1 ...6 7 8 10 11 12 ...19 Der Widerspruch zu früheren Studien wird primär mit ihrer statistischen Anlage erklärt. So weise ein Großteil der diesem Gebiet zugeordneten Forschungen eine zu geringe Probandenanzahl von durchschnittlich etwa 15 bis 30 Personen pro Gruppe auf (vgl. ebd.: 266f.). Um diesem Missstand zu begegnen, würden jedoch für gewöhnlich mehrere kleinere Studien statt einer umfassenderen Arbeit durchgeführt. Eine weitere Schwäche stelle die Zusammensetzung der Vergleichsgruppen dar, die oftmals nicht nach sozio-ökonomischem Status kontrolliert oder innerhalb der mehrsprachigen Gruppe nicht nach Dauer des Aufenthaltes angeglichen werde (vgl. ebd.: 267f.). Trotz ihrer Kritik formulieren Paap und Kollegen abschließend die Hypothese, dass Mehrsprachigkeit sich dennoch positiv auf exekutive Funktionen auswirken könne, jedoch sei der entsprechende Effekt vermutlich gering und nur bei einer spezifischen Bedingungskonstellation nachweisbar.
Darüber hinaus wird Mehrsprachigen in Bezug auf den Alterungsprozess eine Überlegenheit gegenüber Einsprachigen zugeschrieben. So sei bei Ersteren die altersbedingte Abnahme kognitiver Fähigkeiten weiter nach hinten verlagert, da durch die lebenslange Verwendung zweier oder mehr Sprachen eine kognitive Resistenz geschaffen werde, die den geistigen Alterungsprozess verlangsame und das Gehirn vor Schäden schütze (vgl. Kavé et al. 2008). Dabei kann der Faktor Mehrsprachigkeit zuverlässiger die kognitiven Fertigkeiten eines älteren Probanden vorhersagen als andere demographische Variablen wie Alter, Geschlecht, Alter bei Ausreise oder Bildungsgrad (vgl. ebd.: 70). Die balancierte Beherrschung beider Sprachen scheint hier ebenso eine entscheidende Rolle zu spielen: Je ausgebauter die Sprachkenntnisse in beiden Sprachen, desto besser waren die kognitiven Fähigkeiten der Probanden im Alter erhalten. Ardila und Ramos (2008) berichten zudem über Effekte der Mehrsprachigkeit bei Demenzpatienten. Ihre kognitiven Funktionen blieben mit einer größeren Wahrscheinlichkeit erhalten, wenn sie primär in ihrer Erstsprache kommunizierten statt in der Zweitsprache (vgl. ebd.: 244). Die dargestellten Forschungsergebnisse belegen, dass Mehrsprachigkeit nicht nur einen schützenden Effekt auf kognitive Fähigkeiten bei normalen Alterserscheinungen haben kann, sondern dass sie sich auch verzögernd bei Demenz auswirkt.
Schließlich wiesen einige Studien einen reziproken Zusammenhang zwischen Mehrsprachigkeit und Kreativität nach (vgl. für einen Überblick Ricciardelli 1992). Forschungen konnten bestätigen, dass sowohl eine ausgeprägte nonverbale Kreativität die Mehrsprachigkeit vorteilhaft beeinflusse als auch die Mehrsprachigkeit selbst sich in einem positiven Maße auf den Ideenreichtum und das Vorstellungsvermögen auswirke. Hommel und Kollegen (2011) belegten ebenfalls für verbale Kreativitätsaufgaben, dass Personen, die über ausgebaute Sprachkompetenzen in ihren beiden Sprachen verfügten, eher konvergente Denkstrukturen aufwiesen und schneller in der Lage waren, Gemeinsamkeiten zwischen Begriffen zu finden sowie Assoziationen, Bedeutungen und Abstraktionen von bestimmten Konzepten zu bilden. Nicht balanciert Mehrsprachige hingegen zeigten ausgebaute divergente Denkweisen und generierten mehr originelle, detaillierte Lösungen für ein Problem (vgl. ebd.: 114). Die kognitiven Prozesse des divergenten und konvergenten Denkens sowie der dadurch erzeugte sprachliche Output sind als Manifestationen der Kreativität Mehrsprachiger zu werten (vgl. Kessler & Quinn 1987).
Mehrsprachigkeit ist also aus vielerlei Gründen eine nicht zu unterschätzende gesellschaftliche wie persönliche Ressource, die es aufrechtzuerhalten und auszubauen gilt. Gleichzeitig erscheint eine Sichtweise auf Mehrsprachigkeit als Ressource – also als Arbeitsmittel und Rohstoff – der Sichtweise der Sprecher selbst jedoch nicht gerecht zu werden (vgl. Ricento 2005 zu einer Kritik dieser Betrachtungsweise). Denn auf der Ebene des Individuums bedarf der Erhalt der Minderheitensprache keiner weiteren Begründung als den Wunsch, diese zu erhalten. Daran gekoppelt ist die Vorstellung, das Bewahren der Sprache stärke die Verbindung sowohl zwischen den Generationen innerhalb der Familie als auch zwischen dem Sprecher und einer von ihm konstruierten Identität, Geschichte oder Herkunft. Die Vermeidung intergenerationaler Konflikte durch eine gemeinsame Sprache und somit eine erleichterte Kommunikation mit der älteren Generation, der Community in der Diaspora und den Familienangehörigen im Herkunftsland stellen seitens mehrsprachiger Eltern wichtige Beweggründe dar, dem Verlust der Minderheitensprache entgegenzuwirken (vgl. Cho & Krashen 1998: 33).
So stellt denn auch der Wunsch nach Erhalt der Minderheitensprache für die Familien die Bedeutung der Mehrheitssprache für Bildung und finanziellen Erfolg zwar keinesfalls infrage, dennoch gilt die größere Befürchtung mehrsprachiger Eltern mit Blick auf ihre Kinder nicht einem defizitären Erwerb der Mehrheitssprache, sondern gerade dem Erwerb und Erhalt der Minderheitensprache. Diese Sorge der Eltern spiegelt sich in Unsicherheit und einem großen Beratungsbedarf zu Strategien und Erfolgsbedingungen mehrsprachiger Erziehung, was in einschlägigen Online-Elternforen und in Untersuchungen zu pädiatrischer Beratungspraxis sichtbar wird (vgl. Bockmann et al. 2013; Buschmann et al. 2011). Erste Studien in diesem Bereich konnten aufzeigen, dass Eltern ob der sprachlichen Entwicklung ihres Kindes häufig beunruhigt sind. Falls Beratung in Anspruch genommen wird, so geschieht dies innerhalb der kinderärztlichen Betreuung oder aber im privaten Umfeld (vgl. Bockmann et al. 2013: e16). Meist sind die Eltern jedoch bei Fragen zu mehrsprachigen Erwerbsverläufen auf sich allein gestellt und erfahren kaum institutionelle oder fachkundige Unterstützung (vgl. ebd.).
Insgesamt erscheint es nicht angemessen, eine Rechtfertigung für den Erhalt der Minderheitensprache allein in einem positiven Effekt auf das Altern, das Lernen von Fremdsprachen oder auf die Mehrheitssprache und somit auf Bildungserfolg zu suchen, denn die Minderheitensprache stellt bereits einen intrinsischen Wert dar. Jenseits von angestrebten ökonomischen Vorteilen für den Einzelnen führt der Wunsch nach Erhalt der Minderheitensprache und dessen erfolgreiche Umsetzung zu höherem Selbstwertgefühl, ehrgeizigeren Zukunftsplänen, mehr Selbstbewusstsein bei der Erreichung festgesetzter Ziele und zu einem gesteigerten Gefühl der Kontrolle über sein eigenes Leben (vgl. Garcia 1985: 228f.; Krashen 1998: 8). Die Bewahrung der Mehrsprachigkeit über Generationen hinweg kann folglich einen gewichtigen Einfluss auf emotionales Wohlbefinden, Stabilität und die psychische Verfassung des Individuums ausüben. Als ein persönliches, bedeutsames Thema, das stets im Kontext der Familie verhandelt wird, ist sie für die Sprecher selbst also eine subjektive, emotional aufgeladene Angelegenheit und bedarf weiter keiner rationalen Argumente.
2.4 Mehrsprachigkeit in Deutschland
Gesicherte Zahlen zu den in Deutschland gesprochenen Sprachen – allochthonen wie autochthonen – oder zu den Anteilen Mehrsprachiger an der Gesamtbevölkerung liegen nur bedingt vor. Dass Deutschland ein mehrsprachiger Staat ist, lässt sich dennoch anhand einiger Angaben und Statistiken belegen. Das Bundesministerium des Innern schätzt beispielsweise für die alteingesessenen Sprachen folgende Verteilung auf bundesdeutschem Gebiet: ca. 50.000 Angehörige der dänischen Minderheit, 60.000 Friesen, 60.000 Sinti, 10.000 Roma, 60.000 Sorben und rund 9 Millionen Niederdeutschsprecher (vgl. Bundesministerium des Innern 2015). Insgesamt könnten demnach ca. 14 % der autochthonen deutschen Bevölkerung als mehrsprachig bezeichnet werden. Die berichteten Zahlen spiegeln zwar durchaus die Größenverhältnisse der autochthonen Sprachen wider, können aber zugleich aufgrund der subjektiven Erhebungsart über Eigenkategorisierungen und ethnische Selbstzuschreibungen nur Näherungswerte darstellen. Sie reflektieren keinesfalls ihre tatsächliche Sprachvitalität, die nicht statistisch erfasst wird.
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