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Die Kriminalprognoseist ein aussichtsreiches Feld für eine erfolgreiche Verteidigung, wenn man sich den gewachsenen Ansprüchen und Diskussionsansätzen stellt. Nicht nur sind die wissenschaftlichen Anforderungen an die Inhalte, die fachlichen Standards und die empirische Validität eines Gutachtens fortwährend gestiegen, auch die Anforderungen an die Person des Sachverständigen selbst, seine berufliche Ausrichtung (Psychiater oder Psychologe), seine Berufserfahrung als Forensiker[4] sowie seine praktische Erfahrung als Gutachter haben erheblich an Bedeutung gewonnen. Oftmals kann über die Auswahl des „richtigen“ Sachverständigen eine Prognoseentscheidung und damit der Ausgang des Verfahrens vorgezeichnet sein. Boetticher u.a. [5] haben in einer Expertenkommission aus Richtern, forensischen Psychiatern und Psychologen, Sexualmedizinern, weiteren Wissenschaftlern und Juristen Mindestanforderungen für Gutachtenzusammengestellt. Aber bereits die systematische Auflistung stößt auf Kritik; unterschiedliche Praxiskonventionen und Konzeptionen von nicht an der Empfehlung beteiligten Experten können eine ganz andere Vorgehensweise empfehlen. So ist die fast ausschließliche Präsenz der Psychiater als forensische Sachverständige in Frage zu stellen; denn auch Kriminologen[6] und Psychologen kommen als Gutachter in Betracht. Aber bereits zwischen Juristen und Psychiatern gibt es Verständnisschwierigkeiten.[7] Auch zahlenmäßig sind die Anforderungen an Gutachten seit dem SexualdelBekGgestiegen; aufgrund des kriminalpolitischen Hintergrundes sollen bei Prognoseentscheidungen der Gerichte und Vollzugsbehörden Sachverständige hinzugezogen werden[8] (§§ 454 StPO, 57, 67d StGB, 88 JGG). Alle Entscheidungen erfordern ein hohes Maß an Verantwortung und Sachverstand – von Gerichten und Sachverständigen gleichermaßen. An die Ausbildung und Fortbildung sind angesichts der weitreichenden Folgen einer Entscheidung – auch für die Allgemeinheit, vor allem aber für die Mandanten – hohe Ansprüche zu stellen. Das BVerfG hat die Maßstäbe für die Überprüfung von Prognoseentscheidungen weiter konkretisiert.[9]
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Die Prognosestellung ist ein sehr komplexer Vorgang. Volckart hatte dies in den Vorauflagen in einem Exkurseindrücklich dargestellt.[10] Die Ebenen des Entscheidungsvorganges sind klar zwischen dem (klinischen) Erfahrungswissen des Sachverständigen[11] und der gerichtlichen Prognose zu trennen. Die Entscheidung, ob die mit Hilfe des Gutachters ermittelte Wahrscheinlichkeit eines Rückfalls eine Entlassung rechtfertigt, trifft der Richter. Geprägt durch öffentliche Meinung und Kriminalpolitik wird zwischen ungünstigen und günstigen Prognosen entschieden,[12] der Umschlagspunktvariiert entsprechend der politischen Diskussion. Soll den Sicherheitsbedürfnissen der Bevölkerung verstärkt Rechnung getragen werden, erhöht sich die Messlatte und es verbleiben im Zweifel mehr Gefangene länger im Strafvollzug.[13]
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Die Gesamtwürdigung von Tat, Persönlichkeit und ihrer Entwicklung während des Vollzuges ist Grundlage der Prognose. Eine Abwägung zwischen den Auswirkungen des Freiheitsentzuges und den Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit muss getroffen werden. Welche Tatsachen als erheblich in die Prognosestellung einbezogen werden, richtet sich auch nach dem Beweisrechtder StPO. Ein prozessual zulässiges Verteidigungsverhalten des Angeklagten darf bei einer Prognoseentscheidung nicht zu seinem Nachteil gewertet werden.[14] Auch in der Exploration durch den Sachverständigen hat der Verurteilte das Recht, zu schweigen. Tatsachen, die sich bei der Prognose als ungünstig auswirken, müssen feststehen. Frühere Verurteilungen müssen sicher sein; die Verteidigung sollte positive Veränderungen herausarbeiten.[15]
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Wichtige Fehlerquellebei der Kriminalprognose ist die Überbetonung der deliktischen Vergangenheit des Verurteilten oder frühen Versagens in beruflicher bzw. schulischer Bildung. Die mangelnde Auseinandersetzung mit der Tat wird überbewertet und verhindert so oft eine günstige Prognose. Dabei sind die Vollzugsanstalten mit der Bearbeitung selbst häufig überfordert; den Beamten und Therapeuten fehlen oft Zeit und fachliche Voraussetzungen für eine sachgerechte Deliktsbearbeitung.[16]
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Bei der Kriminalprognose wird neben der klinischen Methode auch auf statistische Prognoseinstrumente zurückgegriffen. Die klinische Prognosewird von Psychiatern und Psychologen gestellt, die entsprechend spezielle, auch kriminologische Erfahrungen mitbringen sollten. Die statistischenPrognoseverfahren nutzen Checklisten und beruhen auf der Annahme, dass die Wahrscheinlichkeit künftiger Straftaten umso größer ist, je mehr statistisch-kriminogene Merkmale einer Person zuzuschreiben sind. Das Individuum wird einer Gruppe zugeordnet, deren Rückfallquote bereits bekannt ist, die dann als individuelle Rückfallwahrscheinlichkeit interpretiert wird.[17]
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Die im angloamerikanischen Raum vorrangig angewandten Prognoseinstrumentesind die Psychopathie-Checkliste PCL-R von Hare [18], der HCR-20[19] zur Vorhersage von Gewalttaten und der SVR-20 zur Vorhersage von Gewalttaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung. Die Anwendungen sind sehr verbreitet, aber auch umstritten: die PCL-Rrepräsentiere einen neuen Biologismus.[20] Die verstärkt vergangenheitsbetonten und statischen Merkmale bieten kaum Spielraum für die Notierung von positiven Veränderungen. Der Straftäter bleibt Gefangener seiner Vergangenheit. Kritisiert wird aus den Kriminalrechtswissenschaften[21] auch die Zuverlässigkeit (Reliabilität) und Gültigkeit (Validität) der statistischen Verfahren.
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Das Gerichthat die Prognoseentscheidung selbst zu treffen, auch wenn es sich von einem Sachverständigen beraten lässt. Es darf die Entscheidung nicht an diesen abtreten, sondern hat seine Ausführungen zu kontrollieren.[22] Oder um es mit den Worten des BGH zu sagen: „Der Richter hat seine Entscheidung selbst zu erarbeiten und zu durchdenken.[23] Es ist die Aufgabe der Verteidigung, dafür zu sorgen, dass das angemessen geschieht.“[24]
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Psychowissenschaftliche Gutachtenmüssen durchschaubar („transparent“) und kontrollierbar („nachvollziehbar“) sein. Für die Verteidigung gibt es zahlreiche Ansätze, das zwingend schriftlich vorzulegende Sachverständigengutachten[25] zu prüfen. Es empfiehlt sich, auch die statistischen Prognoselisten auf (unzutreffende) Anknüpfungstatsachen aus dem Leben des Verurteilten zu hinterfragen. Die Besonderheiten bei der Exploration und Prognose von Jugendlichen und ausländischen Verurteilten ist zu beachten wie auch der Erfahrungshorizont und ggf. das Alter des Gutachters. Eine Anzahl von ungünstigen Prädiktoren lässt zunächst nur den Schluss zu, dass der Proband zu einer Risikogruppe gehört. Die eigentliche Prognose muss auch die individuelle Einschätzung in der konkreten Lebens- bzw. Entlassungssituation einbeziehen. Dazu gehört eine realistische Zukunftsperspektive, die in der helfenden Familie oder einer beruflichen Stabilisierung liegen kann. Aber auch Erwerbslosigkeit ist kein kriminogener Faktor per se und Erwerbstätigkeit kein Schutz vor Kriminalität.[26]
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Die Entscheidung, Anordnung und/oder Fortdauer der Freiheitsentziehung von einer Kriminalprognose abhängig zu machen, erzeugt zwei Arten von Opfern: diejenigen, die unter den sog. falschen Negativen zu leiden haben, und diejenigen, die als falsche Positive ungerechtfertigt eingesperrt werden/bleiben.[27] Das Fehlerrisikomuss auf beide Seiten verteilt werden: wollte man es einseitig einer Seite aufbürden, könnte man sich den ganzen Prognoseaufwand sparen, denn es hieße, die Prognose hinterrücks wieder abzuschaffen. Insbesondere ist die naheliegende Versuchung, das Fehlerrisiko bei den falschen Positiven zu verstecken, weil man diese ja nicht von den wahren Positiven unterscheiden kann, aus Gründen der Logik der Kriminalprognose unzulässig. Außerdem: Wer die Prognosesicherheit, die er erfahrungswissenschaftlich betrachtet nicht haben kann, über die rechtliche Beurteilung herbeizuzwingen versucht, der handelt unverhältnismäßig, weil er die eine Opferseite zugunsten der anderen einseitig belastet[28], und er lässt die Prinzipien der Rechtssicherheitaußer Acht.[29] Die kriminalprognostische Beurteilung hat Grenzen; sie kann nicht über eine Wahrscheinlichkeitsaussage hinausgehen. Eine exakte Vorhersage menschlichen Verhaltens ist mit keiner Methode möglich.
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