Mehrere Arbeiten aus der Soziologie führen als Erklärungsansatz für den geringen Bildungserfolg von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund das Festhalten an der Minderheitensprache an. So konnte u.a. Esser (2006; 2009) anhand von Reanalysen verschiedener Indikatoren für Schulleistungen und Arbeitsmarkterfolg von Migranten feststellen, dass herkunftssprachliche Kompetenz bzw. Investitionen in diese sich weder in der Schule noch später auf dem Arbeitsmarkt auszahlten. Seine Auswertung der oben diskutierten CILS-Studie (vgl. Portes & Rumbaut 1990) belegte, dass allein die Beherrschung der Mehrheitssprache sowohl für Lesekompetenzen als auch für die Leistungen in Mathematik ausschlaggebend sei. Die Minderheitensprache sei für schulischen Erfolg hingegen völlig „irrelevant“ (Esser 2006: 74). Durch die Neubetrachtung von Daten des Sozio-Ökonomischen Panels ließen sich weder beim erzielten Einkommen noch bei der beruflichen Positionierung Vorteile durch migrationsbedingte Mehrsprachigkeit ausmachen (vgl. Esser 2009: 84). Kompetenzen in der Minderheitensprache wären ausschließlich bei einigen wenigen Tätigkeiten in speziellen Arbeitsmarktsegmenten gewinnbringend.
Andere Arbeiten aus der Bildungsforschung bestätigen diese Ergebnisse zum Teil. So zeigte beispielsweise eine Metaanalyse von Studien zu bilingualen, Sprachförder- und Spracherhaltprogrammen, die im US-amerikanischen und europäischen Kontext durchgeführt wurden, keine eindeutigen Vorteile für solche Programme, in denen auch die Minderheitensprache berücksichtigt wurde (vgl. Limbird & Stanat 2006). Limbird und Stanat führen zwar selbst an, dass zum einen der Erfolg solcher Programme über das erreichte Niveau in der Mehrheitssprache gemessen wurde und zum anderen das methodische Vorgehen vieler der von ihnen zusammengetragenen Studien insbesondere hinsichtlich der Vergleichsgruppe fragwürdig ist. Dennoch lautet ihre Schlussfolgerung, dass es keine weitere Notwendigkeit zur Untersuchung von bilingualen und transitorischen Programmen gäbe. Es sei „unrealistisch“, alle Minderheitensprachen in der Schule zu berücksichtigen, selbst wenn ihre Förderung der Mehrheitssprache zugute käme (ebd.: 292).
Hopf (2005) legt eine ähnlich gerichtete Analyse für den deutschen Kontext vor und argumentiert gegen eine Förderung der Minderheitensprache vor allem mit der Knappheit der zur Verfügung stehenden Lernzeit. Der Aufwand zum Ausbau der Minderheitensprachkenntnisse stehe in keinem Verhältnis zum Ertrag, insbesondere bei Betrachtung der Schülerleistungen im Deutschen. Da viele Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund in Familien aufwachsen, in denen primär die Minderheitensprache gesprochen wird, und zugleich in Ballungsgebieten großwerden, was den Kontakt zu weiteren Sprechern derselben Minderheitensprache erleichtert, benötigten sie laut Hopf wesentlich mehr Unterrichtszeit zum Erlernen der deutschen Sprache (vgl. ebd.: 244). Erfolgreiche Zweisprachigkeit sei für ihn hingegen das Ergebnis intensiver familiärer Förderung, die nur wenige Angehörige einer „intellektuellen Elite“ meisterten (ebd.: 242).
Nach diesen Forschungsergebnissen scheint für sozialen Aufstieg in der Gesellschaft offenbar ausschließlich die Mehrheitssprache förderlich zu sein, was die Minderheitensprache zusätzlich abwertet und den Erhalt von peripheren Sprachen erschwert. Dass es sich trotz der negativen Befunde aus der Soziologie und Bildungsforschung lohnt, eine Minderheitensprache ohne Prestige und gesellschaftlichen „Marktwert“ zu erhalten und von Generation zu Generation weiterzugeben, obwohl ihre Kenntnis scheinbar keinen Nutzen mit sich bringt oder sogar für Bildungserfolg hinderlich ist, zeigen wiederum zahlreiche Studien aus der Soziolinguistik, Fremdsprachenforschung, Neurowissenschaft, Psychologie und anderen Disziplinen, auf die im folgenden Abschnitt eingegangen wird.
2.3 Gründe für Spracherhalt
Entgegen der Sichtweise, das Vorhandensein mehrerer unterschiedlicher Sprachen in einem Staat führe zu politischer Spaltung und widerspreche dem Verständnis von einem Nationalstaat mit nur einer gemeinsamen Sprache für alle Bürger (vgl. Krashen 1998: 5f.), argumentiert Fishman für den Erhalt sprachlicher Diversität und belegt anhand von Daten aus 170 Ländern, dass dieser Faktor nicht ausschlaggebend für politische Instabilität ist (vgl. Fishman 1990). Im Gegenteil, die Bewahrung und Akzeptanz selbst kleinerer Minderheitensprachen ist laut Fishman gleichsam ein Zeichen kultureller Demokratie (vgl. Fishman 1991: 3). Sprachliche Pluralität aufrechtzuerhalten, bedeutet demnach die Voranstellung von Identität vor Macht, von Individuum und Gemeinschaft vor Gesellschaft und gibt darüber hinaus nicht prestigeträchtigen Sprachen genügend Raum zur Entfaltung (vgl. ebd.: 6):
The destruction of languages is an abstraction which is concretely mirrored in the concomitant destruction of intimacy, family and community, via national and international involvements and intrusions, the destruction of local life by mass-market hype and fad, of the weak by the strong, of the unique and traditional by the uniformizing, purportedly ‘stylish’ and purposely ephemeral. (Fishman 1991: 4)
Es lassen sich zahlreiche weitere Argumente für den Erhalt einer Minderheitensprache jenseits von verklärter Vorstellung von sprachlicher Diversität anführen. So ist das Versprechen, durch die Mehrheitssprache sozial aufzusteigen und seine Chancen auf Erfolg zu erhöhen, insbesondere wenn man die Minderheitensprache hinter sich lässt, entgegen den in Abschnitt 2.2 zitierten Studien nicht universell einlösbar, wie die Forschungen von Brizić (2007; 2009) nachweisen. In ihrer Studie zeigte sich, dass Schülerinnen und Schüler mit der geringsten Deutschkompetenz gleichzeitig über die geringsten Sprachkenntnisse in der vermeintlichen Erstsprache verfügten. Dies widerspricht also den oben diskutierten Befunden, das schlechte Abschneiden Mehrsprachiger im Bildungssystem sei auf den Erhalt der Minderheitensprache zurückzuführen. Durch qualitative Tiefeninterviews mit den Eltern dieser Schüler konnte Brizić jedoch eine Erklärung für diese Feststellung finden und nachzeichnen, dass in der scheinbar homogenen Sprechergruppe eine Vielzahl an anderen, „verschwiegenen“ Sprachen gesprochen wurde. Diese Familien hatten den Prozess des Sprachwechsels bereits durchlaufen und schon vor der Migration eine im Herkunftsland nicht prestigeträchtige oder gar stigmatisierte Minderheitensprache zugunsten der offiziellen Mehrheitssprache aufgegeben. Brizić formuliert ihre Ergebnisse zusammenfassend wie folgt:
Die uneingeschränkte Weitergabe der Erstsprache von den Eltern an die Kinder könnte also tatsächlich so, wie es sich hier in unserem Sample präsentiert, einen entscheidenden Vorteil darstellen und sogar andere ungünstige Bedingungen aufwiegen; die teilweise Weitergabe und die Nichtweitergabe könnten dagegen gewissermaßen einen „Kapitalverlust“ bedeuten, da sie zu einem mehr oder weniger umfassenden sprachlichen Neuanfang zwingen – in der Migrationssituation möglicherweise eine besonders schwierige Ausgangsposition für jeden weiteren Spracherwerb. (Brizić 2007: 330; Hervorhebungen i.O.)1
Brizić betont also, dass die Aufgabe der familiär verwendeten Sprache in der Migrationssituation eine doppelte Belastung darstellt und die Familien sprachlich zu einem vollständigen Neustart zwingt. Somit führt Sprachwechsel zur Mehrheitssprache erst zu Bildungsbenachteiligung. Studien aus der interkulturellen Erziehungswissenschaft konnten ebenfalls nachweisen, dass diejenigen Sprecher der zweiten Generation erfolgreich am Bildungssystem und am Arbeitsmarkt partizipieren, die sowohl die Mehrheitssprache erwerben als auch die von ihren Eltern mitgebrachte Sprache beibehalten und diese als Ressource nutzen. Fürstenau (2004; 2005) legte eine Untersuchung zu Aufwertungsmöglichkeiten der Minderheitensprache in Ausbildung und Beruf aus der Perspektive Jugendlicher in der Phase der Berufsorientierung vor. In ihrer Arbeit zu portugiesischsprachigen Jugendlichen in Hamburg konnte sie u.a. nachzeichnen, dass sie ihre schulisch illegitimen Sprachkenntnisse durchaus eigenaktiv durch eine offizielle Zertifizierung aufwerten wollten (vgl. Fürstenau 2005: 373). Dies sei nach Fürstenau ein Versuch, sich gegen die bestehenden Verhältnisse auf dem sprachlichen Markt aufzulehnen. Auf dem Arbeitsmarkt zahlten sich insbesondere für die Jugendlichen mit höheren Bildungsabschlüssen die Kenntnisse in der Minderheitensprache ausdrücklich aus: Zusätzlich zu den von Esser (2009) genannten an die portugiesische Migrantengemeinde in Hamburg gebundenen Arbeitsmarktoptionen ergaben sich nach Einschätzung der Studienteilnehmer zahlreiche Berufsfelder in internationalen oder mehrsprachigen Kontexten (vgl. ebd.: 374). Zudem ermöglichte ihnen das Festhalten an der Minderheitensprache Portugiesisch, sich auch im Herkunftsland ihrer Eltern zu bewerben und dort beruflich tätig zu sein.
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