Da die günstigen Hostelbetten im Ort begrenzt sind und doch immer viele Touristen da sind, kann es auch mal eng werden mit den freien Betten. So bin ich einige Nächte morgens über einen mit einem Traveller gefüllten Schlafsack gestolpert, der sonst kein Bett gefunden hätte. Der Hostelbesitzer lässt jeden in so einem Fall auf dem Boden schlafen.
El Chalten ist das Trekking-Paradies im Nationalpark los Glaciares. An wunderschönen Wanderwegen mangelt es nicht. Es liegt zu Füßen der berühmten patagonischen Berge Cerro Torre mit 3.128 Metern und Fitz Roy mit 3.406 Metern an der Grenze zu Chile. Der Blick auf diese Berge vom Ort aus ist grandios. Patagonien ist hier teuer. Es gibt nur wenig Armut und das Land ist sehr dünn besiedelt.
Viele Backpacker sind noch sehr jung. Welche Trekkingtouren man gemacht hat und welche Berge man erklettert hat, ist ein wesentliches Kennzeichen von Größe und Sportlichkeit. Ich kann nicht viel mit ihnen anfangen. Sie scheinen nicht besonders kontaktfreudig oder neugierig mit dem direkten Gegenüber. Sie erledigen alles mit ihrem Smartphone.
Smartphone-Kommunikation verhindert Nähe. Manchmal, wenn ich sie so beobachte, denke ich, sie sind nicht in der Lage, mal nichts zu tun. Sie sind irgendwie gehemmt, wenn sie nicht in Verbindung mit dem Smartphone stehen. Einfach nur da zu sitzen und in die Welt zu schauen – das tun sie nicht. Als ob sie gar nicht existieren könnten ohne das Ding.
Ich habe ein Smartphone – also bin ich. Ich habe ein Smartphone – also werde ich geliebt, weil mir schließlich Leute Nachrichten schicken oder diese Likes auf meine Selfies. Ich bin ein Teil dieser Welt, weil ich ein Smartphone habe. Aber das sind böse Gedanken einer alten Frau, die letztlich von diesen Dingen nicht viel versteht. Diese Entwicklung hat mich überrollt. Das ist nicht mehr meine Welt. Man hat nicht das Recht, etwas zu bewerten, was man nicht wirklich versteht oder kennt.
Ich unternehme viel hier. Mein ganzer Stolz ist eine Trekkingtour von 20 Kilometern. Das ist dann aber auch schon grenzwertig. Da ich langsam wandere, so ein junger Mensch würde sagen in Zeitlupe, kann ich mich leider keiner Gruppe anschließen. Die sind alle schneller und die meisten betreiben es hier sportlich. Dafür sehen sie nicht mal ein Viertel von dem, was ich sehe oder beobachte. Es gibt hier nämlich viele aufregende Vögel. Kondore kreisen über den Bergen.
Ich treffe auf ein Gürteltier. Es ist nicht besonders scheu.
Es hat mich aber doch etwas geschockt, als ich zweimal gefragt wurde, ob es mir gut geht oder ob man mir helfen könne oder gar meinen kleinen Minirucksack tragen solle. Entweder wirke ich so gebrechlich oder keiner kann sich vorstellen, dass jemand gerne so langsam geht.
Ich laufe zur Laguna Capri mit einem traumhaften Ausblick auf den Fitz Roy, zum Glacier Marconi und zu den Wasserfällen. Ich besuche die Laguna y Glacier Huemul und unternehme eine Expedition zum Lago del Desierto. Dort gibt es Bootstouren. Von der anderen Seite des Sees kommt man nach Chile.
Das ist hier wieder alles wie im Bilderbuch, und so schicke ich viele Fotos an meine Freunde. Abends kommen mir Zweifel, ob es nicht zu viele sind. Ich möchte sie weder nerven noch neidisch machen. Es hat viele Reaktionen von Freunden auf meine Reise gegeben. Das beschäftigt mich immer wieder. Meine Reise ist ja aber nur der Anstoß für solche Überlegungen, die sie dann in Bezug auf ihr eigenes Leben anstellen. Aber interessant ist das schon, weil mir einige dieser Gedanken nie gekommen wären. Eine Freundin hat immer wieder überlegt, wie man nur als Frau alleine so weit wegfahren kann und vor allem dann noch ohne Zeitplan. Oder die Angst mancher vor Einsamkeit. Diese Angst hatte ich nie. Aber ich bin wohl auch eher – wie soll ich sagen – progressiv kontaktfreudig. Ich kann mir schon vorstellen, dass Menschen mit mehr Zurückhaltung sich da schwer tun.
Und Neid wurde auch geäußert. Ich versuche, ihn nicht zu verstärken. Schließlich hat alles seine Vor-und Nachteile und so eine Reise ist schon auch immer wieder recht anstrengend. Ich fahre ja nicht in ein Paradies, nur in eine fremde Welt.
Das Fremde muss einen natürlich faszinieren und anziehen. Sonst geht das gar nicht. Und die Neugier muss unermesslich sein. Ich kenne auch Menschen, die sind eben nicht neugierig und es geht ihnen gut damit, mit dem Gewohnten, das ja auch Sicherheit vermittelt.
Für manche ist es ausgesprochen ungemütlich, wenn immer wieder jeden Tag alles neu und relativ unberechenbar ist und man nie weiß, wo man landet, auch innerlich, sozial, psychisch. Für mich ist das wahnsinnig spannend.
Auch fahre ich praktisch niemals an denselben Ort ein zweites Mal. Dazu ist die Welt zu groß. Meine besten Freunde fahren seit 40 Jahren jedes Jahr an dieselben Orte in den Urlaub – und sie lieben es.
Maria hat mir geschrieben: „Wie gut, dass du fährst! Du hast den Frauen dort und uns hier die Möglichkeit einer großen Unternehmung, einer Expedition gezeigt, als Frau und alleine. Du machst damit auch Mut für kleine Expeditionen, hier, wo ich bin, rausgehen, auch alleine.“
Das hat mich sehr gefreut.
Touristen in meinem Alter habe ich hier jetzt noch gar nicht getroffen. Die meisten sind dann doch wohl eher mit einer Reisegruppe unterwegs oder auf einer Kreuzfahrt anzutreffen.
Die jungen Leute sind unbedarft. Gestern haben zwei Deutsche Gleitschirme ausgeliehen und sind vom Berg gesprungen. Ich kann diese Lust ja verstehen, aber unten wurden sie von der Polizei empfangen und zu 100 Dollar Strafe verurteilt, weil das in Patagonien verboten ist. Immer wieder geschieht es, dass sie machen, wozu sie Lust haben, ohne sich auch nur ein einziges Mal erkundigt zu haben, was in so einem anderen Land üblich ist, was erlaubt ist, wie die Sitten und Traditionen sind. Das finde ich oft auch respektlos. Dazu gehört auch das halbbekleidete Schlendern durch Städte, in denen zum Beispiel überwiegend Indigene leben. Haben diese Touristen sich jemals gefragt, wie hier die Frauen gesehen werden, wie moralische Vorstellungen sind? Ich habe mich für diese Europäer immer geschämt.
Am letzten Abend fliehe ich aus dem Hostel. Es ist mir zu laut. Ich gehe ein Bier trinken und lerne Michel aus Irland kennen. Ein netter Kerl. Wir verstehen uns sofort und tauschen unsere Reiseerlebnisse aus.
Das charakteristische an solchen Reisebekanntschaften ist ja, dass man sich meistens nur kurz sieht, dass aber so eine Begegnung ungeheuer intensiv und vertraut sein kann, wie das zuhause in dieser Kürze niemals möglich wäre. Manchmal trifft man sich dann noch einmal oder mehrmals auf so einer Reise und vielleicht hat man auch später noch Kontakt, wenn man wieder daheim ist.
Man hat sich meistens mehr erzählt als sonst üblich wäre in so kurzer Zeit, aber vor allem verbindet einen das Reiseerlebnis, etwas Außergewöhnliches in einer biografisch betrachtet ganz besonderen Situation.
El Calafate
Mit dem Bus bin ich in drei Stunden von El Chalten in El Calafate. Der Ort liegt auch noch im Nationalpark Los Glaciares und ist Ausgangspunkt für Touren zum weltberühmten großen Gletscher Perito Moreno, sicher einem der Höhepunkte Patagoniens. Und deswegen gibt es auch hier viele Touristen. Der Ort lebt heute praktisch nur vom Tourismus.
Calafate ist der Name eines in Patagonien häufig anzutreffenden Strauchgewächses mit gelben Blüten und dunkelblauen Beeren, gut für Marmelade und Likör.
Mein Hostel ist schön, gemütlich und nachdem ich meine Hose ausgewaschen habe, mache ich eine erste Wanderung zur Laguna Nimez.
Der Weg führt einen Kilometer am Ufer des Lago Argentino direkt in dieses Landschaftsschutzgebiet für einheimische Vögel. Es ist eingegrenzt und wird bewacht. Auf einem fünf Kilometer langen Rundweg kann ich neben der einheimischen Flora die Vögel ganz nah beobachten: Enten, Schwarzhalsschwäne, Flamingos, Singvögel, Falken und viele andere. Eine wunderbare Ruhe hier. Die ist für mich vorbei, als ich beobachte, wie sich ein großer Hund vom Strand her durch den Zaun gräbt und in den Lagunen die Flamingos jagt. Ich bin empört. Als ich das später dem Ranger melde, erzählt er, dass das ein großes Problem ist. Da gibt es so viele frei lebende Hunde, die haben Hunger und jagen dann die Vögel. Man versucht, die Hunde zu verjagen, aber das gelingt nicht immer.
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