Der Angeklagte verschwieg bei der Einlieferung der komatösen Patientin auf der Intensivstation gegen 20.00 Uhr den eingetretenen Herzstillstand mit nachfolgender Reanimation und die Aspiration der Patientin. Er übergab keine Krankenunterlagen und teilte die verabreichten Medikamente nicht mit. Er war später über die hinterlassene Mobilfunktelefonnummer für die Ärzte des Krankenhauses nicht erreichbar. Erst am 3. April 2006 händigte er dem Nebenkläger, der mit der Einschaltung der Polizei gedroht hatte, eine Kopie des Operationsberichts und des Narkoseprotokolls aus. Sch. verstarb am 12. April 2006 im Krankenhaus an den Folgen einer globalen Hirnsubstanzerweichung, ohne das Bewusstsein zuvor wiedererlangt zu haben.
Die Vornahme der komplexen mehrstündigen Operation ohne Hinzuziehung eines Anästhesisten entsprach nicht dem ärztlichen Standard: Die Betäubung durch eine Periduralanästhesie in Verbindung mit der Verabreichung einer Tumeszenzlösung sowie zentral wirkender Opiate stellt sowohl in ihren Einzelkomponenten, aber besonders in ihrer Kombination ein mit bekannten Risiken behaftetes Verfahren dar, das zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Vitalfunktionen des Patienten führt. Eine gebotene Überwachung durch einen Anästhesisten hätte die Chancen einer früheren Diagnose des lebensbedrohlichen Zustands und einer folgenden adäquaten Therapie deutlich verbessert.
Der Angeklagte behandelte Sch. nach der Reanimation unter groben Verstößen gegen die ärztliche Kunst, indem er der spontan atmenden Patientin lediglich Infusionen und blutdrucksteigernde Medikamente verabreichte: Nachdem er mangels Blutgasanalyse nicht feststellen konnte, ob dem Gehirn der Patientin genügend Sauerstoff zugeführt würde, wäre eine endotrachiale Intubation mit zusätzlicher Sauerstoffbeatmung und – bei der unklar gebliebenen Ursache des Herz-Kreislauf-Stillstands – eine sofortige Verlegung der Patientin zur cerebralen Reanimation in eine Intensivstation vorzunehmen gewesen.
Wann genau die irreversible, zum Tode führende Hirnschädigung durch Sauerstoffunterversorgung nach der Wiederbelebung in der Praxis des Angeklagten eingetreten war, konnte nicht sicher geklärt werden. Jedenfalls litt die Patientin zum Zeitpunkt ihrer Ankunft im Krankenhaus bereits an einer schweren posthypoxischen Hirnschädigung, die, wie eine Auswertung computertomographischer Aufnahmen vom 30. und 31. März 2006 in Zusammenschau mit den bekannten Tatsachen zur Entwicklung des Zustands der Patientin ergab, in den Nachmittagsstunden des 30. März 2006 entstanden war. Bei einer sofortigen Verlegung in ein Krankenhaus nach der Reanimation hätte die Patientin mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit überlebt.
Aus dem Geschehensablauf und der Interessenlage hat das LG Berlin zum subjektiven Tatbestand gefolgert, »dass der Angeklagte zumindest unter anderem deswegen Sch. erst am Abend des 30. März 2006 in ein Krankenhaus verbringen ließ, weil er bei Bekanntwerden des Zwischenfalls einen drohenden Ansehensverlust sowie um seine wirtschaftliche und berufliche Existenz fürchtete. Darüber hinaus wusste er, dass die vorgenommene Operation ohne Anästhesist nicht dem ärztlichen Standard entsprach und er seine Patientin nach dem Herzstillstand nur unzureichend weiterbehandelt hatte«. Er habe das Geschehen fortan heruntergespielt und versucht, den Sachverhalt zu verschleiern. »Dabei ging er so weit, dass er selbst seinen Kollegen im S. Krankenhaus völlig unzureichende Informationen gab und keine aussagekräftigen Patientenunterlagen übergab.« Die Schwurgerichtskammer nahm systematische Vertuschungs- und Verharmlosungshandlungen an, die belegen, dass der Angeklagte aus sachfremden Motiven keinen Rettungswagen angefordert hatte. Solches führe zur Annahme eines bedingten Tötungsvorsatzes ab 15.00 Uhr, als der Angeklagte die für seine Patientin eingetretene Lebensgefahr erkannt hatte. Im Hinblick auf die zeitliche Unsicherheit des Eintritts der irreversiblen Gehirnschädigung begründe dies im Zweifel eine Strafbarkeit als untauglicher Totschlagsversuch. Das LG Berlin verurteilte den Angeklagten daraufhin wegen Körperverletzung mit Todesfolge in Tateinheit mit versuchtem Totschlag zu einer Freiheitsstrafe von 4 ½ Jahren und einem vierjährigen Berufsverbot.
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Der BGH bestätigte zwar die Einschätzung, dass die Patientin unzureichend aufgeklärt war und hielt die getroffenen Feststellungen und medizinisch-rechtlichen Bewertungen aufrecht; er hob das Urteil bezüglich des Totschlagsvorwurfsaber auf, weil das notwendige Willenselement des Vorsatzes nur lückenhaft belegt worden sei:[15]
„Das Willenselement des bedingten Vorsatzes ist bei Tötungsdelikten nur gegeben, wenn der Täter den von ihm als möglich erkannten Eintritt des Todes billigt oder sich um des erstrebten Zieles willen damit abfindet. Bewusste Fahrlässigkeit liegt hingegen dann vor, wenn er mit der als möglich erkannten Tatbestandsverwirklichung nicht einverstanden ist und ernsthaft – nicht nur vage – darauf vertraut, der Tod werde nicht eintreten (st. Rspr. […]). Da beide Schuldformen im Grenzbereich eng beieinander liegen, ist bei der Prüfung, ob der Täter vorsätzlich gehandelt hat, eine Gesamtschau aller objektiven und subjektiven Tatumstände geboten (st. Rspr. […]).
Diese hat das Landgericht nicht in dem gebotenen Umfang vorgenommen. Zwar hat es […] zutreffend angenommen, dass eine ausdrückliche Erörterung der Frage, ob ein Arzt einen Patienten vorsätzlich am Leben oder an der Gesundheit geschädigt hat, geboten ist, falls nach Eintritt von Komplikationen der Arzt aus sachfremden Motiven keinen Rettungswagen angefordert hat. Das Vorliegen solcher Motive beschreibt indes keinen Erfahrungssatz, aus dem auf das Willenselement des bedingten Tötungsvorsatzes zu schließen wäre, sondern diese bedürfen ihrerseits wertender Betrachtung im Rahmen der gebotenen Gesamtschau.
Die Schwurgerichtskammer hat […] nicht auf Äußerungen des Angeklagten selbst und offensichtliche, absehbar dramatisch verlaufende lebensbedrohende Verletzungen abstellen können, aus denen weitergehend auf sachfremde Beweggründe seines Handelns zu schließen war.[16] Sie hat allein den Vertuschungshandlungen […] das Motiv entnommen, zum Schutz seiner eigenen Interessen eine Aufdeckung seines ärztlichen Fehlverhaltens zu verhindern; dieserhalb habe er sich mit dem Tod der Patientin abgefunden. Diese Schlussfolgerung entbehrt indes der argumentativen Auseinandersetzung mit gegenläufigen, im Urteil festgestellten Umständen, die vielmehr die Annahme bewusster Fahrlässigkeit rechtfertigen könnten.
Zu Recht weist die Revision darauf hin, dass ein rational verankerter Zusammenhang zwischen dem angenommenen Handlungsmotiv – Vertuschung von Fehlern zur Schonung eigener Interessen – und dem Tod der Patientin wenigstens bei zu erwartendem Todeseintritt in der Tagesklinik des Angeklagten schwerlich bestehen kann: Dass die Operation ohne Anästhesist, aber mit Komplikationen vorgenommen worden war, konnte keinesfalls – schon gar nicht gegenüber dem ständig auf Aufklärung dringenden Ehemann der Patientin – längere Zeit verborgen werden. Ein Todeseintritt in der Tagesklinik hätte bei der zur Wahrung zivilrechtlicher Ansprüche des Nebenklägers sicher zu erwartenden Obduktion die Erkenntnis der wahren Todesursache, der ärztlichen Fehler des Angeklagten, ergeben. Zudem erwägt das Landgericht im Rahmen von Überlegungen zu einem Rücktritt vom Totschlagsversuch, dass der Angeklagte »es für möglich hielt, dass Sch. ohne Verlegung auf eine Intensivstation sterben würde«; hiernach hielt er sogar zu einem relativ späten Zeitpunkt noch eine Rettung der Patientin im Krankenhaus für möglich. Einer starken Skepsis am Überleben der Patientin und einer damit einhergehenden Billigung ihres Todes wenigstens bis zum Transport ins Krankenhaus widerstreiten namentlich die […] festgestellten Antriebe für das pflichtwidrige Handeln des Angeklagten, nämlich »Eigenüberschätzung und Verbohrtheit«.
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