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Andererseits – und insoweit muss der Enthusiasmus früherer Vorauflagen relativiert werden – greift eine gegenläufige Entwicklung in all diesen Bereichen immer stärker um sich, eine Entwicklung, die sich dem Prinzip „in dubio pro securitate“verschrieben hat. Das individuelle Freiheitsgrundrecht wird gegen ein allgemeines „Grundrecht auf Sicherheit“ ausgespielt; Gesetzgebung und Ministerialbürokratie suchen eifrig nach Sicherheitslücken, um diese sogleich publikumswirksam zu stopfen. Diesem Trend können sich weder das Vollstreckungsrecht noch die zu seiner Ausführung berufenen Behörden entziehen – dass sich alle Beteiligten dabei ihrer hohen Verantwortung bewusst sind und ihr gerecht werden, muss bisweilen bezweifelt werden. Um so wichtiger, dass die Verteidigungihre Verantwortungfür eine effektive Vertretung der Mandanteninteressen wahrnimmt und sich durch Versuche der sozialen Inpflichtnahme nicht irritieren lässt (auch wenn dies in Anbetracht von Medienkampagnen nicht immer leicht fällt).[2]
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Erst seit einigen Jahren erfreut sich das Strafvollstreckungsrecht verstärkter Aufmerksamkeit von Wissenschaftund obergerichtlicher Rechtsprechung, bisher ohne nachhaltige und flächendeckende Qualitätssteigerung: Immer wieder begegnen einem StVK-Beschlüsse und sogar OLG-Entscheidungen, die sich im Wesentlichen darauf reduzieren, die Argumentation von Vollstreckungs- und Vollzugsbehörden sei „nachvollziehbar“, während man Rechtsvorschriften oder gar die Auseinandersetzung mit Rechtsprechung und Fachliteratur vergeblich sucht. Justizverwaltungen und Gesetzgebung haben auf diese Entwicklung, die zum Teil auch der Komplexität der Materie geschuldet ist, bisher kaum reagiert. Der Zustand der Kodifizierungdes Vollstreckungsrechts ist weiterhin desolat: Einiges ist gesetzlich geregelt, und zwar verstreut im allgemeinen Teil des StGB, in StPO, GVG, JGG, IRG, BtMG, JBeitrO und ZPO. Vieles ist nur in Verwaltungsvorschriften festgelegt, nämlich in der von den Justizministerien bundeseinheitlich erlassenen StVollstrO nebst bundeseinheitlichen sowie länderspezifischen Nebenbestimmungen.
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Strafvollstreckung ist ein Teil der Justizverwaltung. Man sollte meinen, dass die beteiligten Funktionsträger der Justiz stets um Rechtsförmigkeit des staatlichen Handelns besorgt und deshalb für Entwicklungen im Verwaltungsverfahrensrechtoffen sein sollten. Das war und ist aber nicht immer so: Dem zu einer Geldstrafe Verurteilten z.B. vor Anordnung der Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe rechtliches Gehör zu gewähren (vgl. § 28 VwVfG), weil es überall außerhalb der Justiz einem als allgemeinen Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit anerkannten Gebot entspricht – dieser Gedanke ist noch kaum aufgekommen; wer bei § 459e StPO das rechtliche Gehör für nötig hält, trifft damit meist auf Unverständnis (s.u. Rn. 229).
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Beklagenswert ist auch der Zustand und die Unübersichtlichkeit des Rechtsbehelfssystems: Gegen die Grundentscheidungen des erkennenden Gerichts über die Vollstreckung (§§ 56, 59, 67 Abs. 2, 67b StGB, 57 JGG) gibt es, wenn das AG sie erlassen hat, die Berufung und außerdem immer die Revision, gegen die dabei getroffenen Bewährungsanordnungen die nach § 305a Abs. 1 StPO beschränkte Beschwerde. Gegen andere Entscheidungen in Vollstreckungssachen gibt es die sofortige, die einfache Beschwerde oder die nach § 453 Abs. 2 S. 2 StPO beschränkte Beschwerde, die Anrufung des Gerichts nebst sofortiger Beschwerde, die dem vorgeschaltete Anrufung der StA, die „Beschwerde“ an die GenStA nebst anschließendem Verfahren nach §§ 21 StVollstrO, 23 ff. EGGVG, Einwendungen an den Rechtspfleger nach § 31 Abs. 6 RPflG und schließlich die Erinnerung nach § 766 ZPO (ohne Anspruch auf Vollständigkeit).
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Das Gewirr der verschiedenen vollstreckungsrechtlichen Rechtsbehelfe ist nicht ganz so willkürlich wie es auf den ersten Blick scheint. Wenn man sich den systematischen Aufbau des Vollstreckungsrechtsvergegenwärtigt, dann zeigt sich, dass einige der Rechtswegbesonderheiten der jeweils zu lösenden Aufgabe entsprechen. Zunächst gilt es wahrzunehmen, dass das staatliche Handeln, das die Vollstreckung gestaltet, nicht allein Sache der Vollstreckungsbehörde ist, wie § 451 StPO glauben machen könnte, sondern dass die Aufgaben verteiltsind: Eine Anzahl von Vollstreckungsmaßnahmen obliegt kraft gesetzlicher Zuweisung allein dem Gericht (z.B. die Aussetzung und die Unterbleibensanordnungen). Wo keine gesetzliche Aufgabenzuweisung besteht, ist immer die Vollstreckungsbehörde zuständig.
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Alles staatliche Handeln ist Verfahren. Indem die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung nach Art. 20 Abs. 3 GG an Gesetz und Recht gebunden sind, unterliegen sie einem Verfahrensrecht. Hier geht es nicht darum, welche Entscheidungen unter welchen Voraussetzungen getroffen werden sollen oder können, sondern darum, wie zu verfahren ist, damit überhaupt entschieden werden kann, und welche Struktur diese Maßnahmen haben.
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Handelt die Vollstreckungsbehörde (oder der Jugendrichter als Vollstreckungsleiter in einer Angelegenheit, die der Vollstreckungsbehörde obliegt), so ist das eine Verwaltungstätigkeit. Sie unterliegt einem Justizverwaltungsverfahrensrecht. Dieses ist allerdings nicht kodifiziert; die Verwaltungsverfahrensgesetze des Bundes und der Länder nehmen es ausdrücklich von ihrer Regelung aus, vgl. § 2 Abs. 3 Nr. 1 VwVfG-Bund. Das kann nun freilich nicht bedeuten, dass es hier gar kein Verwaltungsverfahrensrecht gäbe. Der Rechtszustand ist vergleichbar dem, was in der allgemeinen Verwaltung bis 1977 galt. Es gilt, was Verwaltungsrechtswissenschaft und Rechtsprechung bis dahin ganz allgemein entwickelt hatten, selbst wenn es die Justizverwaltung nicht wahrhaben will.[3]
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Das hat Konsequenzen. Hat z.B. die Vollstreckungsbehörde dem Verurteilten aus persönlichen oder sozialen Gründen nach § 456 StPO einen Strafaufschub gewährt – eine Maßnahme, die sie nach ihrem Ermessen treffen kann – so darf sie das nicht etwa nach ihrem Ermessen oder gar willkürlich einfach wieder rückgängig machen, sondern sie ist dafür entsprechend §§ 48, 49 VwVfG-Bund an die für eine Rücknahmeeines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakts und für einen Widerrufeines rechtmäßigen begünstigenden Verwaltungsakts geltenden Grundsätze gebunden. Oder zur Bekanntgabevon Verwaltungsakten: Sind mehrere Freiheitsstrafen zu vollstrecken, dann ist jede Entschließung über die Reihenfolge der Vollstreckung und jede Strafunterbrechung ein Justizverwaltungsakt. Dieser ist selbstverständlich dem davon betroffenen Verurteilten und seiner Verteidigung bekannt zu machen, vgl. §§ 37, 39 VwVfG-Bund (§ 35 Abs. 2 S. 2 StPO). Wenn das nicht geschieht, ist dies ein vorrechtsstaatlicher, völlig unhaltbarer Zustand.
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Auch das Verfahrensrecht des Vollstreckungsgerichtsweist nur Rudimente ausdrücklicher Regelungen auf. Sie betreffen im Wesentlichen die Zuständigkeit und Besetzung des Gerichts.[4] Das eigentliche Verfahrensrecht ist fast völlig ungeregelt, wenn man von dem Satz „entscheidet ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss“ in §§ 454 Abs. 1 S. 1, 462 Abs. 1 S. 1 StPO und einigen Anhörungs- und Mitteilungsregeln absieht.
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Im Vollstreckungsrechtmuss man unterteilen in die Tätigkeitsbereiche der StA als Vollstreckungsbehörde und des Gerichts. Diese Aufteilung wird nicht dadurch infrage gestellt, dass die StAauf die Entscheidungen des Gerichts durch Stellungnahmen und Anträge einwirkt. Sie tut das nicht in ihrer Eigenschaft als Vollstreckungsbehörde, sondern als Verfahrensbeteiligte. Manche erklären, sie werde hier als Strafverfolgungsbehörde tätig.[5] In der Strafvollstreckung gibt es aber nichts mehr zu verfolgen. Unmissverständlich ist die StA Verfahrensbeteiligte.[6]
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