Teil 1 Vollstreckung I Verteidigung und Rechtsbehelfe› II› 6. Gnadenverfahren
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Das Gnadenwesen ist föderalistisch organisiert. Die Bundesländer haben eigene Gnadenordnungenerlassen, aus denen sich die Zuständigkeit und das Gnadenverfahren ergibt. Die Gnadenbehörde kann bei der Justizbehörde oder auch bei der StA angegliedert sein. Es gilt also zu ermitteln, wer für die Bewilligung zuständig ist.
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Ziel eines Gnadenerweises ist der Ausgleich von Härtefällen. Es sind immer Einzelfallentscheidungen, keine systematischen Korrekturen. Nachträglich veränderte persönliche Verhältnisse, neue Erkenntnisse, Fehler bei der Strafbemessung oder bei den Nebenfolgen können in Fällen der Unbilligkeit ausgeglichen werden. Gnadenentscheidungen können die Strafaussetzung zur Bewährung, den Vollstreckungsaufschub, die Haftunterbrechung, Zurückstellung der Vollstreckung, das Fahrverbot oder den Erlass einer Strafe betreffen.[26]
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Wesentliches Prüfkriterium sind die Ausschöpfung des Rechtsweges und günstige persönliche Verhältnisse wie etwa eine positive Sozialprognose. Es handelt sich um ein schriftliches Verfahren. Die Gnadenbehörde fordert Stellungnahmen der Gerichtshilfe, der StA und/oder der JVA an. Die Verteidigung sollte mit dem Gnadenantrag aussagekräftige (positive) Unterlagen vorlegen. Die Entscheidung erfolgt ohne Begründung und ist nicht justiziabel. Ausnahme: Entscheidungen über den Widerruf im Gnadenwege erfolgter Strafaussetzungen zur Bewährung, denn – so das BVerfG [27] – durch einen Gnadenerweis werden dem Verurteilten Freiheitsrechte eingeräumt, auf deren Wahrung er sich verlassen und auf deren Fortbestand er vertrauen könne, solange er seine Verpflichtungen erfüllt. Zulässig ist der Rechtsweg gem. §§ 23 ff. EGGVG.
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Gnadengesuche hemmenin der Regel die Vollstreckung nicht. Die Vollstreckung kann jedoch bis zur Entscheidung über das Gnadengesuch vorläufig eingestellt werden, wenn erhebliche Gnadengründe vorliegen und das öffentliche Interesse die sofortige Vollstreckung nicht erfordert. Dies sollte auch im Gnadengesuch ausdrücklich beantragt werden.[28] Das Gnadengesuch ähnelt einem informellen Rechtsbehelf. Es kann bewirken, dass der Rechtspfleger das Vollstreckungsheft herausgibt, ehe Zwangsmaßnahmen eingeleitet worden sind.
Teil 1 Vollstreckung I Verteidigung und Rechtsbehelfe› II› 7. Entschädigung
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Das Gesetz über die Entschädigung „für Strafverfolgungsmaßnahmen“ ( StrEG) ist nicht einschlägig, wenn der Mandant für rechtswidrige Vollstreckungsmaßnahmen Entschädigung begehrt,[29] solange das der Vollstreckung zugrunde liegende Urteil nicht im Wege der Wiederaufnahme (§ 359 StPO)[30] oder sonst nach Rechtskraft fortfällt oder gemildert wird (§ 1 StrEG).[31] Andere Formen der nachträglichen Korrektur oder Milderung rechtskräftiger Strafrechtsfolgen (Strafrestaussetzung; Erledigung; Straferlass) begründen keinen StrEG-Anspruch.[32]
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Freiheitsentziehungen unter Verstoß gegen Art. 5 Abs. 1–4 EMRK begründen einen Schadensersatzanspruch gem. Art. 5 Abs. 5 EMRK, der unmittelbar vor einem deutschen Zivilgericht geltend zu machen ist, ohne dass es zuvor einer EGMR-Entscheidung (hinsichtlich der Konventionsverletzung) bedürfte.[33] Die Bedeutung dieses Anspruchs wird unterschätzt, zumal Art. 5 Abs. 1 S. 2 EMRK ausdrücklich normiert, dass eine Freiheitsentziehung „nur auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise“ erfolgen darf, und damit – im Rahmen des Willkürverbots – auf Verletzungen des nationalen Rechts abstellt.[34]
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Amtshaftungsansprüchegem. Art. 34 GG i.V.m. § 839 BGB setzen – anders als die vorgen. Ansprüche[35] – das Verschulden eines in der Vollstreckung tätigen Beamten voraus; gem. § 839a BGB kommt bei Vorsatz und grober Fahrlässigkeit auch die Haftung des gerichtlichen Sachverständigenin Betracht.[36] In beiden Fällen muss der Betroffene versucht haben, den Schaden durch Gebrauch eines Rechtsmittels abzuwenden (§§ 839 Abs. 3, 839a Abs. 2 BGB).[37]
[1]
Heghmanns 2012; Kamann 2008 (Teil 1); Röttle/Wagner 2009; Streng 2012, 72 ff., 112 ff.; vgl. auch HK- Pollähne §§ 449 ff.
[2]
Wenn das OLG z.B. nach §§ 23 ff. EGGVG entscheidet.
[3]
OLG Köln v. 23.12.2010 – 2 Ws 845/10; OLG Frankfurt NStZ-RR 2002, 15; OLG Bamberg NJW 1975, 1526; OLG Düsseldorf NStZ 1990, 251; OLG Schleswig SchlHA 1996, 96; Meyer-Goßner § 453c Rn. 17; KK- Fischer § 453c Rn. 10; AK-StPO- Rössner § 453c Rn. 10.
[4]
OLG Braunschweig StV 1993, 596; LR- Graalmann-Scheerer § 453c Rn. 16; Bringewat § 453c Rn. 20; HK- Pollähne § 453c Rn. 7.
[5]
Ausf. zu den Verfahren mit vielen Hinweisen: Kleine-Cosack 2007.
[6]
Exempl. NK- Pollähne vor § 67 Rn. 65 m.w.N.
[7]
Vgl. auch Pollähne StraFo 2007, 406 sowie Kleine-Cosack 2007, 234 ff.
[8]
Zum sog. „Europäischen Anti-Folter-Komitee“ (CPT) Pollähne R&P 2007, 120 ff. (und ders . zum Jugendstrafvollzug StV 2007, 553) sowie Feest ZJJ 2007, 306 ff.
[9]
Meyer-Goßner § 458 Rn 7.
[10]
LR- Graalmann-Scheerer § 458 Rn. 1; KK- Fischer § 458 Rn. 3 f.
[11]
KG NStZ-RR 2004, 240.
[12]
Meyer-Goßner § 458 Rn. 6; HK- Pollähne § 458 Rn. 3 f.
[13]
OLG Frankfurt NJW 1998, 1165.
[14]
OLG Oldenburg StraFo 2000, 67; vgl. auch OLG Dresden StV 2006, 585; OLG Rostock StraFo 2009, 470; OLG Hamm NStZ-RR 2011, 91 und zur Abgrenzung StV 2010, 696 sowie OLG Köln NStZ-RR 2010, 157; zur Vergütung OLG Zweibrücken StraFo 2010, 515.
[15]
KG StV 1989, 26; zur Verfassungsmäßigkeit BVerfGE 4, 237.
[16]
Regelmäßig die StA beim LG, in Staatsschutzstrafsachen bei erstinstanzlicher Zuständigkeit des OLG gem. § 120 GVG die StA beim OLG oder der GBA, in Jugendstrafsachen der Vollstreckungsleiter.
[17]
Etwa LR- Böttcher EGGVG §§ 23 ff.
[18]
Wegen der herausragenden Bedeutung dieses Rechtsmittels in puncto Fortdauer einer Freiheitsentziehung hat sich die Justiz zurückzuhalten, dem – zumal unverteidigten – Betroffenen einen Rechtsmittelverzicht aufzudrängen (vgl. dazu OLG Bremen 2012, 425).
[19]
Dazu HK- Pollähne § 454 Rn. 34.
[20]
OLG Frankfurt NStZ-RR 2002, 15.
[21]
OLG Braunschweig StV 1993, 596; vgl. auch HK- Pollähne § 453c Rn. 7.
[22]
Ausnahme (seit 2010): § 121 Abs. 2 Nr. 3 GVG (betr. Erledigungsentscheidungen zu §§ 63, 66 StGB).
[23]
Zum Verfahren Kleine-Cosack 2007; vgl. auch Jahn et al. 2011, 18 ff.
[24]
Lübbe-Wolff/Geisler NStZ 2004, 478 ff.; Lübbe-Wolff/Lindemann NStZ 2007, 450; Lübbe-Wolff/Frotz NStZ 2009, 616.
[25]
Ausf. Kleine-Cosack 2007, 258 ff. und Zuck 2010, 1356 ff.; vgl. auch Breuer EuGRZ 2008, 121, von Raumer AnwBl 2009, 254 und Meyer-Ladewig/Petzold NJW 2011, 3126.
[26]
Ausf. Birkhoff/Lemke 2012, 105 ff.; s.u. Rn. 196, 274, 381, 420, 457 ff., 507.
[27]
BVerfGE 30, 108; vgl. Rinio NStZ 2006, 438.
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