1 ...7 8 9 11 12 13 ...18 Diese Abfolge von Reduktion und Oxidation, die gemeinhin als Redoxreaktion bekannt ist, gilt in der Medizin als zukunftsweisendes Forschungsgebiet. In jedem Mitochondrium gibt es Tausende von Elektronentransportketten (pro Mitochondrium knapp 10 000, was eine beeindruckende Zahl ist), und die oxidative Phosphorylierung verläuft am reibungslosesten, wenn zwischen oxidierten und reduzierten Transportmolekülen (Carrierproteinen) ein ausgewogenes Verhältnis von 50:50 besteht.
Wenn dieses Gleichgewicht verloren geht, werden nicht nur oxidative Phosphorylierung und Energieproduktion ausgebremst, sondern auch die Mitochondrien massiv geschädigt. Das liegt daran, dass jedes Transportmolekül in der Kette reaktiv ist. Bei normalem Elektronenfluss gibt jeder Carrier seine Elektronen an den nächsten Carrier weiter, der ein etwas höheres Bedürfnis nach diesem Elektron hat als sein Vorgänger. Da die Carrier jedoch nicht gleichzeitig oxidiert und reduziert werden können, ist die Elektronentransportkette in dem Moment blockiert, wenn das folgende Molekül bereits ein Elektron hat. Dann besteht die Möglichkeit, dass dieses Elektron vorzeitig mit Sauerstoff reagiert. Wenn Sauerstoff ein Elektron nicht von Komplex IV (dem letzten Trägermolekül in der Kette), sondern von einem anderen Carrier bekommt, entsteht das giftige freie Radikal Superoxid. Das ist nicht unbedingt schlimm (worauf ich später eingehe). An dieser Stelle sollten wir jedoch bedenken, dass Superoxid anschließend alle möglichen biologischen Moleküle schädigen kann. Und das wollen wir in der Regel nicht. Der Vorgang ließe sich mit Zügen auf einer Bahnstrecke vergleichen: Wenn ein Zug einen bestimmten Bahnhof nicht rechtzeitig verlässt, kann der nächste Zug nicht einfahren. Bestenfalls gerät dann der Bahnverkehr ins Stocken. Falls ein herannahender Zug aber kein Signal erhält, dass der Bahnhof besetzt ist, und nicht früh genug abbremst, kann es leicht zu einem Unfall kommen. Die Waggons entgleisen, und es kommt zu unterschiedlichen Schäden.
Daher sorgt die Erhaltung einer 50:50-Bilanz für die Redoxreaktion nicht nur für einen raschen, effizienten Elektronenfluss entlang der Transportkette, sondern sie minimiert auch das Risiko für die Bildung des freien Radikals Superoxid. Die Erhaltung dieses Gleichgewichts hängt jedoch auch vom Verhältnis der Carriermoleküle in der Elektronentransportkette zueinander ab. Hat ein Mitochondrium beispielsweise jede Menge Komplex I, der ein Elektron von NADH übernommen hat, aber nicht genug Ubiquinon, so jonglieren viele „volle“ Komplex-I-Einheiten mit ihrem Elektron herum, bis dieses irgendwann auf Sauerstoff überspringt. Und wie alles im Körper ist auch die relative Menge aller Komponenten der Elektronentransportkette beständig im Fluss. Alles wird unablässig abgebaut und ersetzt.
Ein radikales Signal: Der positive Einfluss der freien Radikale
Nach diesem umfangreichen Exkurs können wir uns wieder der Antwort auf die ursprüngliche Frage zuwenden: Warum brauchen die Mitochondrien überhaupt noch Gene? Nehmen wir einmal an, in einer Zelle gäbe es 1 000 Mitochondrien. Jedes davon besäße rund 10 000 Elektronentransportketten. Nun hätte eines dieser Mitochondrien nicht genug Komplex IV, das letzte Transportmolekül in der Kette. Daraufhin wird in diesem speziellen Mitochondrium die oxidative Phosphorylierung langsamer, und die Elektronen in der Kette stauen sich. Nun entwischen die Elektronen und bilden freie Superoxidradikale. Damit besteht die Gefahr, dass dieses Mitochondrium irreparabel geschädigt wird. Die logische Lösung wäre, mehr Komplex IV zu codieren. Doch wie soll das Mitochondrium signalisieren, dass es mehr Komplex IV braucht? Das Signal scheinen die freien Radikale selbst zu sein. Sie können zwar großen Schaden anrichten, aber auch die Aktion der redox-sensitiven Transkriptionsfaktoren steuern, die aktiviert werden, sobald Oxidationen durch freie Radikale stattfinden. Diese Transkriptionsfaktoren gehen nun ihrerseits daran, die Genaktivität zu verändern, damit mehr Komplex IV codiert wird.
Nun stellen Sie sich vielleicht die Frage: „Woher weiß die Zelle, dass dieses freie Radikal das Signal ist, dass mehr Komplex IV gebildet werden sollte?“ Schließlich kann auch ein geringer Energiebedarf oder eine Sauerstoffunterversorgung zur Entstehung von freien Radikalen führen, und dann würde die Herstellung neuer Komplexe nicht weiterhelfen. Dieses Wissen gewinnt die Zelle, indem sie die Botschaft des freien Radikals in den entsprechenden Kontext setzt, so wie wir Menschen es in jedem Gespräch vornehmen. Wir können eine Botschaft nur dann richtig interpretieren, wenn noch weitere Informationen vorliegen, in diesem Fall zum Beispiel die ATP-Mengen. Wenn zu wenig Komplex-IV-Einheiten vorhanden sind, geht der ATP-Spiegel zurück (die Elektronentransportkette staut sich, weil die Elektronen zu langsam abfließen). Die erzeugten freien Radikale würden demnach im Einklang mit einem niedrigen ATP-Spiegel so interpretiert werden, dass die Transkriptionsfaktoren die Gene für die Komplex-IV-Produktion aktivieren. Entdeckt die Zelle hingegen einen hohen ATP-Spiegel, so würde der Zuwachs an freien Radikalen eher darauf hindeuten, dass der Protonengradient verringert werden sollte. Dann sollten vielleicht mehr Entkopplungsproteine erzeugt werden, wozu wir später noch kommen.
Nehmen wir nun an, alle Gene säßen im Zellkern. Die Botschaft, dass freie Radikale vorliegen, trifft ein, und der Zellkern bestellt mehr Komplex IV. Dann bindet er diese neuen Proteine an andere Proteine (als Adressaufkleber sozusagen), damit sie wieder in das Mitochondrium gelangen. Ein solches „Adressprotein“ kann den Proteinen jedoch nur mitteilen, dass sie in ein Mitochondrium gehören. Sie würden nicht erfahren, welches spezifische Mitochondrium den neuen Komplex IV benötigt.
Das ist, als ob ich jemandem in einer anderen Stadt ein Päckchen schicke. Ohne die genaue Adresse ist die Chance sehr gering, dass das Päckchen diese Person erreicht. Wenn wir nun berücksichtigen, dass die Mitochondrien sich ständig verändern (sie werden abgebaut, teilen sich durch Fission oder verschmelzen durch Fusion miteinander), wäre dieses System nicht sonderlich effizient – nicht einmal wenn der Kern das frisch konstruierte Protein mit einer konkreten Adresse versehen würde. Denn die Adresse wäre womöglich gar nicht mehr vorhanden.
Damit würden all diese neuen Komplex-IV-Einheiten gleichmäßig über alle 1 000 Mitochondrien in der Zelle verteilt werden. Das Mitochondrium, das sie braucht und welches das ursprüngliche Signal gesendet hat, bekommt nicht annähernd genug Komplex IV. Die übrigen hingegen erhalten zuviel davon (und schicken dem Kern ihrerseits die Botschaft, dass er aufhören soll, noch mehr Komplex IV zu erzeugen). Die Probleme liegen auf der Hand. Die zentrale Botschaft lautet: Wenn die Mitochondrien ihr Schicksal nicht selbst steuern können, hat irgendwann die gesamte Zelle Probleme mit der Energieproduktion.
Betrachten wir nun dasselbe Szenario; diesmal aber liegen die Gene für Komplex IV im Mitochondrium (was der Realität entspricht). Sobald das Signal „freies Radikal“ mehr Komplex IV verlangt, gelangt es ohne Umwege zur mtDNA, die praktischerweise in unmittelbarer Nachbarschaft zum Entstehungsort dieses Signals liegt. Damit kann auch die Reaktion sehr prompt erfolgen. Die lokal gespeicherten Gene weisen die Ribosomen im Mitochondrium an, mehr Komplex IV herzustellen, der dann sofort in die Elektronentransportkette eingepasst wird, den Elektronenstau auflöst und wieder eine effiziente oxidative Phosphorylierung ermöglicht. Umgekehrt bliebe auch die Botschaft, dass jetzt genug Komplex IV vorliegt, im Mitochondrium selbst und würde eine sofortige Reaktion auslösen.
Diese schnelle lokale Reaktion liefe in jedem der über 1 000 Mitochondrien der Zelle ab. Manche bräuchten mehr Komplex I, andere mehr Komplex III, wieder andere eine Entschärfung ihres Protonengradienten. Einerseits ist es also extrem aufwendig für die Zelle, die zehntausendfachen Kopien der mtDNA zu erhalten; andererseits wäre die Alternative (nur eine Kopie im Zellkern) am Ende weitaus kostspieliger und schädlicher.
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