IV. Bemühungen um eine theoretische Fundierung des Phänomens der Criminal Compliance
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Naturgemäß noch in ihren ersten Ansätzen stecken die theoretischen Erklärungsversuchedes Phänomens der Criminal Compliance.[125] Dabei werden im Wesentlichen fünf Zusammenhänge diskutiert, die nach hier vertretener Ansicht freilich nicht – wie dies zuweilen behauptet wird[126] – unverbunden nebeneinander stehen bzw. als singuläre Erklärungsansätze zu verstehen sind. Vielmehr lässt Criminal Compliance sich nur unter Fruchtbarmachung sämtlicher dieser Erklärungsversuche begreifen.[127] Bei den bislang diskutierten Zusammenhängen geht es also um die kumulativen Entstehungsbedingungendes Phänomens der Criminal Compliance. Es sind dies das sog. Risikostrafrecht, die sog. Divisionalisierung des Strafrechts, die fortschreitende Entwicklung von der Fremd- zur (regulierten) Selbstregulierung, der Globalisierungsaspekt sowie die ökonomische Motivation von Compliance. Dabei wird das Konzept des Risikostrafrechtsgleich in zweifacher Hinsicht als Entstehungsbedingung von Criminal Compliance bemüht: Zum einen wird in Criminal Compliance das adäquate Mittel zur Minimierung spezifischer Risikopotentiale der modernen Risikogesellschaft und dementsprechend die spezifische Reaktion auf diese erblickt.[128] Zum anderen stellt Criminal Compliance auch eine Reaktion auf ein zunehmend hypertrophes Strafrechtdar.[129] Dieses ist auch insoweit Risikostrafrecht, als es riskantes Strafrechtist.[130] Criminal Compliance erscheint insoweit als die logische Folge und Kehrseite einer in zeitlicher wie inhaltlicher Hinsicht immer weitergehenden Extension der Kriminalitätsbekämpfung: Je früher die „Bekämpfung“ häufig nur noch diffus zu benennender Rechtsgutsbeeinträchtigungen einsetzt und je intensiver sie stattfindet, desto mehr steigt auch das Bedürfnis bei den potenziell Betroffenen, möglichst frühzeitig präventive Selbstschutzmaßnahmen zu ergreifen.[131] Wo auf der Seite des Normgebers die Sanktionierungsbedürfnisse und -möglichkeiten bloßer Risikoerhöhung immer weiter zunehmen, steigt auf der Seite des Normadressaten naturgemäß der Drang zur Sanktionsprävention durch Risikoverringerung.[132] In jüngster Zeit kontrovers diskutiert wird auch der Zusammenhang der sog. Divisionalisierung des Strafrechtsmit dem Phänomen der Criminal Compliance. Mit der Beschreibung der Entwicklung modernen Strafrechts als Divisionalisierung durch Diversifizierung[133] ist die zunehmende Herausbildung eigenständiger Subkategorien des Strafrechts gemeint, die sich als Teilbereiche eines traditionell (vermeintlich) homogenen Strafrechts in Akzessorietät zu einer immer komplexer werdenden Wirklichkeit heterogen ausformen und immer weniger einheitlichen dogmatischen Regeln gehorchen.[134] Hierzu gehört insbesondere auch das Wirtschaftsstrafrecht.[135] Ausdruck der sich darin manifestierenden Überforderung des Strafrechtsist auch die Unbestimmtheit des nebulösen Bezugsgegenstandes von Criminal Compliance (vgl. Rn. 7, 36). Dem aus dieser Unbestimmtheit resultierenden Strafbarkeitsrisiko wollen die beteiligten Akteure sich offenbar nicht länger tatenlos aussetzen.[136] Zunehmend vertreten wird in jüngerer Zeit die Auffassung, dass Criminal Compliance eine Konsequenz der jenseits des Strafrechts schon länger bekannten Entwicklung von der Etatisierung zur Privatisierung[137] darstellt.[138] Auch diese Verlagerung traditionell hoheitlicher Aufgaben auf Private – hier: vom Staat auf die Unternehmen – stellt eine Folge auch der Hypertrophie des Rechts dar.[139] Mit der zunehmenden Ausdehnung und immer weiter fortschreitenden Spezifizierung des Strafrechts korreliert nämlich in durchaus paradoxer Weise die zunehmende Unfähigkeit des Staates, selbst für die Einhaltung dieses Rechts zu sorgen.[140] Die fortschreitende Entwicklung von der staatlichen Regulierung zur(nur noch) staatlich regulierten Selbstregulierung[141] stellt nicht nur eine weitere Parallele zur Situation in den USA (vgl. Rn. 18 ff.) dar, sondern spiegelt auch die in Deutschland wachsende Annäherung des Strafrechts an das Zivil- und Öffentliche Recht[142] wider. Dieser Aspekt kann kaum hoch genug eingeschätzt werden und wird von manchen nicht zu Unrecht bereits als Wetterzeichen einer neuen Strafrechtswissenschaft angesehen.[143] Criminal Compliance ist aber durchaus auch Ausdruck eines zunehmend globalisierten Strafrechts,[144] dessen Auswirkungen auf die nationale Rechtswirklichkeit nicht mehr zu übersehen sind.[145] Nicht an letzter Stelle dient als Erklärungsansatz der Entwicklung von Criminal Compliance freilich auch die ökonomische Motivation. Wenn Compliance-Maßnahmen grundsätzlich als Instrument des Wettbewerbs eingesetzt werden, liegt der Schluss nicht fern, dass auch und gerade kriminalitätsbezogene Compliance den Unternehmenswert steigern soll.[146]
V. Materielle und materiell-rechtliche Grundfragen der Criminal Compliance
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In der Diskussion um Criminal Compliance haben sich mittlerweile einige Schwerpunkte herausgeschält, die hier[147] nur in einem kurzen Überblick vorgestellt werden können:
1. Vom Nutzen und Nachteil der Criminal Compliance
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Berücksichtigt man zunächst die Ziele, die ein Unternehmenmit Criminal Compliance verfolgt ( Rn. 35), so wird man einräumen müssen, dass kriminalitätsbezogene Compliance unter dem Gesichtspunkt der Reputationsmaximierung ( Rn. 38) – und damit im ökonomischen Sinne – sich für das Unternehmen auszahlt.[148] Das Ziel der repressiven Verantwortlichkeitsvermeidung (s.o. Rn. 35), wird als Aspekt der Criminal Compliance in Zukunft sicher stark an Bedeutung gewinnen. Dann sind hiermit ganz grundlegende Fragen nach dem Verständnis des Verhältnisses von Staat und Bürger verknüpft (vgl. noch unten Rn. 49). Primär strafrechtstheoretische und kriminologische Fragen stellen sich bei der Beurteilung der Steuerungsfähigkeit[149] von Compliance und Strafrecht.[150] Insbesondere unter kriminologischem Blickwinkel existiert hier noch immenser Forschungsbedarf.[151] Berücksichtigt man die Ziele, die der Staatim Rahmen von Criminal Compliance verfolgt (s.o. Rn. 35), so scheint Criminal Compliance insoweit eher eine den Realitäten geschuldete Notwendigkeit darzustellen. Wenn der Staat originär (?) hoheitliche Aufgaben auf Private überträgt, so führt dies freilich zu Vor- und Nachteilen auf allen Seiten. Vorteile für den Staat bestehen zunächst deshalb, weil nur mit der Übertragung staatlicher Befugnisse auf die betreffenden Wirtschaftsunternehmen die Funktionsfähigkeit des Strafjustizsystems überhaupt gewährleistet werden kann. Auch im Hinblick auf die Einhaltung der Anforderungen rechtlicher Standards ist der Staat weniger eingeschränkt (vgl. bereits Rn. 35). Die Nachteile liegen auf der Hand: Zum einen gibt der Staat letztlich sein Strafverfolgungsmonopol aus der Hand. Zum anderen droht – für die beteiligten Unternehmen, aber auch für das traditionelle Strafrechtsmodell insgesamt – eine Hybridisierung des Verfahrensrechts. Auch die Befürchtung, dass ein Unternehmen etwa im Rahmen interner Untersuchungen nicht mit derselben Disposition ermittelt wie ein staatliches Ermittlungsorgan, lässt sich kaum von der Hand weisen. Davon zu unterscheiden sind die bislang schon gesehenen Gefahren der strafbarkeitskonstituierenden Wirkungder Criminal Compliance.[152] Die unterschiedlichsten Strafbarkeitsrisiken durch Criminal Compliance sind vielfältig und zeichnen sich erst langsam ab.[153] Die weitere wissenschaftliche Diskussion, insbesondere aber die in ihren Reaktionszeiten viel schnellere Praxis werden zeigen müssen, ob Criminal Compliance diesen Lackmustest besteht (siehe auch bereits Rn. 37a.E. und noch Rn. 83 f.).
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