Ich spürte die Lust und fragte mich, ob das, was uns ruft, auch das ist, was wir suchen. Aber haben wir eine Wahl, wenn wir uns nicht ergeben möchten? Auch wenn wir nach Seifenblasen greifen, im Zwang Windmühlen nachjagen, uns im Kreis drehen oder auf ewig das Kap der guten Hoffnung umsegeln müssen.
Neben der Theke, weiter hinten im Raum, entdeckte ich einen unbeleuchteten Gang mit einer schmalen Treppe nach unten. Ich tastete mich am Geländer hinab, bis sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Jemand kam mir entgegen. Wir drückten uns auf den Stufen aneinander vorbei. Sie war es. Für einen Moment schien es mir, als würden wir kurz verweilen. Aneinandergepresst. Ich fühlte das Weiche an ihr, ich roch sie im Halblicht und spürte ihren Atem in meinem Gesicht. Ein gleichzeitiges, sich widersprechendes Gefühl aus Traum und Substanz. Ohne Orientierung.
Als jeder von uns schon einige Treppenstufen weitergegangen war, drehte sie sich um. Ich sah die Linie, die ihre Gestalt im Schatten des Gegenlichts umriss, und hörte mich sagen: »Sehe ich dich wieder?«
Ich weiß nicht, ob ich es tatsächlich aussprach oder ob ich es nur dachte. Ich weiß auch nicht, ob die Silhouette oben auf den Stufen antwortete oder ob ich mir das einbildete.
»Du findest mich.« Oder: »Du hast mich gefunden.« Vielleicht hörte ich: »Finde mich.«
Dann war sie weg und ich ertastete unten im Dunkeln den Weg zu den Örtlichkeiten. Nichts war eindeutig. Nur eine Lampe flackerte hinter einer Tür, und erst als ich draußen auf der Straße ankam, sah ich im Morgenlicht wieder klarer.
Die Metro war fort und ich überlegte, wieder nach oben in meine Wohnung gegenüber zu gehen, um mich krank zu melden. Für eine Weile stand ich auf der Straße und versuchte, etwas Ordnung in mich zu bringen. Hatte sie mit mir gesprochen? Hatte ich etwas gesagt? Je länger ich darüber nachdachte, desto mehr löste sich das ohnehin wenig Klare wieder auf, als würde ich in das Spiegelbild eines Sees greifen, um es herauszuholen.
Ich wurde aus meinen Gedanken gerissen, als Notfallfahrzeuge mit Sirenen vor der Metrostation stoppten und Sanitäter mit gelben Warnwesten und roten Koffern an mir vorbei nach unten stürzten. Ich trat zur Seite und nur wenige Augenblicke später trafen weitere Rettungskräfte und Polizeiwagen ein. Einige Menschen aus dem Lokal drangen nach draußen, um ihre Neugier zu befrieden. Ich wollte einen Passanten fragen, was vorgefallen sei, doch mit einem Mal erblickte ich den gelben Mantel. Sie erschien auf den Treppen der Metro aus dem Dunkeln im Licht. Umgekehrt wie zuvor auf den Stufen im Keller der Bar, als sie im Hellen verschwand. Sie kam direkt auf mich zu und fragte nach einer Zigarette. Dabei schaute sie mich von unten an und unsere Blicke verhakten sich ineinander. Sie war klein, vielleicht ein wenig größer als eins sechzig. Ich bemerkte ihre langen schwarzen Wimpern und sah zum ersten Mal das flimmernde Zittern im Grün ihrer Augen. Aus meiner Jacke kramte ich eine Packung Gitanes und reichte sie ihr. Während sie hastig an ihrer Zigarette sog, berichtete sie mir, dass unten an den Gleisen ein Kind verunglückt sei. Sie schilderte es mit einem irrationalen Abstand. Fast journalistisch. In kurzen Sätzen. Ihre Stimme war schmal, leicht kehlig und zartklebrig. Ihr Blick verlor sich fern hinter dem Rauch, den sie ausblies.
Es war einer von den Pfadfinderjungen. Sie erzählte von dem lauten, metallischen Quietschen der Bremsen und von den Schreien und der Stille in dem gefrorenem Moment danach. Dann trat sie den noch glimmenden Rest meiner Zigarette mit ihren roten Stiefeln hektisch aus und wir gingen zurück in die Bar, um zur Beruhigung etwas zu bestellen. Ich nahm einen großen Cognac und sie Pastis, den sie fast ohne Wasser trank.
Die Situation war schlimm, es gab etwas, das in uns hineingekrochen war. Vielleicht etwas Uraltes und Böses, das von dem verunglückten Kind aus den dunklen Schächten des Untergrunds zu uns hinübergesprungen war? Heute weiß ich nicht mehr, was und wie. Wir gingen auf die andere Seite zu mir. Wir zogen uns aus und schliefen miteinander. Wir taten uns schwer, sprachen nicht viel, und es fühlte sich an, als wären wir zwei nasse Stücke aus Holz, denen kein Feuer gelang. Ich lag schweigend im Bett, während sie ihre Strümpfe anzog. Wir waren uns in der Nähe so fern. Als sie ging und ich sie fragte, ob ich sie wiedersehen würde, kam sie zurück, nahm mein Gesicht in ihre Hände, küsste mich und sagte leise: »Du hast mich gefunden. Ich danke dir.« Es schien mir, sie würde weinen. Ob ich wirklich Tränen sah, weiß ich nicht mehr. Vielleicht waren ihre Augen nur ein wenig feucht. Ich kann mich nicht mehr erinnern. Ich gäbe viel für diese Gewissheit. Heute weiß ich, dass der, der mit Gewissheit beginnen will, in Zweifel versinkt, und doch ist es die Gewissheit, nach der all die tiefen Gefühle drängen.
Nachdem sie fort war, machte ich mich bald auf zum Marché Beauvau. Zola hat ihn »Bauch von Paris« genannt. Es war noch früh und jetzt hatte ich doch Hunger. Die Gedanken an das verunglückte Kind und an sie in meiner schäbigen Wohnung verdrängte ich so gut es ging.
Ich meldete mich für den Rest der Woche krank. Den Weg zum Markt kannte ich. Eine halbe Stunde zu Fuß. Nur die Rue Rambuteau immer geradeaus runter und hinter dem Place des Vosges die dritte rechts. Da wo die Bäume stehen, die feiner onduliert sind als so mancher Kopfschmuck der extravaganten Models auf den in Paris reichlich vorhandenen Laufstegen. Dann weiter bis zur Bastille. Ab da wird es kniffelig für meinen Orientierungssinn, aber ich war schon zu oft da. Wer unterwegs zum Mahle ist, der kann nicht irren. Oder, wie ich, sich verlaufen.
Ich mochte diesen Markt und das Gewimmel. Das Bunte der Auslagen mit den unzähligen Obstsorten, die in allen Tönen von Grün, Gelb, Rot, Violett oder Blau saftig und prall daliegen. Das konnte einem das ganze Hirn einfärben. In der alten, kleinen Markthalle wollte ich meiner Nase folgen. Mich wie ein Hund durchschnuppern, mit feuchten Lefzen, hechelnd von hier nach dort laufen, mich durchfressen. Ein oder zwei kleine Pasteten, etwas gegrillten oder gebratenen Fisch, Wein und danach Käse. Vielleicht würde ich an den Ständen bei den Trödlern eine Kleinigkeit zur Zerstreuung finden. Einen Aschenbecher, ein Zigarettenetui oder einen Hut. Und dann ginge ich satt und leicht betrunken zurück, um für ein- oder zwei Stunden zu schlafen und sie in meinem Bettzeug zu riechen. Vielleicht hatte sie ihr Höschen dagelassen und ich würde es in einer Ritze wie zufällig finden. Warum hätte sie das machen sollen? Vielleicht dachte sie sogar, dass ich der schlechteste Liebhaber von Paris sei. Aber weshalb hatte sie bei unserem Abschied geweint? Oder bildete ich mir das alles nur ein?
Dennoch: Es galt als unausgesprochen abgemacht, dass wir uns morgen in dem Café wiedersehen würden. Oder? Hoffen ist Sehnen voller Zweifel.
Ihr Name war Elle. Vielmehr wusste ich nicht. Außer dass sie leise sprach und ihre weiße Haut mit kleinen Muttermalen gesprenkelt war. Hatte sie mehr von mir erwartet? Hätte ich sie vielleicht anders nehmen sollen? Aber es gab keine Anzeichen oder Signale, die sie sendete. Fester oder behutsamer. Sie lag einfach da und wir mühten uns ab. Ich glaube noch nicht einmal, dass sie gekommen ist, obwohl ich meinte, ihr verschlucktes Zucken gefühlt zu haben. Ich war wütend auf sie. Wütend auf mich. Selten lief es so schlecht. Ganz kurz kam sogar der Wunsch auf, aufzuhören, sie zu fragen, was los sei, damit sie aus ihrer Trance aufwachen würde und wir uns vielleicht etwas enthemmten. Wenigstens für ihren eigenen Spaß, für den sie sich doch ausgezogen hatte. Doch dieser Reflex verschwand genauso schnell, wie er plötzlich gekommen war, und irgendwie brachten wir es zu Ende. Dabei wäre ich auch gerne sie nur betrachtend neben ihr gelegen, um zu sehen, wie sich ihr Gesicht im Schein des Lichts veränderte. Sie war so schön. Trotz allem wollte ich sie wiedersehen. Ich ahnte ihre Hitze und spürte das Pochen, und es schien mir, als sei hinter ihrer kalten und weißen Haut ein Hochofen, der innerlich brennend auf einen Abstich und auf das Auslaufen des flüssigen, glühenden Eisens wartete.
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