanischen Gesellschaft und die Probleme der Black Panthersaufmerksam zu machen, sondern ihn in ein spezifisches Konzept des Engagements und des Informationsflusses integriert. Auch wenn Neutres grundsätzlich zu Recht konstatiert, dass Genet „[à] la différence du projet intellectuel de Foucault, […] ne s’est jamais envisagé, dans sa littérature comme un philosophe-journaliste“16, wirft seine Feststellung insofern Widersprüche auf, als er zwischen literarischen und politischen Texten differenziert. Seine Aussage, dass Genet in seinen literarischenTexten nicht den Anspruch eines radikalen Journalismus vertritt, erscheint somit hinfällig. In Analogie zu Foucaults Autodenomination als „philosophe-journaliste“17 könnte Genet als ‚poète-journaliste‘ bezeichnet werden, dessen journalistisches Konzept jedoch nicht aus einem philosophisch-theoretischen Postulat der Wissensproduktion heraus entsteht, sondern aus einer poetischen Vision. Die Hinwendung zur Aktualität sowie die Kritik an den Institutionen verbindet beide, doch setzen sie dabei unterschiedliche Akzente, wie die nachfolgende Gegenüberstellung zeigen soll. Wie bereits herausgestellt, kennzeichnen sich Jean Genets pragmatische Texte aus der Zeit um 1970 durch ihre Sachbezogenheit. Seine Reden und Texte für die Black Panthersdienen der Mobilisierung und regen zu zukunftsorientierten Handlungen („actes pleins“, „actes réels“) an, welche von symbolischen und idealistischen Gesten („gestes creux“, „gestes symboliques“) abgegrenzt werden.18 Das Konzept der realen Handlung selbst weist im Gegensatz zur Symbolik eine futurische Zeitform auf: „Les symboles renvoient à une action qui a eu lieu, non à une action qui sera.“19 Diese futurische Ausrichtung nimmt im Fall der revolutionären Handlung den Charakter eines Neubeginns der Welt an: „Aussi tous les actes révolutionnaires ont une fraîcheur du commencement du monde.“20 Insbesondere die frühen Reden Genets für die Black Panthers, so die Rede zum Ersten Mai, der Brief an die amerikanischen Intellektuellen oder die Ansprache im Massachusetts Institute of Technology, betonen die Verankerung im Hier und Jetzt. Die darin praktizierte, repetitive Verwendung der Adverbialpronomen der zeitlichen und örtlichen Bestimmung „ici“, „maintenant“ und „aujourd’hui“ indiziert die Vordringlichkeit der Problematik und des Handelns. Auch für Foucault ist gerade die Prävalenz der Aktualität ein maßgebliches Kriterium zur Definition seines Konzeptes des radikalen Journalismus: „Je me considère comme un journaliste dans la mesure où ce qui m’intéresse, c’est l’actualité, ce qui se passe autour de nous, ce que nous sommes, ce qui arrive dans le monde.“21 Die mit Nietzsche einsetzende Hinwendung der Philosophie zur gesellschaftspolitischen Aktualität basiere auf der Vorstellung einer offenen Zukunft, wie Foucault erläutert: „Le futur est la manière dont nous réagissons à ce qui se passe, c’est la manière dont nous transformons en vérité un mouvement, un doute. Si nous voulons être maîtres de notre futur, nous devons poser fondamentalement la question de l’aujourd’hui.“22 Diese transzendentalphilosophisch anklingende Vorstellung der Transformierbarkeit von Zukunft muss jedoch vor dem Hintergrund des im Gründungsmanifest des G.I.P. geäußerten Projektes der Aufklärung und unmittelbaren Information über kritikwürdige, reale Zustände verstanden werden, worin die Quintessenz seines Konzeptes des radikalen Journalismus liegt: „Nous voulons seulement faire connaître la réalité. Et la faire connaître immédiatement, presque au jour le jour; car le temps presse. Il s’agit d’alerter l’opinion et de la tenir en alerte. Nous essaierons d’utiliser tous les moyens d’information […].“23 Foucaults radikaler Journalismus zielt auf die Produktion einer gesellschaftskritischen Gegeninformation ab, die in der unmittelbaren Gegenwart verankert ist. Die Radikalität beruht auf einem Bestreben, die nicht tolerierbaren Zustände an der Wurzel anzugreifen und die Probleme somit nachhaltig zu lösen. So postulieren Foucault und Genet die Vordringlichkeit des Handelns, um eine Sensibilisierung für die Problematik und eine gesellschaftliche Veränderung zu bewirken. Foucaults Verständnis von Politik manifestiert sich jedoch nicht in der Idee einer Revolution, sondern im Prinzip der Eruption einer unbekannten Kraft, wie es Artières/Potte-Bonneville als symptomatisch für Foucaults Rolle als Intellektueller beschreiben: „[…] Foucault se défait de l’idée de révolution au profit de la notion d’émergence ou d’éruption de forces.“24 Anzumerken ist auch, dass Foucault seine Vision einer eruptiven, aufspringenden Kraft besonders eindrücklich in Hinblick auf George Jacksons Erfahrung im Gefängnis schildert. Das Gefängnis, von dem Jackson Zeugnis ablegt, wird als „un lieu où naissent et se manifestent des forces, un lieu où se forme de l’histoire, et d’où le temps surgit“25 beschrieben. Er bewertet den Raum der gesellschaftlichen Exklusion als Motor der Geschichte, ohne dabei jedoch auf das Prinzip der Revolution bzw. der gesamtgesellschaftlichen Umwälzung zu rekurrieren. Hinter dem abstrakten Begriff der eruptiven Kraft verbirgt sich Foucaults Konzept des Gegen-Diskurses, welcher sich aus den Gefängnissen heraus gegen den Diskurs der Macht konstituiert und in der Folge näher beleuchtet wird. Der Begriff der Macht ist in dieser Epoche für Foucault institutionell besetzt. Anders als Foucault sympathisiert Genet in seinen Texten und Reden um 1970 mit der Idee einer Revolution, insofern sie jedoch auf dem Prinzip einer poetischen Vision und Negation der Gesellschaft beruht: Si je suis sincère, je dois dire que ce qui m’a touché d’abord, ce n’est pas leur souci [des Panthères Noires, S.I.] de recréer le monde. Bien sûr, ça viendra et je n’y suis pas insensible, mais ce qui m’a fait me sentir proche d’eux immédiatement, c’est la haine qu’ils portent au monde blanc, c’est leur souci de détruire une société, de la casser.26 Während Foucault die Produktion einer insbesondere vom Gefängnis ausgehenden eruptiven Kraft ansteuert, um die gesellschaftliche Ordnung aufzubrechen, identifiziert sich Genet mit einer destruktiven, gegen die Gesellschaft gerichteten Energie. Diese Negation nimmt vor allem im Appendix seiner „May Day Speech“, welcher der Publikation des Artikels im City LightsVerlag beigefügt wurde, eine auf jene die Gesellschaft regulierenden Institutionen projizierte Form der Gesellschaftskritik an und richtet sich im Konkreten gegen die Presse, die Kirche, die Wohltätigkeitsverbände, die Gewerkschaften, die Universitäten, die Werbeunternehmen und die Polizei. In Genets Auflistung dieser Machtzentren im Foucault’schen Sinne steht jedoch der bewertende Begriff der institutionell fundierten Missachtung im Vordergrund, welche die bereits im Zerfall befindliche amerikanische Gesellschaft determiniere: Ce que l’on nomme la civilisation américaine disparaîtra. Elle est déjà morte car elle est fondée sur le mépris. Par exemple, le mépris des riches pour les pauvres, le mépris des Blancs pour les Noirs, etc. Toute civilisation fondée sur le mépris doit nécessairement disparaître.27 Die hier nach Heyndels als für Genets Vision von Amerika symptomatisch beschriebene, bipolare und dichotome Struktur28 äußert sich nicht in einer moralischen Missachtung, sondern funktional und institutionell, so Genet: „Et je ne parle pas du mépris en termes de morale, mais en termes de fonction: je veux dire que le mépris, comme institution, contient son propre dissolvant, et le dissolvant de ce qu’il engendre.“29 Die einzelnen Institutionen werden als von den Weißen monopolisierte Repressionsinstanzen dargestellt, die eine klare gesellschaftliche Trennung instaurieren und Ausdruck eines auf der Missachtung basierenden und daher zu zerschlagenden Systems sind. Die Kritik an den Institutionen des Gerichts oder des Gefängnisses, welche in Genets Anhang nicht aufgeführt werden, manifestiert sich dann im Kontext des Prozesses gegen George Jackson besonders virulent und bringt ihn schließlich auch dem G.I.P. näher. In diesem Zusammenhang verfasst Genet das Vorwort der dritten Broschüre des G.I.P., die der Ermordung George Jacksons gewidmet ist.30 Dem G.I.P. ging es in dieser Broschüre nicht um die detektivische Aufklärung des Verbrechens, welches als „assassinat politique“31 beschrieben wird, sondern um die Beantwortung zweier Fragen, nämlich nach der Persönlichkeit George Jacksons und den Gründen für dessen Ermordung einerseits sowie nach dem Verdecken des Mordes andererseits: 1 Quel était donc ce vivant qu’on a voulu tuer? Quelle menace portait-il, lui qui ne portait que des chaînes? 2 Et pourquoi a-t-on voulu tuer cette mort, l’étouffer sous les mensonges? Que pouvait-on encore redouter d’elle?32 Anders als in den ersten beiden Broschüren zur „Enquête dans 20 prisons“ und zur „Enquête dans une prison modèle: Fleury-Mérogis“ liegt der Interessenschwerpunkt hier weniger auf dem Gefängnis als sozialem Mikrokosmos, denn auf der tatsächlichen politischen Bedeutung und Funktion des Gefängnisses als mögliches soziales Repressionsmittel und der mithin revolutionären Bedeutung der Aufstände und Revolten in den Gefängnissen, wie auch die Auswahl der Artikel zeigt: Pour répondre à la première question, nous avons choisi de présenter quelques-unes des interviews les plus récentes dans lesquelles Jackson analyse la fonction révolutionnaire du mouvement dans les prisons. Pour répondre à la seconde, nous avons fait l’analyse d’un certain nombre d’informations et de documents publiés aussitôt après la mort de Jackson.33 Genets Vorwort ist in Antwort auf die erste Fragestellung der Broschüre als exemplarisches Porträt zu verstehen, das sich entsprechend einzelnen Etappen strukturiert, die Jacksons Vita und darüber hinaus die Situation der Unterdrückung der Schwarzen in den USA allgemein charakterisieren: „Un Noir de dix-huit ans emprisonné pendant onze ans pour complicité de vol“, „Auteur d’un livre révolutionnaire“, „Frère de son frère Jonathan“ und „Le martyr décidé et assassiné par les Blancs“.34 Genet verhandelt in seinem Vorwort beide programmatischen Fragen, die der G.I.P. dieser Broschüre voranstellt, indem er nämlich ausgehend von Jacksons Persönlichkeit Mutmaßungen über die Beweggründe für dessen Tötung und ihrer Verschleierung anstellt. Bemerkenswert an diesem Text ist aber vor allem die Priorität, welche den Zitaten aus George Jacksons Gefängnisbriefen selbst zukommt. Unter der Rubrik „Auteur d’un livre révolutionnaire“ führt Genet über zwei Seiten ausgewählte Zitate an, die den halben Artikel ausmachen und an Foucaults Konzept der Produktion eines Gegen-Diskurses durch die Betroffenen selbst anknüpft. Vorwort und Broschüre stehen emblematisch für den Austausch zwischen Genet und Foucault. Zuvor hatte Genet bereits einen ursprünglich in den USA veröffentlichten Artikel mit dem Titel „Attica-U.S.A.“35 über die Revolten im US-amerikanischen Gefängnis von Attica verfasst, der im September 1971 auszugsweise in La cause du peuplepubliziert wurde. Unter der Rubrik „Jackson, Attica, USA“ wird in La cause du peupledessen auf einer Anfrage der New York Timesberuhende Genese beschrieben: „Extraits d’une lettre ouverte au New York Times, journal qui avait demandé à Jean Genet quelles réformes il proposait pour les prisons américaines. C’est aux journaux des Panthères Noires et à la Cause du peupleque J. Genet envoie sa réponse.“36 Diesen Entstehungskontext evoziert Genet gleichsam in einer Fußnote, jedoch lediglich, um seine Ablehnung gegenüber der Institution des Gefängnisses zu untermauern: „La solution du problème noir, celle de l’entassement criminel des noirs dans les prisons, ne seront pas apportées par moi, comme me le demande le directeur du New-York-Times.“37 Genet hinterfragt folglich nicht die Möglichkeit einer Reform des Gefängnisses, wie die New York Timeses wünscht, sondern beschreibt zum einen das amerikanische Justizsystem als ausführendes Organ eines genozidären Massakers an den Afroamerikanern: „De toutes [sic!] façon c’est le terme génocide qui doit être retenu si le mot génocide veut dire l’anéantissement d’un peuple par un autre.“38 Zum anderen legt er den Schwerpunkt auf die Politisierung der afroamerikanischen Gefangenen, welche als von der Black Panther Partyinitiierter Transformationsprozess beschrieben wird: „[L]e message des Panthères s’adressait aussi aux prisonniers noirs qui eurent, grâce à eux, le moyen de transformer leur détresse individuelle en réflexion politique.“39 Die Verwendung des Wortes ‚Genozid‘ im Sinne eines „anéantissement d’un peuple par un autre“40 bewirkt dabei eine medienstrategische und öffentlichkeitswirksame Skandalisierung der Vorkommnisse, durch welche nach Peter Imbusch „eine Bedrohungs- und Bedeutungsspirale in Gang [ge]setzt [wird], die entschlossenes Handeln erzwingt.“41 Genets Interventionen für den G.I.P. stehen im Kontext der Internationalisierung der Gefängnisrevolten und beleuchten einen institutionell verankerten Rassismus, der durch das Justizsystem kanalisiert wird. Durch ihre Verknüpfung mit dem G.I.P. sind diese Artikel dem Konzept des radikalen Journalismus nach Foucault zuzuordnen, bereichern es jedoch nicht nur durch die inhaltliche Komponente der Internationalität und der Detektion eines rassistischen Justizapparates, sondern geben dem Konzept der Radikalität auch durch die kompromisslose Tonalität der Texte eine neue Form. Sie verfolgen die Zielsetzung einer gesellschaftlichen Gegen-Information, in der auch Foucaults Konzept eines Gegen-Diskurses aufgeht, dessen Charakteristika im Folgenden analysiert werden sollen. 2.2.2.2 Der G.I.P. und das Konzept des ‚contre-discours‘ nach Foucault Innerhalb der Werkgenese Foucaults lässt sich die Gründung des G.I.P. als Intermezzo zwischen zwei Grundpfeilern des theoretischen Werks situieren, nämlich seiner Antrittsvorlesung am Collège de Francevom 2. Dezember 1970 mit dem Titel L’ordre du discours1 und der Veröffentlichung von Surveiller et punir2 im Jahre 1975. Die im Kontext des G.I.P. entstandenen Kurztexte journalistischer und essayistischer Natur sowie die zahlreichen Interviews auf nationaler und internationaler Bühne sind jenem – um es mit Polats Formulierung zu halten – „zweiten Werk“3 des Philosophen zuzurechnen, welches das umfassende Korpus zusätzlicher sekundärer Texte konstituiert. Der Begriff des Gegen-Diskurses wird aus einer Verknüpfung von Diskurs- und Machttheorie generiert, wie sie im Spielfeld des G.I.P. taktisch praktiziert wird. Der in L’ordre du discourstheoretisierte Diskursbegriff ist durch seine Abhängigkeit von einer rein negativ konnotierten Auffassung von Macht charakterisiert, die sich schließlich in Surveiller et puniraufzulösen beginnt.4 Unter der Prämisse, dass in der Gesellschaft die Produktion des Diskurses durch gewisse Prozeduren kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert wird,5 determiniert Foucault drei Kategorien von Kontrollmechanismen: externe Prozeduren der Ausschließung, interne Prozeduren zur Selbstkontrolle des Diskurses und die Verknappung des Diskurses durch das sprechende Subjekt bzw. den Autor. Insbesondere die Reflexion der externen Ausschließungsmechanismen fließt in das theoretische Fundament des G.I.P. maßgeblich mit ein. Foucault benennt an erster Stelle die zensierenden Formen der Ausschließung, das Verbot und die Tabuisierung, die sich vornehmlich in den Bereichen der Sexualität und der Politik manifestieren; an zweiter Stelle figuriert das Prinzip der Grenzziehung und der Verwerfung, das in der Entgegensetzung von Vernunft und Wahnsinn Ausdruck findet; im Gegensatz zum dritten Prinzip, dem der Unterscheidung zwischen Wahrem und Falschem, bezeichnet Foucault diese ersten Formen der Ausschließung als „arbitraires […] ou […] s’organis[a]nt autour de contingences historiques“6, also als willkürlich und der geschichtlichen Zufälligkeit entsprungen, wohingegen der Wille zur Wahrheit, welcher die Diskurse durchdringt, am Ursprung des westlichen Gesellschaftssystems steht und alle übrigen Ausschlussprinzipien zusammenhält. Alle drei Ausschlussmechanismen betrachtet Foucault als institutionell fundiert und gesichert, so dass man – um an die eingangs formulierte Prämisse anzuschließen – folgern kann, dass jenseits dieses diskursiven Filters keine Diskursbildung möglich ist. Wie Foucault unter Rückbezug auf seine eigene Antrittsrede quasi metadiskursiv verlautbart, liegt es in der Funktion und im Anspruch der Institution, darüber zu wachen, dass der Diskurs „dans l’ordre des lois“7 liegt, um damit die ursprüngliche Kraft des Wortes zu entmachten. Konnex zwischen der theoretischen Grundlage in L’ordre du discoursund dem praktischen Experiment des G.I.P. ist dabei die institutionell gesteuerte diskursive Filterung, die mittels der Worterteilung an die Gefangenen unterlaufen werden soll. Die Charakteristika jenes Diskurses der Gefangenen, den er in einem Interview mit Gilles Deleuze als „contre-discours“8, nämlich als „discours contre le pouvoir“9, bezeichnet, kann man in L’ordre du discoursbereits ex negativobestimmen. Analog zur Praxis des G.I.P. – obwohl Foucault darauf insistiert, dass der G.I.P. von jeder seiner vorgängig publizierten theoretischen Abhandlungen zu distanzieren ist10 – richtet er sein Interesse auf den Kampf gegen die Ausschließungsprinzipien der Macht. Innerhalb jenes umfassenden externen Mechanismus der Exklusion, der Grenzziehung zwischen dem Wahren und dem Falschen, könnte in Anlehnung an die Trennung zwischen Vernunft und Wahnsinn eine zusätzliche ausschließende Kategorie gesetzt werden: die Opposition von Gesetzlichkeit und Kriminalität bzw. von Legalität und Illegalität. So zentriert Foucault 1971 in einem Interview sein Interesse auf ebendiese Fragestellung, also „celui du système pénal, de la manière dont une société définit le bien et le mal, le permis et le pas permis, le légal et l’illégal, la manière dont elle exprime toutes les infractions et toutes les transgressions faites à sa loi.“11 Das Phänomen der Transgression des Gesetzes im Zusammenspiel mit dem der Repression von Illegalität durch das Justizsystem eröffnet einerseits eine zeithistorisch bedingte Reflexion über die juristische Grenzziehung zwischen Verbot und Erlaubnis und durchdringt andererseits die Thematik der Diskursformation. Denn den Begriff der Transgression erstreckt er durch das Konzept des Gegen-Diskurses gleichsam auf den Gegenstand der Diskursivität, insofern er nämlich dadurch die Grenze zwischen Sagbarkeit und Unsagbarkeit reflektiert: Dans Les Mots et les Choses, j’ai surtout étudié des nappes, des ensembles de discours. Dans L’Archéologie du savoiraussi. Maintenant, nouveau mouvement du pendule: je suis intéressé par les institutions et les pratiques, par ces choses en quelque sorte en dessous du dicible.12 Es geht Foucault folglich auch um die Aktivierung des Unsagbaren, das vom regulierenden Diskurs abfällt und auch nicht von diesem angeeignet werden kann. An dieser Stelle bedarf es allerdings einer Differenzierung: Während Foucault in L’ordre du discoursnoch die Möglichkeit des grundsätzlich Gesagten in Dependenz zum diskursiven Regelwerk stellt, jenseits dessen keine Wissensverbreitung denkbar ist, zersetzt er unter Einfluss seines Engagements im G.I.P. diese nomische Enklave kurz darauf. Die Transgression des Sagbaren scheint Foucault offenbar in der Wortergreifung durch die Gefangenen realisiert. Jedoch muss hier zum einen kritisch eingewendet werden, dass die Gefangenen dazu mobilisiert wurden und eine Initiative höchstens von den politischen Gefangenen, d.h. also dem ohnehin sensibilisierten Teil der Insassen, ausging; und zum anderen muss das Verhältnis zwischen Sagbarem und Unsagbarem hinterfragt werden. In L’ordre du discourskristallisiert sich die Problematik dieser Relationalität in folgender Textpassage heraus: „Il se peut toujours qu’on dise le vrai dans l’espace d’une extériorité sauvage, mais on n’est dans le vrai qu’en obéissant aux règles d’une ‚police‘ discursive qu’on doit réactiver en chacun de ses discours.“13 Was Foucault an dieser Stelle undifferenziert als ‚wildes Außen‘ bezeichnet, wirft Fragen auf, die Christian Kupke überzeugend diskutiert.14 Wenn Kupke auch die Unmöglichkeit eines reinen Außen konstatiert, so spielt er doch verschiedene mögliche Grenzziehungen zwischen einem Diesseits und einem Jenseits des Diskurses durch. So gibt es also die Variante eines diskursiven Außen als quasi privilegierte Position, von der aus der nomische Diskurs überblickt werden kann, und die dazu invertierte Variante einer aus dem Inneren des Diskurses entspringenden spaltenden Perspektivierung. Beide Varianten werfen die Frage auf, inwieweit es überhaupt zu einer Transgression des Sagbaren kommen kann. Fasst man den Diskurs nämlich als zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt ausschließlich Sagbares auf, bleibt offen, wie jenes Unsagbare, ob als Außen oder als Innen des ordnenden Diskurses, im selben historischen Rahmen Ausdruck finden kann. Kupke eröffnet einen neuen Denkansatz, indem er zwischen der reinen Möglichkeit, alles oder nur Unbestimmtes zu sagen, und der von dieser Möglichkeit durchdrungenen, sie implementierenden Wirklichkeit, nur etwas Bestimmtes zu sagen, das entweder der Gesamtheit aller Regeln folgt und sie heteronom reproduziert oder aber ihnen widerspricht und neue Regeln setzt15, unterscheidet. Jenseits der Perspektivierung eines Innen oder eines Außen des Diskurses, reflektiert Kupke hier die Kategorie des ‚reinen Möglichen‘, wodurch grundsätzlich alles stets sagbar ist, jedoch durch den diskursiven Filter eines aktivierten Regelwerks als Unsagbares erscheint. Foucaults ‚wildes Außen‘ könnte vor diesem Hintergrund als jenes zur Immanenz des im Gesellschaftskörper implementierten Diskurses mögliches transzendentes Feld des Unsagbaren aufgefasst werden. Vergleichbar ist Kupkes Ansatz mit Jägers Opposition eines ‚konkreten‘ und eines ‚abstrakten Apriori‘, wobei das konkrete Apriori die historischen und sozialen Möglichkeitsbedingungen umfasst – Foucault verwendet hierfür den Begriff des Epistems – und das abstrakte Apriori als eine Möglichkeitsbedingung jenseits der tatsächlich historisch realisierten zu verstehen ist.16 Jedoch behandelt Jäger die beiden Apriori als Gegensätzlichkeit, während Kupke eine Verknüpfung gelingt. Denn erst durch die Anerkennung der der symbolischen Ordnung inhärenten Negation erklärt sich die Grenzverschiebung bzw. -überschreitung der erfahrbaren Ordnung.17 Durch Kupkes Schwerpunktsetzung auf die Dynamis sind auch die historischen Rahmenbedingungen des ordnenden Diskurses mit denen dessen, was Foucault als Gegen-Diskurs bezeichnet, zu vereinbaren. Betrachtet man das Unsagbare als immer potentiell Sagbares, so muss sich das historische Apriori als interferentielle Schnittstelle beider Diskursordnungen, der möglich-werdenden und der tatsächlichen, manifestieren. Daraus erklären sich auch die Eigenschaften des Gegen-Diskurses, wie sie in L’ordre du discoursals Negativum zu jenem regulierenden Diskurs vorliegen. Man findet hier vornehmlich folgende Charakteristika: die Ereignishaftigkeit sowie die Virulenz und Militanz. Durch die Kontrollmechanismen, die in Bezug auf den Diskurs das Ziel verfolgen „d’en conjurer les pouvoirs et les dangers, d’en maîtriser l’événement aléatoire“18, werden aber ebendiese Eigenschaften unschädlich gemacht. Ihre Wirkung sei entwaffnend19 und sie entsprängen einer profonde logophobie, une sorte de crainte sourde contre ces événements, contre cette masse de choses dites, contre le surgissement de tous ces énoncés, contre tout ce qu’il peut y avoir là de violent, de discontinu, de batailleur, de désordre aussi et de périlleux20. An der Bruchstelle des ordnenden Diskurses tritt eine all jene Eigenschaften vereinende Diskursform hervor, die durch die Ausschlussmechanismen gebändigt werden soll. Vor der Folie der theoretischen Vorgaben in L’ordre du discoursist das Engagement des G.I.P. als Versuch einer Durchbrechung des institutionalisierten Diskurses im Bereich des Justizsystems zu bewerten. Durch die Produktion eines neuen Wissensdiskurses durch jenen als ‚Gegen-Diskurs‘ bezeichneten Diskurs gegen die Macht wird die Grenzziehung zwischen Sagbarem und Unsagbarem experimentiert. Das grundsätzlich mögliche Unsagbare wird durch die Worterteilung an die Gefangenen aktiviert, so dass es für Foucault zur Sichtbarmachung jener eruptiven Kraft kommt, die den konzeptuellen Kern seines radikalen Journalismus konstituiert. Wie anhand des Vorwortes der Broschüre zur Ermordung George Jacksons deutlich wird, unterstützt Genet im Grundsatz die Idee der Produktion eines eruptiven Gegen-Diskurses ausgehend von den Betroffenen selbst, jedoch zeigt sich gerade in Hinblick auf George Jacksons Gefängnisbriefe, dass Genet mit deren Bewertung als „livre révolutionnaire“21 zusätzlich an ein anderes politisches Konzept anknüpft. Tatsächlich stehen bei ihm Poesie und Revolution in einem eigentümlich interdependenten Verhältnis, wodurch eine Verquickung von Ethik und Ästhetik stattfindet, die auch in seinem Projekt der Korruption von Sprache erkennbar wird und im Anschluss analysiert werden soll. Über die Tatsache hinaus, dass ein Gegen-Diskurs produziert wird, hinterfragt er insbesondere die Modalitäten dessen Verbalisierung. Genets Postulat einer neuen Ausdrucksform wird zum ersten Mal als Appell in seinem Brief an die amerikanischen Intellektuellen formuliert: „Je crois que le temps est venu d’user d’un vocabulaire également neuf et d’une syntaxe capable de rendre chacun attentif au double combat, poétique et révolutionnaire, des mouvements qui sont chez les Blancs comparables à ceux des Black Panthers.“22 Diese Sprachreflexivität bringt die Vorstellung einer Anpassung der Sprache an die sozialen Umwälzungen zum Ausdruck. So bemerkt Genet in demselben Text, dass sich aus der poetischen Vision der afroamerikanischen Bevölkerung ein politischer Gedanke entwickelt habe. Und dieser müsse vermittels einer neuen Sprache verbalisiert werden. Solange müssten einige Worte in Verwendung bleiben, bis diese dann in einer neuen Sprache aufgehen könnten: „Il est bien évident que je n’écrirais pas cela si la révolution planétaire avait eu lieu: certains mots, maintenant doivent être repris, d’autres supprimés plus tard obligeant à un langage nouveau.“23 Hier zeigt sich, dass Genet 1971 von einer Situation des Übergangs in eine Revolution und somit des akuten Kampfes ausgeht, die sich in einer spezifischen Ausdrucksform äußert, welche er als poetisch klassifiziert. 2.2.2.3 Jean Genet und die poetische Strategie der ‚corruption du langage‘ In seinem Interview mit Michèle Manceaux am 10. Mai 1970, das der Popularisierung der Black Panthersund des kurz zuvor in Paris für sie gegründeten Aktionskomitees dienen sollte, synthetisiert Genet die Hauptaspekte seines politischen Engagements. Auf die Frage, was ihn mit der Bewegung der Black Panthersverbindet, antwortet Genet: Si je suis sincère, je dois dire que ce qui m’a touché d’abord, ce n’est pas leur souci de recréer le monde. Bien sûr, ça viendra et je n’y suis pas insensible, mais ce qui m’a fait me sentir proche d’eux immédiatement, c’est la haine qu’ils portent au monde blanc, c’est leur souci de détruire une société, de la casser. Souci qui était le mien très jeune mais je ne pouvais pas changer le monde tout seul. Je ne pouvais que le pervertir, le corrompre un peu. Ce que j’ai tenté de faire par une corruption du langage, c’est-à-dire à l’intérieur de cette langue française qui a l’air d’être si noble, qui l’est peut-être d’ailleurs, on ne sait jamais.1 Er unterscheidet hier zwischen jener pessimistischen und negativen Phase des Hasses und des Wunsches nach der Zerstörung der Gesellschaft und jener konsekutiven, positiven und zukunftsorientierten Phase der Schaffung einer neuen Welt, welche im Zusammenspiel implizit das Konzept der Revolution wiedergeben. Das bindende Element zwischen ihm und den Black Pantherswird dabei durch erstere Phase der Negativität repräsentiert, die Genet mit seinem eigenen frühen literarischen Werk in Verbindung setzt. Das negative Ziel der Zerstörung der Gesellschaft tritt in seinem poetischen Projekt der Perversion und Korruption von Sprache zutage. Diesen Mechanismus der Perversion und Korruption von Sprache kommentiert Foucault in einem Gespräch mit japanischen Moderatoren über die vermeintlich subversive Kraft von Literatur im Dezember 1970. Einer seiner Gesprächspartner zitiert aus dem Gedächtnis eine öffentliche Stellungnahme Jean Genets, die sinngemäß Ähnlichkeiten mit der gegenüber Michèle Manceaux geäußerten Vision einer Korruption der Sprache aufweist. Statt der Perversion und Korruption der Sprache ist hier die Rede von einer Fäulnis und Zersetzung der Sprache, „pourrir le français“2. Foucault bietet zwei Interpretationsmöglichkeiten für diese Formulierung an. Im ersten Fall bezieht er den Mechanismus auf den literarischen Einsatz eines sozial bedingten Idiolektes, des Argots: „S’il s’agit d’introduire dans la langue française, dans le langage littéraire des tournures qui n’ont pas encore acquis droit de cité, alors il [Genet, S.I.] ne fait que poursuivre le même travail que Céline, pour prendre un exemple du passé.“3 Wie auch Eribon betont, distanziert sich Foucault von einer solchen literarischen Vision und spricht ihr jegliches revolutionäres Ausmaß ab,4 bietet jedoch eine zweite Deutung an: Mais si la formule ‚pourrir le français‘ signifie que le système de notre langage – à savoir comment les mots fonctionnent dans la société, comment les textes sont évalués et accueillis et comment ils sont dotés d’une efficacité politique – doit être repensé et réformé alors, bien sûr, le ‚pourrissement du langage‘ peut avoir une valeur révolutionnaire.5 Genets politische Strategie der inneren Zersetzung von Sprache hat für Foucault insofern eine revolutionäre Wertigkeit, als ein systemisches Umdenken der gesellschaftlichen und politischen Funktion von Sprache und Texten angestrebt wird, wie er selbst es in anderer Form im Gegen-Diskurs experimentiert. Wie Genet bewertet auch Foucault tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen als Prämisse für einen grundlegenden sprachlichen Wandel, der sich letztlich als Wirkung und Konsequenz eines zunächst auf politischer Ebene besiegelten Umbruchs manifestiert: Mais […] la situation globale du langage et des différentes modalités que je viens d’évoquer ne peut être réformée que par une révolution sociale. En d’autres termes, ce n’est pas par un pourrissement interne du langage que la réorganisation globale, la redistribution globale des modalités et des valeurs du langage peuvent être opérées. Mais c’est par une reforme en dehors du langage.6 Foucault und Genet sind sich somit beide der dezidierten Wirkungschancen einer rein auf sprachlicher Ebene realisierten Umwertung des Systems bewusst und betonen die Notwendigkeit außersprachlicher Umbrüche. Dabei unterscheidet jedoch Genet stärker zwischen poetischer Negation7 und politischer Affirmation. Auch wenn erst eine gesellschaftliche Revolution einen umfassenden sprachlichen Wandel bewirken kann, spiegelt sich doch für Genet das revolutionäre Potential einzelner Bewegungen in deren poetischer Vision wider, die als gesellschaftliche Kommunikationsform zum Ausdruck kommt. So bezeichnet er die Black Panthersals poetische Bevölkerungsgruppe mit einem natürlichen Sinn für Poesie: They [the Black Panthers, S.I.] are a poetic people. Black people in America seem to have a natural poetic sense, and the discoveries they’ve made about how to struggle politically lean curiously on a poetic sentiment about the world. Maybe I’m wrong, but I think those things are linked, politics and poetry. I think political reflection is integral to poetic comprehension and vice versa. It’s something about the world black people live in; their political perspicacity comes out of looking at their world poetically.8 Einen Schlüsseltext in diesem Zusammenhang konstituiert sein Vorwort zu den Gefängnisbriefen George Jacksons, welches Genet wenige Monate nach seinem Interview mit Michèle Manceaux im Juli 1970 redigierte und das bereits unter dem Aspekt seiner Rolle als préfacierbeleuchtet wurde. Als literaturkritischer Kommentar konzipiert, legt es einen Schwerpunkt auf die sprachlich-stilistische Gestaltung der Briefsammlung, welche Genet gattungsspezifisch als „sorte d’essai et de poème confondus“9 einordnet und damit auf sein eigenes Ideal einer Mischung der traditionellen stilistischen und poetologischen Differenzierung von politischer Rhetorik und Poesie rekurriert. Genet präzisiert hier in Bezug auf Jacksons Briefe den Mechanismus einer Korrumpierung jener Sprache, die er als Sprache des Feindes bezeichnet: „Ici encore, le prisonnier doit se servir du langage même, des mots, de la syntaxe de son ennemi alors qu’il sent le besoin d’une langue séparée qui n’appartiendrait qu’à sa nation.“10 In Ermangelung einer eigenen Sprache, die nicht von der „juridiction de grammairien“11 reguliert wird, sind Akzeptanz und Korrumpierung der normativen Sprache für Genet die einzige Lösung: „Il [le Noir, S.I.] n’a donc qu’une ressource: accepter cette langue mais la corrompre si habilement que les Blancs s’y laisseront prendre.“12 Genet konstatiert selbst, dass die Lösung in dieser Form des inneren Widerstandes dem revolutionären Projekt entgegenzulaufen scheint: „Et c’est un travail qui semble être contredit par celui du révolutionnaire.“13 Das revolutionäre Ziel hat jedoch für Genet einen poetischen Ursprung, der im Moment des Hasses und der Ablehnung der ‚weißen‘ Gesellschaft mit ihrem moralischen Wertesystem und sprachlichen Regelwerk verankert ist und aus dem erst die langsame Substitution des sprachlichen Begrif
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