Jakobus ging los, die Wächter drängten sich vor ihn, um einen Weg durch den Haufen zu bahnen. Beim Anblick der Holzknüppel stoben sie auseinander wie das Wasser bei Ebbe im Meer. Als Jakobus oben angekommen war, ging er an das Geländer. Die Menge hob ihre Köpfe zu ihm und es wurde still. Jeder wollte hören, was der Einzige, der Gerechteste unter den Gerechten ihnen sagen wollte.
In diese Stille donnerte die Stimme eines Pharisäers. „He, Gerechter, du, der so viele Menschen getäuscht hast, damit sie ihre Rettung suchen. Wo ist dieser Weg?“
Jakobus hatte eine solche Frage nicht erwartet. Zunächst stutzte er, schaute in die Gesichter der Menschen, die seiner Antwort harrten, fasste Vertrauen und sprach laut, sodass alle ihn hören konnten.
„Es gibt nur einen Weg, der zu unserem Gott führt. Und dieser Weg ist der der Gerechten. Ich bin gekommen, um Euch allen zu sagen, Euch, von den Dämonen des Belial6 Versklavten, dass das Ende der Tage kommt. Und mit ihm kommt das Reich Gottes. Ich bin gekommen, um Euch eine wohltuende Kunde zu bringen, das Jubiläum7 ist zu Ende, und mit dessen Ende sind alle Eure Sünden getilgt. Ihr werdet zu den Söhnen des Lichtes zurückkehren. Ich bin gekommen, Euch zu sagen, dass der Allmächtige, der sich wegen unserer Sünden zurückgezogen hat, nach Hause kommen wird.“
Jakobus hielt inne und streckte die Hand zum Tempel. „Und zu seiner Rechten wird sitzen der Menschensohn und es werden kommen auf Wolken die himmlischen Heerscharen.“
Seine Worte wurden mit freudigen und begeisterten Ausrufen begleitet.
„Hosanna dem Sohne Davids!“
Die Pharisäer und Schriftgelehrten, die hinter Jakobus auf dem Dach standen, sahen sich verwundert an. Einer von ihnen sprang auf und stieß den Alten in den Rücken. Jakobus stürzte über das Geländer und schlug hart auf den Steinen auf.
Die Menge trat geschockt von seinem Körper zurück. Keiner konnte das Geschehene glauben. Alle Blicke waren auf Jakobus gebannt. Sie hielten ihn für tot. Doch der Mensch bewegte sich und langsam erhob er sich auf seine vom vielen Beten geschundenen Knie.
Ein neuer Schrei ging durch die Menge. „Er lästert Gott! Werft Steine auf ihn!“
Vor dem Haufen erschienen einige Männer, die anfingen, Steine auf den Alten zu werfen. Dieser hob seine Hände zum Schutz.
„Mein Gott, ich wollte nur ein wenig Zeit, um das Reich Gottes zu sehen“, flüsterte Jakobus mit letzter Kraft.
Aus der Menge schritt ein kleiner untersetzter kräftiger Mann. Er trug einen flachen Holzpflock, mit dem die Frauen die Wäsche wuschen. Sobald er bei dem Gestürzten ankam, hob er ihn, schwang ihn einige Male und ließ ihn niedersausen.
Der Kopf des Opfers zersprang, Teile seines Gehirns und Blut flogen durch die Gegend.
Der Mensch wurde unter den erstarrten Blicken der versammelten Menge zermalmt.
1Tag der Sündenvergebung, der größte jüdische Feiertag, den nach dem Gregorianischen Kalender ungefähr im September–Oktober gefeiert wird.
2Herodes Agrippa II. (27; † 92/93 n. Chr.), König der römischen Provinz Judäa von 48 bis 70, der letzte König aus dem Geschlecht der Herodianer.
3Heiliger Paulus (vor 10 vermutlich; † nach 60).
4Hannas der Jüngere (?; † 68), Sohn des Hohenpriesters Hannas ben Seth.
5Der Sanhedrin ist ein hohes richterliches Amt in der jüdischen Selbstverwaltung, einem Rat der Ältesten bei den Juden.
6Dämonisches Wesen in der jüdischen Bibel, Teufel.
7Die Zeitperiode von 49 Jahren.
2
Im Jahre 33 der Herrschaft von Kaiser Augustus (6 n. Chr.)
Es waren unsichere Zeiten angebrochen. Gewalt und Chaos herrschten in den Ländern Galiläa und Judäa. Nachts erhoben sich Flammen verbrannter Häuser, tagsüber überfielen Räuber auf den Wegen die Karawanen, raubten die Waren und köpften die Menschen.
So ging das schon seit zig Jahren. Seit Herodes der Große gestorben war. Der König, der mithilfe von Rom an die Macht gekommen war, der König, der das Land mit eiserner Hand geführt hatte, der König, der in Wildheit und Grausamkeit nicht seines Gleichen hatte. Er hatte seine eigenen Kinder umgebracht. Was blieb wohl für die anderen? Selbst Caesar Augustus hatte erklärt, er wäre lieber ein Schwein an dessen Hofe als sein Sohn. Deshalb wurde Herodes von allen gehasst.
Vom einfachen Volk, von den Bauern, von den Kaufleuten und Handwerkern, von denen in den Bergen und Ebenen, selbst von den Reichen, die sich vor seiner Macht und Rache fürchteten. Sie hassten ihn, denn er war kein Jude und hatte keinerlei Recht auf den Thron Davids. Die Priester weigerten sich, ihn als den erwarteten Messias auszurufen, und er rächte sich an ihnen, indem er sie im Schatten der Nacht hatte hinrichten lassen.
Man hasste ihn, weil er die Söhne seiner ersten Frau Mariamne umgebracht hatte, die in erster Linie von dem königlichen Geschlecht der Hasmonäer8 abstammte. Man hasste ihn, weil er sie ungerechterweise der Untreue bezichtigt hatte und sie hinrichten ließ und später noch einige Male heiratete. Man hasste ihn, da er ihren Bruder hatte umbringen lassen, ein Jüngling noch, der zur Freude des Volkes gerade erst das Gewand des Hohen Tempelpriesters erhalten hatte.
Man hasste ihn, weil sein Stamm in Inzucht versunken war, die nächsten Verwandten heirateten untereinander.
Man hasste ihn, weil er den römischen goldenen Adler über dem Hauptportal des Tempels hatte anbringen lassen und befohlen hatte, zweimal täglich Opfergaben zu Ehren von Caesar darzubringen.
Man hasste ihn, weil er die Gefängnisse mit seinen Gegnern gefüllt hatte, die am Tage seines Todes hätten hingerichtet werden sollen, sodass ein jeder im Volk jemanden zu beklagen hatte.
Vor dem Zorn und dem Hass der Menschen schützten ihn weder der Bau von Städten, Häfen und Festungen noch die Wiederherstellung und Erweiterung des Tempels.
Und als er unter qualvollen Leiden starb, weinte ihm keiner nach. Selbst seine Nächsten nicht.
Sein Körper war noch nicht erkaltet und seine Grabstätte war schon geschändet. Der königliche Sarg aus rotem Kalkstein war in Hunderte kleine Stücke zerbrochen, seine sterblichen Überreste auf das Feld geworfen, damit ihn die Raubtiere und Geier zerreißen würden.
Die thrakischen Söldner bewachten ihn nicht mehr.
Die Menschen, die sich im Namen des Volkes gerächt hatten, wurden von einigen Rebellen angeführt, unter denen auch Judas von Gamala zu finden war. Doch jeder kannte ihn unter dem Namen Judas der Galiläer. Er hatte geschworen, dass er die Römer vom Land Gottes und die korrupten Priester aus dem Tempel vertreiben würde. Mehr noch hegte er einen tiefen persönlichen Hass gegen Herodes, denn dieser hatte seinen Großvater Hezekiah gefangengenommen und umgebracht.
Doch der Aufstand brachte keinen Erfolg. Publius Varus, der römische Statthalter der Provinz Syrien, schickte seinen Sohn mit drei von vier seiner eigenen Legionen und vernichtete diesen mit absichtlicher Grausamkeit und Brutalität. Nur Judas hatte sich retten können.
Während dieser Zeit existierten drei philosophische Schulen, die sich mit öffentlichen gesellschaftlichen und geistlichen Dingen beschäftigten: die der Sadduzäer, die der Pharisäer und die der Essener. Diese des Lehrers Judas wurde die vierte.
Sie wurde die Schule der Zeloten genannt.
***
Um den Tisch saßen viele Leute. Schweigsam aßen und tranken sie. Die Nacht hatte sich schon gesenkt und das Feuer in den Leuchtern flackerte von Zeit zu Zeit, wenn der Wind durch den langen und niedrigen Raum wehte. Einige Frauen sorgten dafür, dass Essen nachgereicht wurde und die Gläser nicht leer blieben.
An der Stirnseite des Tisches saß Judas der Galiläer, rechterhand von ihm hatte sich der Lehrer, oder Zadok, wie sie alle ihn nannten, niedergelassen. Er allein aß kein Fleisch und trank keinen Schluck Wein.
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