Er gewann die Olympiade und wurde im folgenden Jahr an die Komarow-Begabtenschule geschickt, an der auch andere bebrillte Mathegenies unterrichtet wurden. Allerdings entdeckte er dort seine große Passion: die Physik. Und er entschied nach seinem Abschluss mit Bestnote, dem besonders meinem Bruder gegenüber vielzitierten »Roten Diplom«, Physik zu studieren. Dank der Fürsprache einiger Lehrer gelang es ihm, am Moskauer Institut für Physik und Technologie angenommen zu werden, an einem der führenden Eliteinstitute in der Sowjetunion.
Die Mutter meiner Mutter, Babuda zwei, offiziell Olga, aber am häufigsten Oliko genannt, hatte ein nicht minder tragisches Schicksal als ihre ewige Kontrahentin. Auch sie war in den Wirren der Sowjetisierung Georgiens auf die Welt gekommen, und als Abkömmling der Bourgeoisie hätte sie wie Eter alle Voraussetzungen gehabt, ein unbekümmertes, leichtfüßiges Leben zu führen. Ein schönes vor allem. Denn anders als die Mutter meines Vaters war sie eine Ästhetin durch und durch und der Schönheit auf Gedeih und Verderb verfallen. Alles auf der Welt wurde von ihr nach Schönheit bewertet, und wurde einmal etwas für schön befunden – eine Blume, ein Mensch, ein Haus, eine Katze oder ein Buch –, war es, zumindest bis zur nächsten Entdeckung, das Objekt ihrer vollkommenen Verzückung. Sie musste unentwegt verliebt sein: in die Welt, in die Menschen, in sich selbst. Sie musste verzückt werden, berauscht, trunken sein von allem, was sie umgab, um sich lebendig zu fühlen. Diese Eigenschaft, davon bin ich überzeugt, rettete ihr so oft das Leben und ließ sie, trotz all der schwerwiegenden Verluste – zuletzt der Verlust des eigenen Kindes – nicht verbittern und nicht ihre größte Gabe einbüßen: in jeder Banalität nach einem Wunder Ausschau zu halten. Ja, Babuda eins hatte durchaus recht, wenn sie behauptete, Oliko gleiche einem Schmetterling, der herumflattere, und zwar schön, aber zugleich vollkommen unbeständig sei. Und manchmal erlosch ihr Interesse genauso schnell, wie es aufgeflammt war, und natürlich wurden die meisten ihrer Pläne und Vorhaben nicht umgesetzt, etwas, das Eter zutiefst suspekt war, denn sie war eine Frau der Gründlichkeit, aber für Oliko kam es darauf gar nicht an.
Wenn ich heute darüber nachdenke, fällt mir kaum ein anderer Mensch ein, der diese uneingeschränkte Fähigkeit zum Glücklichsein besessen hat. Und dass das Leben ihr gegenüber so mit dem Glück geizte, erscheint mir ebenso ungerecht wie dumm. Denn das Leben sollte demjenigen, der es jeden Tag zu feiern bereit ist, entgegenkommen, sollte mit ihm einen lebenslangen Tanz tanzen. Aber wie so oft war es dem Leben egal, mit welchen Erwartungen wir an es herantreten, aber vor allem war es in Olikos Fall zunächst einmal den Bolschewiken egal.
Olikos Vater war Chirurg und frankophiler Sozialdemokrat der ersten Stunde, ein glühender Anhänger der Republik, die in seiner sonnigen Heimat nur drei Jahre hatte bestehen können, und er beschloss trotz des Angebots seines Bruders, der noch vor der Revolution nach Frankreich emigrieren konnte, ihm nachzufolgen, in seiner Heimat zu bleiben – so schlimm würde es schon nicht werden. Das hatte er noch bis zu dem Tag wiederholt, an dem er enteignet und gedemütigt, von schwarz gekleideten Tschekisten abgeholt und ins Metekhi-Gefängnis geworfen wurde. (Oliko nannte sie immer »die Tschekisten«, und ich brauchte eine Weile, um zu begreifen, dass »die Tschekisten« und »die Bolschewiken« ein und dasselbe waren.) Den Chefarzt des Michailowski-Krankenhauses werde man nicht so leichtfertig hinter Gitter bringen, hatte er angeblich immer wieder betont. Und dann hatte er doch bei der Verhaftung, bei der er kein Wort gesagt haben soll, einen bereits fertig gepackten Koffer unter seinem Bett hervorgeholt.
Über die Jahre wurde dieser braune, abgenutzte Koffer auch für mich zu einem Symbol von allem Kolossalen und Eruptiven, das von einem Tag auf den anderen in unser Leben hereinbrechen und dort alles verwüsten kann, was wir uns in mühseliger, jahrelanger Arbeit aufgebaut haben.
Lange, quälende Monate der Ungewissheit begannen. Olikos Mutter stand ganze Nächte lang vor dem Metekhi-Gefängnis, übervoll mit Menschen, die es nicht geschafft hatten, den falschen Götzen zu huldigen. »Deportation wäre schlimmer gewesen, immerhin hatte er die Hoffnung, in seiner Heimatstadt und damit in der Nähe seiner Familie zu bleiben.« Eter ging an dieser Stelle der Erzählung regelmäßig dazwischen, als gälte es, sich auch im Leid mit ihrer innig geliebten Konkurrentin zu messen. Spätestens wenn Oliko von dem einzigen Treffen zwischen ihrer Mutter und ihrem Vater zu erzählen anfing – wie es ihrer Mutter gelang, die Wachmänner zu bestechen und das mit allergrößter Mühe zusammengestellte Päckchen mit Nahrung und ein paar sauberen Kleidungsstücken durch die dicken Gefängnismauern zu schleusen, und wie der an Diphtherie erkrankte und geschwächte Vater das Paket dann fallen ließ, weil seine Hände zu sehr zitterten –, langte es Eter und sie unterbrach Oliko mit einem spitzen Kommentar. Ihrer Mutter sei es immerhin gelungen, ihrem Vater etwas zukommen zu lassen. Da verlor dann Oliko die Contenance und fuhr Babuda eins mit der für sie so typischen hohen Stimme an: »Wie kannst du es wagen, dir so etwas anzumaßen! Du hast doch gar keine Vorstellung, wie es für meine Mutter war und wie wir uns gefühlt haben! Sie haben dir wenigstens deine Mutter gelassen, mir ist auch sie entrissen worden …«
Und schon ging das ganze Theater von vorn los, in den Hauptrollen: Eter, die strenge, disziplinierte, harsche Mutter unseres Vaters, und Oliko, die verträumte, ewig romantische und kindlich begeisterungsfähige Mutter unserer toten Mutter.
Meist endeten solche Szenen damit, dass eine der beiden beleidigt aus dem Zimmer stürmte und das Areal ihrer Konkurrentin überließ. Wir aber blieben so oder so in den Fängen ihrer Geschichten, für uns schienen sie gar keinen großen Unterschied zu machen: Sie waren gleich traurig und gleich erschreckend und gleich fern. Mein Bruder und ich waren dazu verdammt, die ewigen Zuhörer zu sein, und sogar er, der sich später in seiner kompromisslosen Rebellion so sehr von der Familie abwandte, verstand damals, dass sie uns brauchten, mehr noch als wir sie. Dass ihre Tragödien und Komödien stets hinter verschlossenen Türen stattgefunden hatten, und dass diese Tatsache vielleicht das allergrößte Drama ihres Lebens darstellte.
Olikos Vater blieb der Gulag erspart. Denn die unwürdigen Zustände im Gefängnis, die nicht vorhandene Hygiene, aber allem voran die Entmenschlichung der Mitinsassen durch die Wachen, deren Zeuge der lebensfrohe Arzt wurde, bereiteten ihm ein schnelles Ende. Und als die Familie glaubte, das Schlimmste liege hinter ihr, wurde auch die Mutter abgeholt und nach Petschora, in die Teilrepublik Komi, deportiert. Zusammengepfercht wie Vieh in engen, fensterlosen Kabinen auf einem kleinen Schiff schnitten sie durch die hohen Wellen des Weißen Meers und fuhren bis ans Ende der Welt, dort, wo das Überleben nur möglich war, wenn man das Menschsein ablegte wie einen wunderschönen Seidenumhang, der sich im tiefsten Winter als nutzlos erweist.
Dann kam die Stelle, an der es meinem Bruder und mir gleichzeitig die Tränen in die Augen trieb, und zwar unabhängig davon, wie oft wir sie bereits gehört hatten und wie genau wir Olikos Wortwahl kannten, wenn sie beschrieb, was sie erst viele Jahre später von einer Überlebenden erfahren hatte: wie ihre Mutter in der arktischen Wildnis, bei unvorstellbarer Kälte, den anderen Lagerfrauen georgischen Gesang beibrachte und sie beim Holzhacken mehrstimmig »Zizinatela« sangen. Olikos Stimme riss an dieser Stelle ab, und es entstand eine unerträgliche Pause, die keiner von uns zu füllen vermochte.
Olikos Schwester, die laut Oliko noch nie im Leben ein Rührei zubereitet hatte und stattdessen Tage hindurch in drei verschiedenen Sprachen las, sah sich gezwungen, für sich und ihre Schwester nach einem Weg zu suchen, der ihr Leben sicherer machen würde. Und so heiratete sie, ähnlich wie meine Babuda eins, einen »Apparatschik« (auch so ein Wort, das mir bedrohlich und fremd vorkam wie ein gefährliches Zauberwesen aus einem Märchenbuch), einen NKWD-Mitarbeiter. Sie sagte Ja zu jemandem, den sie abgrundtief verachtete. Das schlechte Gewissen wegen des Opfers, das ihre Schwester für sie brachte, wurde Oliko ihr ganzes Leben lang nicht los. Beide überlebten. Auch den Krieg, der die ganze Welt erzittern ließ und die Zeitrechnung auf die Stunde null zurück-
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