1 ...6 7 8 10 11 12 ...18 Das derartige Aufnehmen und Abgeben von Genen hält das Leben beständig im Fluss – was gut ist, weil es damit unwahrscheinlich wird, dass zu einem beliebigen Zeitpunkt alle redundanten Gene aus einer bestehenden Bakteriengemeinschaft verloren gegangen sind. Zumindest ein Bruchteil der Bakterien einer bestimmten Gemeinschaft dürfte jeweils noch eine voll funktionsfähige Kopie dieses redundanten Gens besitzen. Wenn sich die Umweltbedingungen ändern und dieses Gen plötzlich wichtig wird, können die Bakterien mit diesem Gen es über lateralen Gentransfer an die Bakterien in ihrer Nähe weitergeben. Diese Bereitschaft zum Teilen von Genen erklärt, warum ganze Bakterienpopulationen derart schnell eine Antibiotikaresistenz entwickeln können. Zugleich ist sie der Grund, warum kanadische und US-amerikanische Regulierungsbehörden regelmäßig Nachweise verlangen, dass Probiotikastränge in Nahrungsergänzungsmitteln keine Antibiotikaresistenz aufweisen (denn diese Gene könnten leicht auf potenziell pathogene Bakterien im Darm überspringen). Bei den winzigen Chromosomenringen der bereits erwähnten Plasmiden verläuft das Tempo des lateralen Gentransfers deutlich schneller. Bakterien können aber auch Gene aus ihren Hauptchromosomen übertragen, was einfach langsamer geschieht. Tendenziell wird jedes Gen, das nicht regelmäßig verwendet oder aktuell nicht benötigt wird, zugunsten schnellerer, effizienterer Replikation verworfen.
Als Abkömmlinge von Bakterien haben die Mitochondrien über diesen Prozess die meisten ihrer Gene eingebüßt. Wozu aber brauchte das Mitochondrium überhaupt noch Gene, wo es doch als verwöhnter Parasit in seinem Wirt lebte? Das ist eine gute Frage, besonders wenn man bedenkt, dass jede Zelle einige hundert bis tausend Mitochondrien besitzt und dass jedes Mitochondrium fünf bis zehn DNA-Kopien enthält. Lane hat sich ausführlich mit diesem Problem befasst. Zum Zeitpunkt der Teilung ist die Menge der Mitochondrien pro Zelle eine echte Bürde. Sowohl bei der Teilung der Mitochondrien – der mitochondrialen Fission oder mitochondrialen Biogenese – als auch bei der Zellteilung müssen all diese Mitochondriengene mitkopiert werden. Zudem muss jedes Mitochondrium seinen eigenen Apparat zur Gentranslation sowie proteinbildende Ribosomen aufrechterhalten. Dieser Prozess erscheint für die Nachfahren von Bakterien, die auf kompromissloser Effizienz beruhen, eher ineffizient.
Hinzu kommen potenziell katastrophale Folgen, wenn Mitochondrien mit unterschiedlichem Genom in derselben Zelle vorliegen (zum Beispiel, wenn väterliche Mitochondrien aus der Samenzelle überleben und mit den mütterlichen Mitochondrien aus dem Ei koexistieren – was meist zu einer Fehlgeburt führt). Vermeidbar wäre dies zum Beispiel durch die dauerhafte Übertragung aller Mitochondriengene auf den Zellkern.
Wenig sinnvoll erscheint zudem, dass das exponierte, wehrlose genetische Material in den Mitochondrien unmittelbar neben den Elektronentransportketten liegt, die immer wieder destruktive freie Radikale erzeugen. Diese freien Radikale können die mtDNA schädigen und Mutationen auslösen, was zum Absterben des Mitochondriums (und in der Folge zu diversen Krankheiten einschließlich Krebs) führen kann. Darauf komme ich später noch zurück.
Warum also wurde nicht das gesamte Erbgut der Mitochondrien in den Zellkern übertragen? Wenn diese DNA nach fast zwei Milliarden Jahren Evolution trotz guter und logischer Gegenargumente nach wie vor in den Mitochondrien ruht, muss es einen logischen Grund dafür geben – und das sollte schon ein sehr überzeugender Grund sein.
Ein Grund für die Erhaltung bestimmter Gene scheint darin zu liegen, dass sie die oxidative Phosphorylierung steuern. Das Tempo der oxidativen Phosphorylierung reagiert sehr sensibel auf den jeweiligen Energiebedarf, der oftmals von einer Minute zur anderen schwanken kann, je nachdem, ob wir wach sind oder schlafen, Sport treiben oder sitzen, mit einer Grippe kämpfen, eine Prüfung schreiben, verdauen, dieses Buch lesen oder was auch immer. Bei solchen rasch veränderlichen Szenarien müssen die Mitochondrien die Energieproduktion auf zellulärer Ebene prompt anpassen können, und zudem muss jede Zelle – ob Muskelzelle, Gehirnzelle, weißes Blutkörperchen, Darmzelle oder Leberzelle – individuell reagieren.
Eine geschmeidige Reaktion auf solche abrupten Veränderungen des Energiebedarfs müssen die Mitochondrien unmittelbar vor Ort justieren können, und diese Kontrolle wird über bestimmte Gene in der mtDNA sichergestellt. Die Reaktionen, die in der Elektronentransportkette in der Innenmembran der Mitochondrien ablaufen, müssen auf der Ebene des individuellen Mitochondriums genau reguliert werden. Wenn dieser Prozess aus der Ferne gesteuert werden müsste – über Gene, die fernab im Zellkern stecken –, wäre dies nicht nur ineffizient, sondern die Zelle könnte auf einen abrupt veränderten Energiebedarf auch nicht rasch genug reagieren.
Klingt das so weit einleuchtend? Gut! Dann sollten wir uns mit dem Gesetz von Angebot und Nachfrage befassen, ehe wir genauer überlegen, warum die Mitochondrien noch eigene Gene besitzen. Sie erinnern sich sicher, dass der gesamte Prozess in den Mitochondrien – von den einzelnen Komplexen in der Elektronentransportkette bis hin zur ATP-Erzeugung durch ATPase – wie ein fein abgestimmtes Räderwerk ineinandergreift. Die Geschwindigkeit des einen Rädchens hat Einfluss auf die des nächsten. Bei hohem Energiebedarf fließen die Elektronen rasch die Transportkette hinunter. Die Protonen werden schnell gepumpt, und der Protonengradient steigt zügig an (womit das Protonenreservoir sich füllt). Je steiler der Protonengradient, desto höher wird der Druck, rasch ATP zu bilden, weil die Protonen durch die ATPase gedrängt werden.
Die oxidative Phosphorylierung verwandelt aber auch dann alles ADP in ATP, wenn kein ATP-Bedarf besteht. Da die Zelle das ATP nicht verbraucht (wobei sie es wieder in ADP und Phosphat zerlegen würde), muss die ATPase ihren Dienst mangels Rohmaterial einstellen. Ab diesem Zeitpunkt können die Protonen die ATPase nicht mehr passieren, und das Protonenreservoir wird immer voller. Sobald der Protonengradient einen bestimmten Wert übersteigt, reicht die geringe Energiemenge, die entsteht, wenn die Elektronen über ihre Transportkette rinnen, nicht mehr aus, um gegen dieses starke Gefälle anzupumpen. Das Ausbleiben der Protonenpumpe führt dazu, dass der Elektronenstrom entlang der Kette ins Stocken und schließlich zum Erliegen kommt. Aber keine Sorge, sobald der Energiebedarf wieder steigt, gerät der Kreislauf wieder in Gang, und die Zelle verbraucht etwas ATP (wobei wieder ADP und Phosphat als Ausgangsbasis für die Arbeit der ATPase entsteht). Genau deshalb ist Bewegung so wichtig, denn sie verbraucht ATP. Auch hierzu kommen wir später noch. Es könnte natürlich auch zu wenig Sauerstoff vorliegen, wenn etwa bei einem Schlaganfall die Durchblutung bestimmter Gehirnareale ausbleibt. Ohne ausreichend Sauerstoff können die Elektronen am Ende der Atmungskette nicht abgenommen werden und stauen sich auf, ganz wie bei einem Verkehrsstau. Damit kommt die oxidative Phosphorylierung zum Stillstand. In beiden Situationen können die aufgestauten freien Elektronen austreten und freie Radikale erzeugen.
Neben Angebot und Nachfrage müssen wir jedoch weitere Komponenten der Elektronentransportkette berücksichtigen. Jede Komponente kann entweder reduziert (ein Elektron bekommen) oder oxidiert (ein Elektron abgeben) werden, aber nicht beides gleichzeitig. Wenn Komplex I also bereits ein Elektron bekommen hat, kann er kein weiteres aufnehmen, ehe er das erste an das nächste Carrier-Molekül in der Kette, Ubiquinon, weitergereicht hat. Bis dieses Elektron übergeben ist, stockt die Atmungskette. Wenn umgekehrt Komplex I kein Elektron hat, kann es so lange nichts an Ubiquinon weitergeben, bis es (von NADH) ein Elektron erhalten hat. Die Atmungskette stockt, bis dieses Elektron eingetroffen ist.
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