Und wie verhalten sich die Organisationen, die von diesen Menschen gegründet und geleitet wurden? Manche geben sich einen neuen Namen, der alle Assoziationen mit dem Skandal verhindern soll. Andere entfernen sämtliche Bilder und Nennungen der fehlbar gewordenen Leitungspersonen aus dem Internetauftritt und suchen so den Schatten dunkler Vergangenheit zu entkommen. Neue Leiterinnen und Leiter werden eingesetzt. Alle Aufmerksamkeit wird auf das Neue und die Zukunft gelenkt. Das Alte ist vergangen und man wünscht sich nichts mehr, als dass alles neu wird …
Mit Verzögerung zieht die breite Öffentlichkeit nach. Die Bücher der Gefallenen verschwinden auch aus den Regalen der Buchhändler. Eine Zeit lang erscheinen neue, welche die Geschichte noch einmal aufrollen und bisher Unbekanntes zum Besten geben. Er gibt Analysen, Bewertungen, Insiderberichte. Irgendwann verstummen auch diese Stimmen. Das Leben geht weiter, ein nächster Skandal löst den alten ab. Und so werden aus vormals strahlenden, für Segen, Erfolg und Inspiration stehenden Namen stumme Mahnmale der Geschichte. Synonyme für Scheitern, Schuld, Totalversagen.
Wie aber ergeht es denen, die einmal Seite an Seite mit solchen Leitungspersonen gelebt und gearbeitet haben? Ihren Ehepartnerinnen und Ehepartnern, Kindern, Freunden, Mitarbeitenden, Geldgebern? Denjenigen, die durch diese Leiter zum Glauben an Christus gefunden haben? Wir können nur vermuten, wie groß ihr Schmerz und ihr Leid sein müssen. Je mehr sie ihr Vorbild geliebt, geachtet und ihm vertraut haben, umso schmerzlicher muss die plötzliche Konfrontation mit seinen Abgründen sein. Da hat ein Mensch, den sie doch so gut zu kennen glaubten, Dinge getan, die sie ihm oder ihr nie zugetraut hätten.
Dann die Opfer. Sie waren dem Versagen, der Willkür und den Übergriffen dieser Leitungspersonen am meisten ausgesetzt. Sie haben am meisten gelitten und tun es auch dann noch, wenn die Öffentlichkeit sich längst neuen Themen zugewandt hat. Viele werden Monate und Jahre brauchen, um ihre traumatischen Erfahrungen aufzuarbeiten. Um mit den persönlichen und finanziellen Verlusten klarzukommen, die ihnen zugefügt wurden. Um Heilung und Wiederherstellung zu erfahren. Der ihnen zugefügte Schaden wiegt am schwersten.
Wie es uns persönlich geht,
wenn es wieder mal passiert
Es gibt noch eine weitere Gruppe von Betroffenen, die größte von allen: die Frauen und Männer, welche diese Leitungspersonen eher von Weitem kannten, sich aber von ihnen inspirieren ließen. Wir, die beiden Herausgeber dieses Buches, zählen uns zu dieser Gruppe, zu der vielleicht auch Sie als Leserin und Leser gehören. Wir haben die Bücher mancher dieser Führungspersonen gelesen. Wir haben ihren Vorträgen gelauscht und wurden inspiriert. Wir waren Teil ihres internationalen Publikums. Das Scheitern dieser Leitfiguren hat uns kaum traumatisiert, aber es hat uns irritiert und verunsichert. Es hat uns erschreckt und viele Fragen aufgeworfen. Es hat uns der Illusion beraubt, das sei nun endlich eine integre Führungskraft, der man vertrauen könne.
Jede und jeder von uns verarbeitet die Skandalgeschichte einer bis dahin geachteten Führungsperson anders. Das trifft auch auf uns beide zu. Ich (Thomas Härry) kann es am Beispiel der Enthüllungen um Bill Hybels beschreiben. Über viele Jahre hinweg habe ich die Leitungskongresse von Willow Creek besucht und tue es bis heute. Ich habe mehrmals die Gemeinde in Chicago besucht und viel von dieser Arbeit profitiert. Als mich 2018 kurz nach dem Willow Leitungskongress in Dortmund die Nachrichten zu den Vorwürfen gegen Hybels erreichten, wollte ich es zuerst nicht wahrhaben – ein weitverbreitetes Reaktionsmuster bei unerwünschten Ereignissen. Ich ordnete es unter dem Versuch ein, einen erfolgreichen Leiter zu sabotieren, und war zuversichtlich, dass sich die Vorwürfe (Machtmissbrauch, sexuelle Übergriffe, Ausnutzung von Abhängigkeitsverhältnissen, Schaffung einer Angstkultur unter Mitarbeitenden) bald widerlegen lassen würden. Dem war nicht so. Bald war klar, dass hier Folgenschweres und Verwerfliches geschehen war. Es ist wohl so, dass Schuld und Verantwortung aufseiten von Hybels nicht zu leugnen sind. 1So etwas macht mich unendlich traurig und kann mich ein paar Tage lang richtiggehend lähmen. Ich war enttäuscht, auch wütend. Wenn das alles stimmt: Wie kann dieser Leiter so leichtsinnig sein Lebenswerk aufs Spiel setzen? Wie kann er so mit ihm anvertrauten Menschen umgehen? Ich dachte an den Schaden für diese Gemeinde und für die weltweite Tätigkeit für Menschen in Führungsverantwortung. Etwas später erfasste mich ein Stück Resignation und darin der Gedanke: Diese Gemeinde, diese ganze Arbeit, aller internationale Einfluss, wird von der Bildfläche verschwinden – weggefegt wie ein unstabiles Haus nach einem Wirbelsturm. (Gott sei Dank hat sich das, Stand heute, nicht erfüllt!) Dann wieder hatte ich die Menschen vor Augen, die Teil dieser Gemeinde waren: Frauen und Männer, die dank dieser Gemeinde in Chicago das Evangelium gehört und zum ersten Mal verstanden haben. Die sich haben taufen lassen und zu treuen Mitarbeitenden geworden sind. Ich dachte an ihre im Vergleich zu meiner noch viel größeren Enttäuschung. Dachte an die Opfer, an Mitarbeitende im direkten Umfeld von Hybels, die gelitten haben. An seine Familie, seine Kinder. Und da packt mich manchmal noch immer die Wut: Mensch, wie konntest du nur so töricht handeln! Und zugleich weiß ich: Keiner ist gefeit. Ich selber auch nicht.
Mir (Michael Herbst) geht es weitgehend ähnlich. Ich hatte in den 1980er-Jahren in der christlichen Zeitschrift „Schritte“ zum ersten Mal von dieser ungewöhnlichen Gemeinde in einem Vorort von Chicago und ihrem charismatischen Pastor gehört. Im Jahr 2000 war ich zum ersten Mal dort, beim „Summit“, danach noch fünf Male – und jedes Mal fasziniert. Von Hybels, ja, aber fast noch mehr von der Leidenschaft und dem Commitment (und der herzlichen Gastfreundschaft) der „Creeker“ und von ihrem Mut, immer wieder Altes, das einmal so innovativ war (erinnern Sie sich an den Seekers’ Service?), sterben zu lassen, wenn es nicht mehr der Aufgabe dieser Gemeinde gerecht wurde. Alles wurde einem untergeordnet: Religiös schwach oder gar nicht geprägte Menschen sollen lebendige, mündige Christenmenschen werden. Ich schaute den künstlerischen Ausdrucksmitteln mit offenem Mund staunend zu, hörte die Musik, bewunderte den liebevollen und professionellen Einsatz des Care Center und lernte von den Predigern und studierte die klugen Leitungsideen, die Hybels vertrat. Kurze persönliche Begegnungen kamen hinzu. Wenn mich etwas irritierte, dann war es diese fast royale, einsame und schwach kontrollierte Stellung an der Spitze der Gemeinde, die Hybels für sich beanspruchte und von der Gemeinde zugebilligt bekam. Seit 2005 war ich dann selbst Sprecher auf den deutschen Willow Creek Leitungskongressen. Die Willow-Gemeinschaft wurde und blieb ein Stück Familie und geistliche Heimat, vor allem das Team in Gießen und das Netzwerk in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Bleibt! Trotz allem. Denn: Hybels ist nicht Willow. Und doch saß der Schock tief. Die ersten Tage nach dem Bekanntwerden der Vorwürfe ging es meiner Frau und mir wie Thomas Härry: Schockstarre, Kopfschütteln, ungläubiges Staunen, Traurigkeit – und Enttäuschung. Ich habe mir aber nicht erlaubt, alles für bare Münze zu halten, was es an Vorwürfen gab. Die „Unschuldsvermutung“ gilt ja auch für Menschen wie Bill Hybels. Es spricht freilich vieles dafür, dass Bill Hybels Grenzen überschritten und Menschen übergriffig behandelt hat. Seither warte ich, dass er sich erklärt, nicht nur rechtfertigt, dass die Betroffenen ein Wort des Bedauerns, eine Geste der Buße hören. Mich macht auch der Gedanke traurig an die von Willow Enttäuschten, die aus der Gemeinde Ausgewanderten, die am Glauben nach allem, was geschah, Verzweifelten. Denke ich an Bill Hybels, dann gibt es auch (auch!) den Gedanken: Da hat einer ein großes Lebenswerk kurz vor dem Ziel selbst im Blick auf die eigene Person zerstört. Wie tragisch! Allerdings sollte das Bedauern für den mutmaßlichen Grenzüberschreiter nie größer werden als das Mitfühlen mit denen, die Schaden erlitten haben. Willow bleibt ein Stück Heimat, und ich hoffe, bete und wünsche, dass sich die Gemeinde erholt und die durch die Vorwürfe Abgestoßenen eine neue geistliche Gemeinschaft finden.
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