(6) In den Fällen des Absatzes 1 Nr. 2 und 3 steht einem Handeln ohne erforderlichen Aufenthaltstitel ein Handeln auf Grund eines durch Drohung, Bestechung oder Kollusion erwirkten oder durch unrichtige oder unvollständige Angaben erschlichenen Aufenthaltstitels gleich.
168
Taugliche Täter i.S.d. § 95 Abs. 1, 2 Nr. 1 AufenthG können nur Ausländer sein, auf die die Vorschriften des AufenthG Anwendung finden;[1] andere Personen können nur als Teilnehmer bestraft werden, weshalb stets zu prüfen ist, ob der Ausländer zu dem in § 1 AufenthG genannten Personenkreis gehört. Zu nennen ist insoweit insbesondere § 1 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG; danach findet das AufenthG keine Anwendung, wenn der Ausländer nach Europäischem Gemeinschaftsrecht Freizügigkeit genießt und durch Gesetz nichts anderes bestimmt ist. Eine entsprechende Regelung enthält § 11 FreizügG/EU, welche die Straftatbestände des AufenthG in weiten Teilen für anwendbar erklärt. Ausnahmsweise können auch Deutsche[2] täterschaftlich handeln, § 95 Abs. 2 Nr. 2 1. Alt. AufenthG findet auch auf diese Anwendung. Ändert sich aufgrund des Beitritts zur Europäischen Union der persönliche Anwendungsbereich des betroffenen Ausländers, soll die Rechtslage zum Zeitpunkt der Tatbegehung entscheidend sein; § 2 Abs. 3 StGB findet – so der BGH[3] – insoweit keine Anwendung.
169
Die Verwaltungsakzessorität des Ausländerstrafrechts wirft zudem die Frage auf, ob die Strafbarkeit neben der Wirksamkeit des Verwaltungsaktes auch die Rechtmäßigkeit der behördlichen Anordnung – z.B. die Ausreiseverpflichtung – voraussetzt.[4]
Unbestritten bleibt der Verstoß gegen einen nichtigen Verwaltungsakt straflos;[5] umstritten ist jedoch, ob die Strafbarkeit rückwirkend entfällt, wenn der Ausländer im verwaltungsrechtlichen Verfahren obsiegt und der Verfügungsinhalt somit rückwirkend beseitigt wird. Während das OLG Frankfurt[6] den Verstoß gegen rechtswidrige, behördliche Anordnung als straflosen „verwaltungsrechtlichen Ungehorsam“ qualifiziert, geht der BGH in ständiger Rechtsprechung von dessen Strafbarkeit aus; für die Beurteilung der Widerrechtlichkeit sei stets auf die Verhältnisse zum Tatzeitpunkt abzustellen, so dass nachträgliche Änderungen der Rechtslage die Strafbarkeit nicht beseitigen können.[7] Folgt man dieser Ansicht, ist die Rechtswidrigkeit der Verfügung jedenfalls im Rahmen der Strafzumessung zu berücksichtigen.
170
Hinsichtlich § 95 Abs. 5 AufenthG darf auf die obige Darstellung ( Rn. 126) verwiesen werden.
171
Hinsichtlich der Anordnung von Verfall ist zu beachten, dass dieser ausschließlich bzgl. solcher Taten angeordnet werden kann, die Gegenstand der tatrichterlichen Feststellungen waren; eine Anwendung der Vorschrift (§ 73 StGB) kommt daher nicht in Betracht, wenn lediglich eine Verurteilung wegen eines ausländerrechtlichen Delikts erfolgt, die Geldmittel jedoch im Rahmen einer illegalen Beschäftigung erlangt worden sind.[8]
[1]
Erbs/Kohlhaas -Senge § 95 AufenthG Rn. 1; a.A. Bergmann/Dienelt- Winkelmannt § 95 AufenthG Rn. 21.
[2]
OLG Karlsruhe NStZ-RR 2004, 376, 377; Erbs/Kohlhaas -Senge § 95 AufenthG Rn. 1.
[3]
BGH StV 2006, 577 mit ablehnender Anm. Herzog.
[4]
Vgl. auch Rn. 181.
[5]
Bergmann/Dienelt- Winkelmann § 95 AufenthG Rn. 7 m.w.N.
[6]
OLG Frankfurt StV 1988, 301, 303 m. Anm. Wolf .
[7]
BGHSt 23, 86, 93; BGH NJW 1982, 189; so auch OLG Hamburg NJW 1980, 1007, 1008.
[8]
OLG Frankfurt StV 2002, 308, 309.
b) Die einzelnen Straftatbestände (§ 95 AufenthG)
aa) Aufenthalt ohne Pass- und Ausweisersatz (§ 95 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG)
172
Nach § 3 Abs. 1 AufenthG muss ein Ausländer, der in das Bundesgebiet einreist oder sich dort aufhält, einen gültigen Pass besitzen.
173
§ 95 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG stellt allein den Aufenthalt ohne Pass und Ausweisersatz unter Strafe; die Einreise ohne Pass(-ersatz) wird dagegen von § 95 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG erfasst.
174
Weitere Voraussetzung ist das Fehlen eines Pass(-ersatzes). Verfügt der Ausländer über einen gültigen Pass, ist bei Verstößen gegen die ausweisrechtlichen Vorschriften des AufenthG lediglich eine Ordnungswidrigkeit gegeben (vgl. § 98 Abs. 2 Nr. 3 AufenthG). Ebenso entfällt die Strafbarkeit, wenn ein Anspruch auf Ausstellung eines Passersatzes nach § 48 Abs. 2 AufenthG besteht.[1]
175
Der Aufenthalt ohne Pass setzt das Vorliegen eines unerlaubten Aufenthaltes i.S.d. § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG nicht voraus, weshalb der Tatbestand auch nach Erteilung einer Duldung erfüllt sein kann, wenn sich der Ausländer beharrlich weigert an einer Passbeschaffung mitzuwirken.[2]
176
Schließlich ist zu beachten, dass die Verwahrung des Passes (§ 50 Abs. 6 AufenthG) oder Abgabe im Rahmen einer Haftverschonung nicht zur Passlosigkeit i.S.d. § 95 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG führt.[3]
Hinweis
Ist dem Ausländer die Beschaffung von Passpapieren unzumutbar, entfällt die Strafbarkeit, so z.B. wenn der Heimatstaat die Ausstellung eines (neuen) Passes verweigert,[4] nicht aber wenn mit der Beschaffung bloße Unannehmlichkeiten verbunden sind, wie z.B. die vorherige Ableistung des Militärdienstes.[5]
Enthält die Anklageschrift keinen Gültigkeitszeitraum einer erteilten Duldung entspricht diese nicht der gemäß § 200 StPO erforderlichen Form.[6]
[1]
BVerfG NStZ 2003, 488; OLG Stuttgart NStZ-RR 2011, 28.
[2]
BVerfG NVwZ 2006, 80/81; KG NStZ-RR 2013, 358/359; vgl. auch OLG München NStZ 2006, 529.
[3]
Bergmann/Dienelt- Winkelmann § 95 AufenthG Rn. 34.
[4]
BayObLG StV 2005, 213, 214; KG StV 2014, 488; OLG Frankfurt StV 2015, 356, 358.
[5]
OLG Celle NStZ 2010, 173; OLG München NStZ-RR 2012, 348, 349.
[6]
OLG Celle StV 2015, 703, 704.
bb) Unerlaubter Aufenthalt (§ 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG)
177
Verbleibt der Ausländer nach seiner Einreise ohne Aufenthaltstitel im Bundesgebiet, macht er sich gemäß § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG strafbar.
Hinweis
Die Rückführungsrichtlinie,[1] welche als europaweit einheitliche Vorschrift den Ablauf eines Rückführungsverfahrens von Drittstaatsangehörigen regelt, kann der Strafbarkeit entgegenstehen. Da die Richtlinie strafrechtliche Sanktionen für die Dauer eines Rückführungsverfahrens ausschließt, bedarf es unstreitig einer europarechtskonformen Auslegung des § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG;[2] unter welchen Voraussetzungen die Strafbarkeit Bestand hat, ist indes umstritten. Während die Rechtsprechung[3] an der Strafbarkeit festhält, wenn der betroffene Ausländer die Rückführung sabotiert, in dem er z.B. Passpapiere vernichtet oder untertaucht, d.h. das Verfahren aufgrund des Verschuldens des Ausländers nicht fortgeführt werden kann, gehen Stimmen im Schrifttum[4] davon aus, dass die Wirkung der Richtlinie erst mit dem tatsächlichen Abschluss des Rückführungsverfahrens, d.h. mit der Aufenthaltsbeendigung oder dem Wegfall der Illegalität endet.
Folgt man der Rechtsprechung gilt es gleichwohl zu beachten, dass das Urteil überprüfbare Angaben zu der Annahme enthalten muss, der Ausländer habe das Rückführungsverfahren vereitelt.[5] Das KG[6] sah sich zu dem Hinweis veranlasst, dass entsprechende Feststellungen in der Regel die Beiziehung der Ausländerakte voraussetzen. Fehlen die notwendigen Feststellungen im Urteil, ist dieses auf die Revision hin aufzuheben.
Читать дальше