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Ohne das Recht der Verteidigung auf Einsicht in diese Akten, wenn es auf ihren Inhalt nur irgend ankommen kann, ist ein den rechtsstaatlichen Erfordernissen entsprechendes Vollstreckungs- (oder Vollzugs-)verfahren nicht zu führen. Ein maßgeblicher Teil der tatsächlichen oder vermeintlichen Fakten, die in der Stellungnahme der Anstalt oder in einem Sachverständigengutachten erscheinen oder dort ausgelassen werden, ist ohne Akteneinsichtkeinerlei Kontrolle zugänglich. Das Verfahren ist dann in wesentlichen Punkten eine Art Geheimprozess. Es verstößt gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens i.S.d. Art. 6 EMRK, der auch in der Vollstreckung zu beachten ist. Die ganz überwiegende Praxis ist der Auffassung, die Gewährung von Einsicht in die GPA liege im Ermessen der Vollzugsbehörden. Das ist bisher stets von den Gerichten gebilligt worden; allerdings hat man sich in einer Reihe von Fällen der Rechtsfigur des „auf Null geschrumpften“ Ermessens bedient, um grobem Missbrauch entgegenzutreten.[8] Dabei ist die Praxis der Vollzugsbehörden durchaus nicht einförmig: im Verfahren nach § 57a StGB werden die GPA selbstverständlich herausgegeben. Sie sind denn auch für die Beurteilung der Persönlichkeit des Gefangenen eine Fundgrube.[9] Im Verfahren zur nachträglichen Sicherungsverwahrung gem. § 66b StGB ist die Akteneinsicht der vollständigen GPA sowohl für alle Gutachter als auch für das Gericht unabdingbar, weil sich neue Tatsachen nur aus dem Vollzugsverlauf belegen lassen.
Teil 1 Vollstreckung I Verteidigung und Rechtsbehelfe› IV› 5. Krankenakten
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Zum Recht des Untergebrachten[10] auf Einsicht in seine Krankenunterlagenhat das BVerfG [11] klargestellt, das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung und die personale Würde des Patienten gewährleiste das Einsichtsrecht des Einzelnen in die ihn betreffenden Daten. Dies gilt besonders für die im MaßregelvollzugUntergebrachten und die in Untersuchungshaft Befindlichen.[12] Akteneinträge im Maßregelvollzug können sich in vielfältiger Weise auf die Unterbringung auswirken; von ihnen hängen die Vollzugsgestaltung und die weitere Vollstreckung wesentlich ab. Es bestehe – so das BVerfG – an der Akteneinsicht im Maßregelvollzug ein besonders starkes verfassungsrechtlich geschütztes Interesse, denn ohne sie könne der Betroffene seine Ansprüche auf Berichtigung und Löschung falscher Information nicht verwirklichen.
[1]
Da die aktenführende StA bisweilen nicht nur vom Aufenthaltsort des Mandanten sondern auch vom Büro des Verteidigers weit entfernt liegt, ist ggf. „Amtshilfe“ durch einen lokalen Kollegen in Anspruch zu nehmen.
[2]
BVerfG v. 6.6.2006 – 2 BvR 1349/05 = BVerfGK 8, 183 = R&P 2007, 42 (Ls.).
[3]
Zum Ganzen MüKo- Groß § 68a Rn. 18 ff. m.w.N.; vgl. auch Pollähne BewHi 2011, 326 f.
[4]
Vgl. AK-StVollzG- Goerdeler/Weichert § 185 Rn. 15 ff.; BVerfG StV 2003, 408; LG Landau StV 2007, 426; OLG Koblenz v. 20.10.2008 – 2 Ws 448/08 (Vollz); Laubenthal 2011, 605 ff.
[5]
OLG München ZfStrVo 2001, 362; OLG Koblenz ZfStrVo 2003, 301.
[6]
Zu Details AK-StVollzG- Kamann/Spaniol § 109 Rn. 14 und AK-StVollzG- Goerdeler/Weichert § 180 Rn. 55 ff.; KG StV 2008, 93.
[7]
Vgl. den Fall OLG Brandenburg R&P 1997, 37 m. Anm. Volckart.
[8]
OLG Hamm NStZ-RR 2002, 256; OLG Dresden NStZ 2000, 392; BVerfG StV 2002, 272; zur Einsichtnahme in den Vollzugsplan: BVerfG StV 2003, 408.
[9]
Vgl. den Fall OLG Celle StV 1983, 156, 158.
[10]
Zum Anspruch des Strafgefangenen auf Einsicht in die Krankenunterlagen SBJL- Keppler/Nestler § 56 Rn. 10 ff. m.w.N. und OLG Hamm FS 2013, 61.
[11]
BVerfG StV 2007, 421 = R&P 2006, 94 m. Anm. Pollähne .
[12]
BVerfG a.a.O.; OLG Brandenburg StV 2008, 308; OLG Koblenz v. 20.10.2008 – 2 Ws 448/08.
Teil 2 Vollstreckung II
Mandant ist in Freiheit
Inhaltsverzeichnis
I. Vorbemerkungen
II. Kriminalprognose
III. Freiheitsstrafe
IV. Geldstrafe und Verwarnung mit Strafvorbehalt
V. Fahrverbot (Nebenstrafe)
VI. Nebenfolgen und ähnliche Maßnahmen
VII. Freiheitsentziehende Maßregeln
VIII. Freiheitsbeschränkende Maßregeln
IX. Jugendstrafrechtliche Sanktionen
Teil 2 Vollstreckung II Mandant ist in Freiheit› I. Vorbemerkungen
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Nicht nur im Bereich der Vollstreckung von Geld- und Nebenstrafen, Nebenfolgen und nicht freiheitsentziehenden Maßnahmen sind viele Mandanten noch (oder wieder) auf freiem Fuß: Auch im Zusammenhang mit freiheitsentziehenden Strafen und Maßregeln gilt es, die Verteidigung nach Rechtskraftfortzusetzen, um die bevorstehende oder wieder drohende Vollstreckung nach Möglichkeit zu verhindern oder zumindest im Interesse der Mandanten zu modifizieren. Die allgemeinen vollstreckungsrechtlichen Maßnahmen und Verteidigungsmöglichkeiten werden hier im Zusammenhang mit der Freiheitsstrafe dargestellt, worauf an zahlreichen anderen Stellen verwiesen wird.
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Der Kriminalprognosekommt bei vielen vollstreckungsrechtlichen Entscheidungen eine große Bedeutung zu. Wenn es um die Prognose über die zukünftige Legalbewährung – im Strafvollzug wie bei der Maßregelunterbringung – geht oder eine Entscheidung über Vollzugslockerungen vorbereitet werden soll, bedarf es besonderer Sachkenntnis der Verteidigung. Oftmals werden psychiatrische und/oder psychologische Sachverständige in die Entscheidungen einbezogen, deren Auswahl bei der Verteidigungsstrategie eine wichtige Rolle spielen kann. Das Thema wird an dieser Stelle bearbeitet, auch wenn prognostische Einschätzungen insb. bei der Strafrestaussetzung (§§ 57, 57a StGB), der Erledigung bzw. Aussetzung der Maßregeln (§ 67d StGB), bei Bewährungswiderruf und Anordnungen der Führungsaufsicht sowie im Strafvollzug große Bedeutung erlangen (s.u. Rn. 168 f., 187 f., 214 ff., 299 ff., 346, 423 ff., 440 ff., 446 ff., 458, 492 f., 498 ff., 527, 561 ff., 587ff.).[1]
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Obwohl sich die Führungsaufsichtin den allermeisten Fällen an die Vollstreckung anschließt (s.u. Rn. 475f.), wird sie ebenfalls hier abgehandelt, weil unabhängig von ihrem jeweiligen Eintritt sich die Verteidigung in der Führungsaufsicht zumeist im ambulanten Sektor abspielt, der verstärkt Beachtung verdient.
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Den Abschluss bildet das Kapitel über formell- und materiell-rechtliche Besonderheiten bei der Vollstreckung jugendstrafrechtlicherSanktionen, genauer: bei der Verteidigung von noch auf freiem Fuß befindlichen Mandanten, denen die Vollstreckung solcher Sanktionen droht, wobei an zahlreichen Stellen auf die vorherigen Kapitel verwiesen wird.
[1]
Ausf. Pollähne 2011, 73 ff.
Teil 2 Vollstreckung II Mandant ist in Freiheit› II. Kriminalprognose
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Die öffentliche Debatte über sog. „Bewährungsversager“ und schwere Rückfälle von Straftätern hat kriminalpolitische Rahmenbedingungen geschaffen, die vorzeitige Entlassungen und Lockerungen erschweren. Das Klima ist von Dämonisierung und Skandalisierung geprägt.[1] Das Ansehen des Straftäters als „Bestie“, „Monster“ o.Ä. verhindert eine fachgerechte soziale Integration. Wird die Entlassung mit dauerhafter polizeilicher Observation verbunden, erscheint die vermeintliche Gefährlichkeit des Entlassenen in der öffentlichen Meinung noch bestätigt.[2] Zunehmend wird das Bedürfnis nach vollkommener Sicherheit geäußert. Die reale oder vermeintliche Kriminalitätsfurchtder Bürger und das Bild der tatsächlichen Kriminalität klaffen z.T. erheblich auseinander: Gewalt- und Sexualdelikte sind rückläufig und trotzdem steigt die Zahl der Anordnungen von Sicherungsverwahrung. Ursachen für die Fehleinschätzung werden auch bei den Medien gesucht. Tondorf [3] fordert die am Strafverfahren Beteiligten auf, das geschilderte gesellschaftliche Klima gelassen zu registrieren und sich gegen überspannte Sicherheitsansprüche resistent zu zeigen; an einem richtungsweisenden „Gegenprogramm“ sollte gemeinsam gearbeitet werden.
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