178
Obwohl die Vorschrift „das Fehlen einer Duldung“ nicht explizit erwähnt, ist dieses Tatbestandsmerkmal in Anlehnung an die frühere Rechtslage (vgl. § 92 Abs. 1 Nr. 1 AuslG a.F.) auch weiterhin erforderlich[7].
Hinweis
Wird die Duldung infolge eines kollusiven Zusammenwirkens zwischen dem Sachbearbeiter der Ausländerbehörde und dem Antragssteller erteilt, vermag diese nach Ansicht des BGH[8] keine rechtfertigende Wirkung zu entfalten.
179
Die Strafbarkeit entfällt, sofern der Ausländer von der Pflicht zum Besitz eines Aufenthaltstitels befreit ist. Entsprechende Befreiungstatbestände sind u.a. in §§ 15 ff. AufenthV, Art. 1 EU-VisumVO sowie Art. 20 Abs. 1 SDÜ geregelt; danach kann z.B. das Erfordernis eines Aufenthaltstitels bei Kurzaufenthalten von bis zu drei Monaten entfallen (vgl. Art. 1 Abs. 2 EU-VisumVO). Entfällt die Befreiung – z. B. bei Aufnahme einer Erwerbstätigkeit (vgl. §§ 2 Abs. 2 AufenthG; 17 Abs. 1 AufenthV)[9] –, wird der Aufenthalt genehmigungspflichtig; der Ausländer macht sich in diesen Fällen jedoch erst strafbar, wenn die Ausreisepflicht (§ 50 AufenthG) vollziehbar ist.[10]
180
Greift die Fiktionswirkung des § 81 Abs. 3, 4 AufenthG ein, entfällt die Strafbarkeit;[11] da einer teleologischen Reduktion des seinem Wortlaut nach weitreichenden § 81 Abs. 4 AufenthG – anders als im Verwaltungsrecht – Art. 103 Abs. 2 GG entgegensteht, kann die Fortgeltungsfiktion nicht zum Nachteil des Beschuldigten eingeschränkt werden, so dass diese im Strafverfahren auch dann eingreift, wenn ein Verlängerungsantrag erst nach Ablauf des bestehenden Aufenthaltstitels gestellt wird.[12]
181
Lange umstritten war die Frage, ob ein Verstoß gegen § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG vorliegt, wenn der Ausländer den räumlichen Geltungsbereich der ihm erteilten Duldung überschreitet.
Zum Teil wurde dies unter Hinweis auf den beschränkten Geltungsbereich der Duldung (vgl. § 56 Abs. 3 AuslG a.F.) angenommen.[13] Dem war der BGH[14] zu Recht entgegengetreten, da die Strafbarkeit gemäß § 92 Abs. 1 Nr. 1 AuslG a.F. ihrem Wortlaut nach das gänzliche Fehlen der Duldung voraussetzte, d.h. nicht an die Missachtung von Nebenbestimmungen anknüpfte; durch die Neuregelung des § 95 Abs. 1 Nr. 6a, 7 AufenthG (vgl. dort) ist dieser Meinungsstreit jedoch hinfällig geworden, da nunmehr klargestellt ist, dass der wiederholte Verstoß gegen eine räumliche Beschränkung gem. § 61 Abs. 1 AufenthG unter Strafe gestellt ist.
182
Unverändert gilt dagegen die alte Rechtslage bzgl. der Frage fort, ob die Strafbarkeit entfällt, sofern ein Aufenthaltstitel oder Duldung hätte erteilt werden können; wurde dies durch die bislang h.M.[15] abgelehnt, ist dem das BVerfG[16] in einer neueren Entscheidung nicht gefolgt.
Komme die Behörde ihrer bestehenden Verpflichtung zur Erteilung der Duldung nicht bzw. verspätet nach, bedeute die strafrechtliche Verurteilung eine Vertiefung der gesetzwidrigen Praxis. Letztlich würde entgegen den Grundsätzen des im Strafrecht geltenden Schuldprinzips die jeweilige Ausländerbehörde über die strafrechtliche Verurteilung entscheiden. Die Strafgerichte seien daher von Amts wegen gehalten, selbständig zu prüfen, ob die gesetzlichen Voraussetzungen für die Erteilung einer ausländerrechtlichen Duldung im Tatzeitraum gegeben waren. Lagen diese Voraussetzungen vor, scheide eine Strafbarkeit aus. Der Ausländer bleibt jedoch strafbar, wenn die Ursache der Untätigkeit allein in seinen Verantwortungsbereich fällt, weil er z.B. abgetaucht ist oder den Kontakt zur Ausländerbehörde meidet.[17]
Hinweis
Da sowohl § 95 I Nr. 2 AufenthG als auch § 95 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG das Fehlen einer Duldung voraussetzt, ist die vorgenannte Rechtsprechung des BVerfG – nach Ansicht des OLG Frankfurt[18] – auch auf diese Tatbestände zu übertragen.
Befindet sich der Ausländer in Haft, liegt es nach Ansicht der Rechtsprechung „äußerst nahe“ das die Ausländerbehörde hiervon Kenntnis erhält, d.h. ihrer Verpflichtung zur Erteilung der Duldung schuldhaft nicht nachgekommen ist, weshalb sich das Urteil hierzu erklären muss.[19]
183
Macht der Ausländer unwiderlegt geltend, dass ihm im Falle der Rückkehr in sein Heimatland erhebliche Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit drohe, kann der unerlaubte Aufenthalt gemäß § 34 StGB gerechtfertigt sein.[20]
Hinweis
Nach Ansicht des LG Hamburg[21] kann der Strafbarkeit Art. 6 GG als „ungeschriebener Strafausschließungsgrund“ entgegenstehen, wenn der Ausländer illegal nach Deutschland einreist oder sich illegal im Bundesgebiet aufhält, um die elterliche Sorge betreffend seiner Kinder auszuüben.
184
Ist der Ausländer weder im Besitz eines Aufenthaltstitels noch einer Duldung, entfällt gleichwohl die Strafbarkeit gem. § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG, wenn die Ausländerbehörde im Rahmen des gerichtlichen Verfahrens zugesichert hat, die Abschiebung bis zur Entscheidung des Gerichts auszusetzen; aus der Garantie effektiven Rechtsschutzes folgt, dass dieser nicht durch Strafdrohungen unterlaufen werden darf, so dass § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG im Fall einer behördlichen Zusicherung verfassungskonform, d.h. einschränkend auszulegen ist.[22]
185
Die früher vorherrschende Rechtsprechung[23], wonach eine strafbare Beihilfe zum illegalen Aufenthalt regelmäßig dann nicht vorliegen soll, wenn der Täter zur Fortsetzung des illegalen Verbleibs fest entschlossen ist, hat jüngst eine erhebliche Einschränkung erfahren; eine strafbare Beihilfe soll danach bereits dann vorliegen, wenn die gewährte Hilfe – z.B. Gewährung von Unterkunft und Verpflegung – die Haupttat, sprich den unerlaubten Aufenthalt, fördert.[24] Wird mit dem Handeln allein die Herstellung einer Lebensgemeinschaft bezweckt, ist nach zutreffender Ansicht eine Beihilfestrafbarkeit nicht gegeben.[25]
186
Im Fall der Verurteilung muss aus dem Urteil ersichtlich sein, wie lange sich der Angeklagte unerlaubt im Bundesgebiet aufgehalten hat; andernfalls unterliegt das Urteil mangels ausreichend festgestelltem Schuldumfang der Aufhebung.[26]
[1]
RL 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.12.2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger, ABlEU Nr. L 348 v. 24.12.2008, S. 98.
[2]
Ausführlich MK -Gericke § 95 Rn. 29 ff.
[3]
OLG Hamburg NStZ-RR 2012, 219/220; KG NStZ-RR 2012, 347/348.
[4]
Hörich/Bergmann NJW 2012, 3339, 3340; kritisch auch Kretschmer NStZ 2013, 570, 571/572.
[5]
KG NStZ-RR 2012, 347, 348.
[6]
S. KG NStZ-RR 2012, 347, 348.
[7]
Vgl. Bergmann/Dienelt- Winkelmann § 95 AufenthG Rn. 46.
[8]
BGH NJW 2016, 419, 420.
[9]
Vgl. zur Frage der Erwerbstätigkeit im internationalen Speditionsverkehr BayObLG NStZ-RR 2002, 342 f.; BayObLG NStZ-RR 2004, 181 f.
[10]
GK-AufenthG- Mosbacher § 95 AufenthG Rn. 53.
[11]
Erbs/Kohlhaas- Senge § 95 AufenthG Rn. 1.
[12]
OLG Nürnberg StV 2013, 311/312.
[13]
BayObLG MDR 1995, 627.
[14]
BGH NStZ 1997, 444/445 m. Anm. Lutz; so nun auch BVerfG StV 2002, 300 f.
[15]
KG StV 1999, 95, 96; KG NStZ-RR 2002, 220/221; vgl. auch GK-AufenthG- Mosbacher § 95 AufenthG Rn. 69 ff.; a.A. AG Tiergarten StV 1999, 260, 261.
[16]
BVerfG DVBl. 2003, 662, 664; so nun auch LG Freiburg StV 2005, 28/29; vgl. aber auch BGH StV 2005, 24, 25, wonach eine Strafbarkeit gegeben ist, sofern der Ausländer untertaucht und aus diesem Grunde eine Duldung nicht erteilt werden kann.
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