2. Unternehmensorganisation und strafrechtliche Individualverantwortlichkeit
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Bereits seit Jahrzehnten wird das dem Wirtschaftsstrafrecht als Unternehmensstrafrecht typischerweise immanente Spannungsverhältnis zwischen Kollektiv und Individuumthematisiert.[154] Dabei geht es vor allem um die Akzeptanz organisationssoziologischer Erkenntnisse in einem Strafrechtssystem, das traditionell – und in Deutschland noch immer (s. noch Rn. 46) – der Idee der Individualverantwortlichkeit verpflichtet ist. Unter Compliance-Aspekten ist dabei zu beachten, dass die moderne BGH-Rechtsprechung sich an der Zuschreibung individueller strafrechtlicher Verantwortlichkeit auch in Organisationen nicht nur nicht gehindert sieht (s.o. Rn. 30), sondern es ihr zudem gelingt, sogar eine täterschaftliche Verantwortlichkeit – und zwar auf zweierlei Art und Weise (vgl. oben Rn. 30sowie unten Rn. 68 ff.) – zu begründen. Eine notwendigerweise an den tatsächlichen Gegebenheiten ausgerichtete strafrechtliche Compliance-Beratung hat dies – ggf. auch gegen die eigene Überzeugung – zu berücksichtigen.
3. Strafrechtliche Individualverantwortlichkeit
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Eine der wichtigsten Aufgaben erfolgreicher Criminal Compliance stellt die Vermeidung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit von Unternehmensangehörigendar (vgl. dazu Rn. 7, 35). Im Fokus der strafrechtlichen Compliance-Beratung muss daher die Rechtsprechung, insbesondere des BGH, stehen. In der Sache geht es dabei um Zurechnungsfragen: Da es im Unternehmenskontext häufig um die Nichteinhaltung von Standards gehen wird, wird im Mittelpunkt der Compliance-Beratung sicherlich die Verantwortlichkeit wegen der Verwirklichung eines unechten Unterlassungsdelikts stehen. Die Kenntnis der Unterlassungsdogmatik und der Anwendung dieser Grundsätze durch die höchstrichterliche Rechtsprechung ist daher unabdingbare Voraussetzung einer erfolgreichen Compliance-Beratung (ausführlich dazu unten Rn. 73 ff.).
4. Die Bedeutung einer originären Unternehmensstrafbarkeit
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Interessant ist auch die Frage, in welchem Zusammenhangder Problemkreis der Unternehmensstrafbarkeitund Criminal Compliancestehen.[155] Dabei lässt sich zum einen an eine diesbezügliche Erweiterung des Begriffsverständnisses von Criminal Compliance denken.[156] Zum anderen steht umgekehrt die Bedeutung von Criminal Compliance für die Vermeidung originär strafrechtlicher Unternehmenssanktionen in Rede. Insoweit ist die immense Bedeutung von Criminal Compliance auch und gerade für die Vermeidung von Kollektivsanktionen recht eindeutig. Wie etwa die Diskussion in Österreich deutlich macht, geraten dabei die konkreten Voraussetzungen (resp.: deren Vermeidung) der Verbandsverantwortlichkeit in den Fokus, in Österreich also etwa die Frage nach einem Organisationsverschulden i.S.d. § 3 Abs. 3 Nr. 2 VbVG.[157] Einerseits scheint die Bedeutung von Criminal Compliance in solchen Ländern, in denen – anders als derzeit (noch) in Deutschland – eine originäre strafrechtliche Verbandsverantwortlichkeit bereits existiert, also eher noch größer zu sein. Andererseits nimmt die strafrechtliche Compliance-Diskussion in Deutschland dementsprechend verstärkt die existenten Regelungen des OWiG in Bezug.
5. Die Bedeutung der §§ 30, 130 OWiG
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Bereits zu Beginn der strafrechtlichen Compliance-Diskussion war immer wieder die Behauptung zu lesen, insbesondere bei § 130 OWiG handele es sich um eine „zentrale Norm der Criminal Compliance“.[158] Aber auch in aktuellen Kommentierungen findet sich diese Aussage.[159] Diese Einschätzung der Bedeutung der §§ 30 , 130 OWiGwird der Reichweite von Criminal Compliance nicht gerecht. Sie beruht auf einem – mittlerweile überholten ( Rn. 33) – zu restriktiven Verständnis des Begriffs der Criminal Compliance, der sich – in Deutschland wie im Ausland – mittlerweile in rasanter Geschwindigkeit fort- und zu einem deutlich extensiveren Verständnis hinentwickelt hat ( Rn. 34 ff.). Im Übrigen hinterfragt sie die durchaus zweifelhafte Gleichschaltung von Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht nicht.[160] Das ändert freilich nichts daran, dass §§ 30, 130 OWiG (aber eben nur:) einen durchaus bedeutenden Gesichtspunkt im Rahmen von Criminal Compliance darstellen. Aber wie bei der voreiligen Beschränkung der Criminal Compliance auf Maßnahmen zur Korruptionsbekämpfung auch,[161] wird eine solch eingeengte Sichtweise dem vielfältigen und schillernden Phänomen der Criminal Compliance nicht gerecht. Das gilt heute mehr denn je.
6. Die Kollision ökonomischer „best practice“ und strafrechtlicher „ultima ratio“
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Unter Wettbewerbsgesichtspunkten ergriffene „optimale Strafbarkeitsvermeidebemühungen“ laufen nicht nur allzu leicht auf ihr Gegenteil hinaus.[162] Sie laufen auch Gefahr, mit dem Ultima-Ratio-Grundsatzzu kollidieren (s. noch unten Rn. 56). Wenn Strafe die „ultima ratio der Sozialpolitik“[163] ist und Strafrecht das letzte Mittel des Rechtsgüterschutzes[164] darstellt, dann stellt eine, der Wahl des strengsten Maßstabs verpflichtete Criminal Compliance eine bemerkenswerte Abkehrvon diesem Grundsatz dar. Auch die Frage, inwieweit das Strafrecht hiermit Abschied von seiner Konzeption des Rechtsgüterschutzes nimmt,[165] wird bereits mit guten Gründen gestellt.
7. Die Delegation hoheitlicher Aufgaben auf Private
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Eine der grundsätzlichsten Fragen wirft mit der Delegation hoheitlicher Aufgaben auf Private ein Umstand auf, der von vielen als systematische Erklärungshypothese[166] für die fulminante Entwicklung von Criminal Compliance formuliert wird (s.o. Rn. 41). Im hier interessierenden Zusammenhang geht es um einen Teilaspekt des umfänglichen Fragenkomplexes der „ Privatisierung im Strafrecht“.[167] Dabei ist es durchaus bemerkenswert, dass der Staat die Verhältnisse, deren Bewältigung ihm in einer komplexen Welt offensichtlich immer weniger unmittelbar selbst möglich ist, durch ein seinerseits stetig undurchschaubarer werdendes Strafrecht letztlich selbst geschaffen hat. Realistisch betrachtet wird die Notwendigkeit, zur Bewältigung komplexer Verfahren insbesondere des Unternehmensstrafrechts auf die Unterstützung Privater zurückgreifen zu müssen, in Zukunft eher noch weiter zunehmen. Es lässt sich leicht absehen, dass mit dem Phänomen der Criminal Compliance nunmehr das bereits seit Jahren angekratzte Selbstverständnis eines staatlichen Strafrechtsendgültig ins Wankengerät.[168] Es steht zu erwarten, dass die etwa aus dem Umweltstrafrecht bereits seit langem bekannte Entwicklung der Verschmelzung zivil-, verwaltungs- und strafrechtlicher Unternehmenskontrollesich mit all ihren Folgeproblemen in weite Bereiche des Wirtschafts- und Unternehmensstrafrechts hinein erstrecken wird.[169] Wie die Erfahrung lehrt, ist es dann nur noch eine Frage der Zeit, bis für strafrechtliche Spezialbereiche entwickelte (vermeintliche) Sonderlösungen auch in das Kernstrafrecht zurückwirken.[170] Insofern wird das Phänomen der Criminal Compliance in absehbarer Zeit seine Spuren (nicht nur) im Strafrecht hinterlassen, vielleicht gar zu einem bislang unbekannten Hybridsystemführen.
8. Pflicht zur (Criminal) Compliance?
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Von einem Missverständnisgeprägt ist die seit Beginn der Compliance-Diskussion vehement geführte Auseinandersetzung um die Frage nach einer „Compliance-Pflicht“.[171] Eine rechtliche generelle Pflicht zur Einrichtung eines Compliance-Management-Systems gibt es nicht.[172] Und erst recht existiert keine unmittelbar strafrechtlich sanktionierte Pflichtzur Compliance. Der über diese Frage herrschende Streit ist müßig, da es mittlerweile längst einen faktischen Compliance-Zwang gibt.[173] Immerhin sollte damit klar sein, dass eine strafrechtliche Verantwortlichkeit allein an das Unterlassen der Einrichtung eines Compliance-Systems bzw. der Vornahme einzelner, konkreter Compliance-Maßnahmen nicht geknüpft werden kann. Das schließt freilich die strafrechtliche Verantwortung für die Vornahme einzelner konkreter sorgfaltswidriger bzw. das Unterlassen einzelner gebotener Handlungen nicht aus. Relevantwerden kann ein existierendes – bzw. nicht existierendes – Compliance-System aber insbesondere in strafverfahrensrechtlicher Hinsicht. Das betrifft aber die andere Frage nach der Berücksichtigungsfähigkeit von Compliance-Maßnahmen (siehe dazu Rn. 31, 35). In der Sache ist zwischen der Pflicht zur Einrichtung eines Compliance-Management-Systems und der Pflicht zur Vornahme konkreter Handlungen im Rahmen von Criminal Compliance zu unterscheiden.[174] Stets jedoch kann es eine rechtliche Verpflichtungin einem rechtsstaatlichen System nur als Ausfluss existierender Rechtsnormen, niemals hingegen generell und losgelöst von konsentierten Rechtssätzen geben. Zwar ist es insoweit nicht erforderlich, dass jede Pflicht in einer einzigen positiv-rechtlichen Vorschrift explizit als Imperativ formuliert ist. Allerdings muss sich stets jeweils nachvollziehbar ableiten lassen, welches Verhalten der Gesetzgeber von welchem Normadressaten konkret erwartet. Eine derartig eindeutige Verhaltensanweisung an jegliche Art von Organisation „zur Compliance“ existiertaber nicht. Richtig ist und frühzeitig absehbar war aber, dass sich in konkreten Rechtsvorschriften zunehmend Verhaltensanweisungen mit Compliance-Bezug finden.[175] Daher stellt es auch nicht unbedingt eine juristische Sensation dar, wenn das LG München I im sog. „ Siemens/Neubürger“-Urteil[176] – in Anbindung an die konkreten Rechtsnormen der §§ 76 Abs. 1, 93 Abs. 1 S. 1 AktG – aus der Legalitätspflicht des Vorstandes die Pflicht zur Einrichtung eines Überwachungssystems ableitet. Das heißt: Aus einzelnen Rechtsvorschriftenkönnen durchaus konkrete Compliance-Pflichtenfolgen. Unter Berücksichtigung des oben ( Rn. 36) Gesagten – Aufgabe der Beschränkung auf wirtschaftsstrafrechtliche Sachverhalte – bedeutet das aber auch: Selbst aus kernstrafrechtlichen Straftatbeständen wie etwa §§ 212 , 223 StGBkönnen einzelne Compliance-Pflichten, mitunter gar auch Pflichten zur Einführung eines Compliance-Management-Systems, folgen.
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