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Ob die lange Zeit deutliche Zunahme der Erfassungen in der PKS einen tatsächlichen Anstieg der Wirtschaftskorruption widerspiegelt (zuletzt allerdings wieder sinkende Zahlen), ist aber in hohem Maße ungewiss.[35] Das Dunkelfeld dürfte ein beträchtliches Ausmaß haben.[36] Immerhin ist davon auszugehen, dass der Wechsel von einem absoluten zu einem relativen Antragsdelikt durch das KorrBekG 1997 mit einer vermehrten Strafverfolgung einhergeht.[37] Denn das Interesse der betroffenen Unternehmen, einen Strafantrag zu stellen, war jedenfalls in der Vergangenheit häufig gering, da die Unternehmen – selbst wenn sie einen Großteil des Schadens tragen[38] – die mit einem Strafverfahren verbundenen negativen Folgen (Sorge vor Imageschäden, Offenlegung interner Betriebsvorgänge, Selbstbezichtigungsgefahr) fürchteten.[39] Im Rahmen verstärkter Complianceanstrengungen mag sich hier aber ein Wandel vollziehen.[40]
II. Europäischer und internationaler Rechtsrahmen
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Auf der Ebene des internationalen Rechts und des Unionsrechts existieren zahlreiche Vorschriften, die den nationalen Gesetzgeber zur strafrechtlichen Bekämpfung von Korruption verpflichten, wobei sich die meisten dieser Rechtsakte allerdings nur mit der Amtsträgerkorruption befassen. Spezifische Vorgaben zur Pönalisierung von Wirtschafts korruption finden sich auf unionsrechtlicher Ebene lediglich in dem EU-Rahmenbeschluss 2003/568/JI v. 22.7.2003zur Bekämpfung der Korruption im privaten Sektor.[41] Im internationalen Recht sind entsprechende Regelungen in Art. 7 und 8 des Strafrechtsübereinkommens des Europarats v. 27.1.1999(ETS Nr. 173)[42] sowie in Art. 21 der (unverbindlichen[43]) UN-Konvention gegen Korruption v. 31.10.2003enthalten, wobei jedoch bisher nur die UN-Konvention von der Bundesrepublik Deutschland ratifiziert wurde.[44] Die drei genannten Rechtsakteenthalten weitgehend gleich lautende Modelltatbestände für die strafrechtliche Erfassung von Wirtschaftskorruption, denen das deutsche Recht mit § 299 StGB mittlerweile größtenteils bereits entspricht.[45]
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Allerdings ergibt sich nach wohl h.A. aus Art. 2 Abs. 1 Rb 2003/568/JI[46] für den deutschen Gesetzgeber die Pflicht, eine Strafbarkeit auch für Fälle vorzusehen, in denen eine Korruptionshandlung darauf abzielt, dass jemand im Austausch für einen Vorteil Pflichten verletzt, die ihm gegenüber seinem Arbeit- bzw. Auftraggeber obliegen.[47] Diesem sog. „Geschäftsherrenmodell“entsprach § 299 StGB in seiner bis zum 26.11.2015 geltenden Fassung nicht, woraus sich bei näherer Betrachtung allerdings kein unionsrechtswidriger Zustand ergab, weil Art. 2 Abs. 3 Rb 2003/568/JI ausdrücklich vorsieht, dass ein jeder Mitgliedstaat erklären kann, die Bestrafung von Wirtschaftskorruption auf Handlungen zu beschränken, „die im Zusammenhang mit der Beschaffung von Waren oder gewerblichen Leistungen eine Wettbewerbsverzerrung zur Folge haben oder haben können“. Eine solche Beschränkungserklärunghat die Bundesrepublik Deutschland abgegeben.[48] Art. 2 Abs. 4 Rb 2003/568/JI sieht jedoch vor, dass Beschränkungserklärungen nach Abs. 3 nur bis zum 22.7.2010 gelten, wenn die Geltungsdauer nicht nach Abs. 5 durch den Rat der Europäischen Union verlängert wird.[49] Aus dem Umstand, dass eine solche Verlängerung unterblieben ist, wird vielfach abgeleitet, der deutsche Gesetzgeber sei nunmehr zur Einführung des „Geschäftsherrenmodells“ gezwungen gewesen.[50]
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Dieser Auffassung ist insb. Schünemann entgegengetreten: Ein im Rat der europäischen Union durch Minister beschlossener Rahmenbeschluss vermöge den deutschen Strafgesetzgeber nicht zu binden, weil darin eine Überantwortung legislativer Gewalt auf Angehörige der Gubernative liege, die gegen das Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip verstoße. Weil diese Prinzipien von der Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG erfasst werden, sei die Integrationsgrenze des Art. 23 Abs. 1 S. 3 GGerreicht, die einer Verbindlichkeit des Art. 2 Abs. 1 Rb 2003/568/JI entgegen stehe.[51]
Der am 1.12.2009 in Kraft getretene Vertrag von Lissabonhat die hinter Schünemanns Ansatz steckende Kritik an der mangelnden demokratischen Legitimation der EU-Rechtssetzungsorgane zumindest teilweise aufgegriffen: Insb. darf die Union dem nationalen Gesetzgeber strafrechtliche Verpflichtungen gem. Art. 83 Abs. 1 AEUVnur noch im Wege des ordentlichen Gesetzgebungsverfahren gem. der Artt. 289 ff. AEUV, d.h. unter Beteiligung des demokratisch legitimierte(re)n EU-Parlaments auferlegen. Zudem sieht Art. 83 Abs. 3 AEUV ein sog. „Notbremseverfahren“vor, mit dem ein Mitgliedstaat die Umsetzung strafrechtlicher Vorgaben verweigern kann, soweit er dadurch grundlegende Aspekte seiner nationalen Strafrechtsordnung verletzt sieht.
Zwar haben die Mitgliedstaaten sich ausweislich von Art. 9 S. 1 des 36. Protokolls zum Vertrag von Lissabondarüber geeinigt, dass bereits bestehende Rahmenbeschlüsse auch nach dem Inkrafttreten des Lissabon-Vertrages fortgelten sollen.[52] Trotzdem erscheint es zweifelhaft, dass der Rat der Europäischen Union es im Vorfeld des Fristablaufs i.S.v. Art. 2 Abs. 4 Rb 2003/568/JI vermocht haben soll, durch ein bloßes Unterlassen eines Verlängerungsbeschlusses gem. Art. 2 Abs. 5 Rb 2003/568/JI die Mitgliedstaaten zu einer Strafrechtsverschärfung zu verpflichten, die noch über die vor dem 1.12.2009 geltende Rechtslage hinausgeht, ohne dabei an die Einschränkungen des Art. 83 AEUV gebunden zu sein.[53]
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Selbst bei Annahme einer Pflicht zur Umsetzung von Art. 2 Abs. 1 Rb 2003/568/JI ist jedenfalls zunächst sorgfältig zu ermitteln, welche Zielvorgabe der Norm konkret zu entnehmen ist.[54] Bei dieser Auslegung von Art. 2 Abs. 1 Rb 2003/568/JI ist nicht zuletzt das Unionsprimärrecht – insb. der unionsrechtliche Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gem. Art. 5 Abs. 4 UA 2 EUV, Art. 49 Abs. 3 GRCh – zu beachten, an dem sich Rb 2003/568/JI messen lassen muss.[55] Ein „Geschäftsherrenmodell“, nachdem jede Pflichtverletzung gegenüber dem Prinzipal zu einer Strafbarkeit führt, wäre aber auch aus unionsrechtlicher Perspektive unverhältnismäßig.[56] Schon vor diesem Hintergrund ist eine unionsprimärrechtskonforme einschränkende Auslegung[57] von Art. 2 Abs. 1 Rb 2003/568/JI angezeigt. Dieselbe Schlussfolgerung ließe sich (ggf. – dazu mehr in Rn. 83) aus einer Betrachtung des Telosdes Rahmenbeschlusses ziehen, der ausweislich des 9. Erwägungsgrundes auf den Schutz überindividueller Interessen („Gefährdung der Rechtstreue der Gesellschaft“; „Wettbewerbsverzerrung“; „Hemmung gesunder wirtschaftlicher Entwicklung“) gerichtet ist und gerade nicht das spezifische – möglicherweise völlig willkürliche[58] – Loyalitätsinteresse eines einzelnen Prinzipals erfasst.[59] Im Ergebnis kann Art. 2 Abs. 1 Rb 2003/568/JI also höchstens die Pflicht zur Einführung eines eingeschränkten „Geschäftsherrenmodells“entnommen werden.[60]
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Die geltende Beschränkung des § 299 StGB auf den „Bezug von Waren oder Dienstleistungen“ ist mit Art. 2 Abs. 1 Rb 2003/568/JI (unabhängig von dessen Verbindlichkeit) nicht vereinbar, da diese Vorschrift den weiter gefassten Begriff der „Geschäftsvorgänge“ verwendet, der auch Situationen außerhalb von Bezugsvorgängeneinbezieht (z.B. Verrat von Geschäftsgeheimnissen im Austausch gegen einen Vorteil).[61] Auf Grund des in Art. 49 GRC verankerten Bestimmtheitsgebots könnte dies jedoch allenfalls durch den Gesetzgeber und nicht durch eine extensive Auslegung des Begriffs der „Waren und Dienstleistungen“ korrigiert werden.[62] Die Entscheidung des Gesetzgebers, den Geschäftsinhabervom Täterkreis des § 299 StGB auszunehmen,[63] ist dagegen ebenso rahmenbeschlusskonform[64] wie der Umstand, dass Bestechungshandlungen von bzw. gegenüber Bediensteten und Beauftragten von Privatpersonen de lege lata nicht strafbar sind.[65]
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