Teilnehmer am Fremdsprachenunterricht im Schuljahr 2015 / 2016 im Vergleich (vgl. Statistisches Bundesamt 2017a)
Unter dem Aspekt der Schulformen betrachtet, lässt sich ebenfalls ein Ungleichgewicht zwischen den Sprachen erkennen. Während der Anstieg an Teilnehmern für die meisten angebotenen Fremdsprachen durch das Hinzukommen der zweiten und dritten Fremdsprache ab der Sekundarstufe I zu erklären ist, finden 56,7 % des Türkischunterrichts an Grundschulen4 statt – vermutlich im Rahmen des sog. herkunftssprachlichen Unterrichts. Sein Status als Ergänzungsunterricht ist grundsätzlich problematisch, da er im deutschen Bildungssystem nach wie vor nur eine marginale Rolle spielt (vgl. Gogolin & Oeter 2011: 40; Küppers & Schroeder 2017). Schwierigkeiten bei der Zertifizierung von erbrachten Leistungen, fehlende Lehrkräfte, ungeklärte Verantwortlichkeiten und Finanzierungsprobleme sowie die Voraussetzung einer bestimmten (sprachlichen, geographischen, ethnischen) Herkunft (vgl. Lengyel & Neumann 2016: 12) verhinderten bisher seine Integration in den regulären Unterricht (vgl. Schroeder 2003: 25ff.; für eine ausführliche Diskussion s. auch Abschnitt 4.4.4).
Debatten über die Funktion, den Nutzen und die Zielsetzungen herkunftssprachlichen Unterrichts werden bisweilen ebenfalls von Sprachprestigemechanismen bestimmt und münden in einem „Kosten-Nutzen-Kalkül“ (Niedrig 2011: 102). Diskutiert wird hier vor allem, ob der Erhalt und die Förderung von allochthonen Minderheitensprachen in der Verantwortung des Staates und somit der Schule lägen. Schließlich stehe diese Forderung im Widerspruch zu der symbolisch-unitarisierenden Funktion einer Nationalsprache als der einzig legitimen Sprache (vgl. Krüger-Potratz 2011: 54). Dies hat zur Folge, dass die meisten Kinder allochthoner Minderheiten in Deutschland im Rahmen von Submersionsmodellen beschult werden, eventuell mit zusätzlichen Förderangeboten in der Mehrheitssprache Deutsch (vgl. Reich & Roth 2002: 20).
Werden herkunftssprachliche Kurse dennoch eingerichtet, so lassen sich je nach Kontext folgende Beweggründe hierfür finden (vgl. Broeder & Extra 1999): Auf der einen Seite steht die Rückkehroption in das Herkunftsland, auf die die Schülerinnen und Schüler durch herkunftssprachlichen Unterricht vorbereitet werden sollen. Die sprachliche Eingliederung in die Mehrheitsgesellschaft ist hier nicht im Fokus. Diese Perspektive wurde in Deutschland vor allem in den 1970er Jahren eingenommen und wird heutzutage zumindest nicht mehr explizit angeführt (vgl. Schroeder & Küppers 2016: 201). Bei einer Bleibeperspektive wird oftmals in einem kompensatorischen Sinne für die Einrichtung herkunftssprachlichen Unterrichts argumentiert. Durch Transfer von in der Minderheitensprache Gelerntem könne die Mehrheitssprache gefestigt werden. Unterricht in der Minderheitensprache wird in diesem Argumentationsansatz durch eine Überbrückungsfunktion bzw. durch einen Ausgleich sprachlicher Defizite bis zu einer Eingliederung in die Regelklasse gerechtfertigt (vgl. Niedrig 2011: 102f.). Diese Modelle stehen nur einigen wenigen wertschätzenden Ansätzen gegenüber, die Pluralität und sprachliche Diversität unterstützen möchten. Sprachprestige durchdringt also über gesellschaftliche Machtordnungen auch die Bildungsinstitutionen, was Auseinandersetzungen über negative Auswirkungen von Spracherhalt auf Bildungserfolg befeuert und die Aufgabe peripherer Sprachen mit einem geringen Kommunikationswert zusätzlich forciert.
2.2 Mehrsprachigkeit und Bildungserfolg
Das Thema Mehrsprachigkeit dominiert bildungspolitische Diskussionen insbesondere unter dem Aspekt der Bildungsrelevanz. Die Debatte findet in Deutschland vor allem auf folgender Ebene statt: Medial präsent und wissenschaftlich aufgegriffen wird die Sichtweise, die Kenntnis der Migrantensprache behindere den Erwerb der Mehrheitssprache Deutsch und schade demnach dem Bildungserfolg der Schülerinnen und Schüler mit sog. Migrationshintergrund.1 Diese schneiden sowohl in Bezug auf Bildungsbeteiligung und -erfolg als auch bei Leistungsmessungen wesentlich schlechter ab als Gleichaltrige ohne Migrationshintergrund. Bereits an dem ersten Übergang im deutschen Bildungssystem, dem Übergang von Elementar- in die Primarstufe, werden Kinder mit Migrationshintergrund überdurchschnittlich häufig von der Einschulung zurückgestellt (vgl. Gomolla 2009: 29). Stanat (2006: 190) zeigt, dass Schülerinnen und Schüler ohne deutsche Staatsangehörigkeit nach wie vor deutlich geringere Bildungserfolge erreichen als Gleichaltrige mit einem deutschen Pass. Werden diese Angaben um Anteile von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund erweitert, kann ebenfalls festgestellt werden, dass Kinder und Jugendliche aus zugewanderten Familien in höheren Bildungsgängen wie dem Gymnasium in Deutschland unterrepräsentiert und in unteren wie der Förderschule überrepräsentiert sind. Dies entspreche laut Stanat „den Verhältnissen, die in Deutschland etwa 1970 anzutreffen waren“ (ebd.). Forschungsergebnisse von Kristen (2000: 15) belegen, dass der Faktor „Ethnie“ selbst nach Kontrolle der Schülerleistungen in Deutsch und Mathematik in entscheidendem Maße über einen Hauptschulbesuch entscheidet, was insbesondere auf türkisch- und italienischstämmige Schülerinnen und Schüler zutrifft. Darüber hinaus verlassen Kinder mit Migrationshintergrund das deutsche Schulsystem überproportional häufig ohne jeglichen Abschluss (vgl. Diefenbach 2007: 222).
Diese Disparitäten finden sich genauso in nationalen wie internationalen Schulleistungsvergleichsstudien. In der IGLU-Studie2 wurde beispielsweise für das Jahr 2011 ermittelt, dass in Deutschland Viertklässler mit Migrationshintergrund im Vergleich zu ihren Klassenkameraden im Leseverständnis einen Rückstand von etwa einem Lernjahr aufwiesen (vgl. Schwippert et al. 2012: 199). Der Anteil an Schülerinnen und Schülern aus zugewanderten Familien, die in dieser Studie nicht über die Lesekompetenzstufe I hinauskamen, war dreimal so hoch wie der von Schülerinnen und Schülern ohne Migrationshintergrund (3,7 % vs. 1,3 %; vgl. ebd.: 200). Für die höchste Kompetenzstufe V stellten sich die Ergebnisse genau spiegelverkehrt dar (4,0 % vs. 12,3 %; vgl. ebd.: 201). Ähnliche Befunde werden seit Jahren in der PISA-Studie3 für Fünfzehnjährige in Deutschland berichtet: Hier schneiden Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund in allen untersuchten Bereichen, also Mathematik, Naturwissenschaften und Lesekompetenz, deutlich schlechter ab als Schülerinnen und Schüler ohne Migrationshintergrund (vgl. Stanat et al. 2010: 201).
Als Ursachen für dieses ungleiche Abschneiden werden je nach beteiligter Disziplin unterschiedliche Mechanismen ausgemacht wie beispielsweise bestimmte Organisationsstrukturen der Institution Schule, die auf eine sprachlich homogene Schülerschaft ausgerichtet ist, was direkte oder indirekte institutionelle Diskriminierung nach sich ziehen kann (vgl. Gomolla & Radtke 2002: 334). Diese tritt zutage, wenn Lehrkräfte die zunehmende sprachliche Heterogenität im Klassenzimmer als Störung wahrnehmen und eine stärkere Homogenisierung der Lerngruppen bevorzugen. Adäquate sprachliche Leistungen der Lernenden werden dabei nicht als das Vermittlungsziel schulischer Bildung und somit in der Verantwortung der Institution selbst betrachtet, sondern als Zugangsvoraussetzung zu dieser (vgl. Gomolla 2009: 32). Gleichzeitig werden eventuelle sprachliche Defizite als Indikatoren für fehlendes fachliches Wissen genommen oder auf individuelle Unzulänglichkeiten zurückgeführt und den Schülerinnen und Schülern angelastet. Als Folge können bestimmte Bildungsgänge und -abschlüsse Lernenden, die über die verlangten sprachlichen Ressourcen (noch) nicht verfügen, aus institutioneller Sicht legitim verwehrt werden. Dies wird insbesondere an den Übergängen im Schulsystem sichtbar, wo unterschiedliche Akteure des Bildungssystems in ihrer Funktion als „Gatekeeper“ agieren (vgl. Diefenbach 2007: 233).
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