Karl Rahner zeigte diesen weiten Horizont in einer Offenheit, die aus der Weisheit des Alters zu kommen scheint. In einem Symposion des Instituts für Südost-Asien (Universität Wien, etwa 1985), das über das Verhältnis von Christentum und Hinduismus gehandelt hat, sagte er: „Es möge mich der Blitzstrahl des Banns nicht treffen aber zwischen den beiden besteht wahrscheinlich gar kein Unterschied“. Einige seiner jungen Mitbrüder in den hinteren Sitzreihen murrten und einer von ihnen sagte: „Das könne man so nicht sagen!“ Eine Aufzeichnung wird sich sicher noch im Archiv des Instituts befinden.
Die Vorstellungskraft des Menschen ist eine wichtige Voraussetzung für ein optimales Leben – „Denken ist Probehandeln im Kopf!“ Das Theater und seine Wirkkraft beruhen auf der Vorstellungskraft der Schauspieler; die Wissenschaft und ihr Fortschritt ist ohne Fantasie der Forscher nicht denkbar und auch Yoga verwendet viele Vorstellungsbilder als psychotherapeutische Instrumente auf dem Weg zur angestrebten Weisheit. Wenn sich aber diese Vorstellungen im Faktencheck nicht bewahrheiten, führen sie in die Einbildung und an die Schwelle der Psychiatrie.
Die Aufklärung als geistige Disziplin hat den Prozess des religiösen Glaubens, dem die Kirchen Vorrang vor der Rationalität gegeben haben, fragwürdig gemacht. Die christliche Religion hat ein Problem mit der „Erkenntnis“, da der Verzehr der Frucht des Baumes der Erkenntnis an der Vertreibung aus dem Paradies schuld war.
Obwohl diese Erzählung aus der jüdischen Bibel stammt, nahmen die Juden diese Passage aus ihrem Buch nicht so ernst. Die Juden trieben die intellektuelle Bildung allerdings auch nur für die Buben – durchs Mittelalter und in die Neuzeit herein – sehr ernsthaft. Eine gewisse Erkenntnishemmung bei den Christen bei gleichzeitiger Erkenntnisfreiheit bei den Juden und die daraus entstehenden Nachteile bei der Mehrheit der Bevölkerung könnte ein Grund für die Judenaversion gewesen sein – Eifersucht ist immerhin ein starkes Motiv für Hass.
Das Christentum mit seiner Lehre von der Erbsünde zeigt ein gespaltenes Verhältnis zur Erkenntnisfähigkeit, die die Bedingung für die Aufnahme im Himmel ist; Tiere haben nach der verbreiteten Lehre keinen Zugang dorthin. Andererseits war die Befriedigung des Erkenntnisbedürfnisses der Menschen die Ursache für die Vertreibung aus dem Paradies.
Die Verfolgung der Astronomen im 16. und 17. Jahrhundert (etwa Gaetano Bruno und Galileo Galilei) durch die Inquisition führte zu einem Vertrauensverlust in die Kirche; auf Grund der historischen Last tat sie sich in der Folgezeit schwer, für einer explodierende Wissensentwicklung ein weises Korrektiv zu werden. Es gibt nicht nur den industriell-militärischen Komplex, den der frühere amerikanische Präsident Eisenhower problematisch nannte; sondern auch der Komplex von Wissenschaft und Wirtschaft ist aus den Ufern eines vertretbaren gesellschaftlichen Verhaltens geraten.
So ist auch das, was als „rational“ bewertet wird, oft nur auf einem niederen Niveau; das traf etwa die sogenannte „Rationalisierung“ als Ersatz menschlicher Arbeit durch Maschinen. Die Wirtschaftswissenschaft bleib mit der „Rationalisierung“ hinter der Rationalität zurück; nur die gewünschten Folgen und nicht auch die negativen Nebenwirkungen zu berechnen, ist schwach (siehe später). Dass die Kirche die Schwächen des eigenen Systems kaum bemerkt hat, ist menschlich verständlich; dass sie sich aber so weit von der Philosophie entfernt hat, dass ihr die Pseudorationalität in der Welt nicht aufgefallen ist, ist peinlich. Der Einsatz linearer Rationalität zur Lösung komplexer Sachverhalte verschleudert eine menschliche Qualität unter ihrem Wert.
Das geozentrische Modell der Kirche hat naturwissenschaftlich versagt. Und in dem, was man heute kognitive Wissenschaft nennt, hatte sie ein einfaches Modell. Sie gab vor, zu wissen, wie sich Gott die Menschen wünscht. Die Gläubigen brauchten nach dem Beichtspiegel nur angeben, inwiefern sie diesem Bild nicht entsprachen. Nach der Aufschrift „Gnothi seauton“ (erkenne dich selbst) im Tempel des Apollon in Delphi versuchte die griechische Philosophie, die Sache der Identität des Menschen vorsichtiger anzugehen; die Yoga-Bewegung macht die Selbsterkenntnis sogar zu ihrem zentralen Thema.
Die Kirche stellte und stellt Gott in das Zentrum ihrer Verkündigung. In der Bibel wird verlangt, sich kein Bild von ihm zu machen, sodass die Beziehung zu ihm nur in der Gefühlssphäre, also im eigenen Körper, stattfinden kann; dafür ist Sensibilität notwendig und damit könnte sich auch das innere Maßsystem, das sowohl nach dem eigenen Glück strebt als auch der sozialen Verantwortung Raum gibt, entwickeln.
Weil das offensichtlich gefehlt hat, ist es zu dem erstaunlichen Phänomen mit dem Namen „selbsterfüllende Prophetie“ gekommen. Die Erkenntnisexplosion gefährdet durch ihre Schattenseiten (etwa Klimaerwärmung, Meeresverschmutzung und Plünderung der Bodenschätze) den Lebensraum des Menschen; diese Art von Erkenntnis könnte leicht zur „Vertreibung aus dem Paradies“ führen. Hat nun die Bibel doch Recht? Indem die Kirche mit ihrer Erkenntnisaversion die intellektuelle Entwicklung nur sehr zögerlich und unwillig mitgetragen hat, war sie kein Gesprächspartner für die Wissenschaft und wurde vom Fortschritt überrollt.
Ähnlich wie der Kirche in der Vergangenheit geht es der Politik in der Gegenwart. Durch ihre Ideologiebindung sieht sie das Offensichtliche nur mit großer Verzögerung – die Hippies erkannten schon vor 50 Jahren, dass der aktuelle Lebensstil weder für die Menschen noch für die Welt gut ist. In den Diktaturen werden die „Humansensoren“ gewöhnlich entsorgt; aber auch in Westeuropa geriet eine bedenkenswerte Idee ins Räderwerk der Gewalt. Es geht um die Rote Armee Fraktion (RAF); sie war eine Splittergruppe der 68er-Bewegung.
Wikipedia beschreibt den auslösenden Gedanken in einem kleinen Absatz, für die resultierende Gewalt braucht es hundert Seiten. Manche jungen Leute erkannten, dass die Ideologie des Nationalsozialismus und ihr imperialer Anspruch ein großes Unglück ausgelöst hatte; sie erkannten aber auch, dass die Vereinigten Staaten von Amerika aktuell in Vietnam den Kapitalismus verteidigen und hielten das für Imperialismus. Aus heutigem Wissen ist die moderne Wirtschaft ohnedies Wahnsinn und ihre Verbreitung ein Unglück. Hätte die Politik versucht, die ursprüngliche Forderung der RAF, die auf Verbesserung der Arbeitsbedingungen gerichtet war, zu verstehen, und nicht nur auf die Gewalt zu reagieren, wäre die weitere Entwicklung weniger fehlerhaft abgelaufen.
Die Kirche nimmt Gott in das Zentrum ihrer Verkündigung, obwohl ihre Vertreter nur eine Vorstellung von ihm haben können, indem sie an die biblische Offenbarung glauben. Jemandem zu glauben, ist gut als Impuls, ein hartnäckiger Glaube allerdings erzeugt eine Scheinsicherheit, die für den, der sich im Raum der Unsichtbarkeit bewegt, ziemlich gefährlich ist. Meine physische Blindheit weist mich täglich auf diese Tatsache hin; und so bin ich angeregt, diese Erfahrung auch in meine philosophischen Gedanken einzubringen. Es ist wichtig, sich stets aktuell zu orientieren und dafür seine eigenen Fähigkeiten zu fördern.
Ich weiß nicht mehr von der unsichtbaren Welt als alle anderen, ich bin aber mehr geübt darin, mich in ihr zu bewegen.
Das innere Maßsystem, das sowohl nach dem eigenen Glück strebt als auch der sozialen Verantwortung Raum gibt, hat sich in unserer Kultur nicht ausreichend entwickelt. Diese Diagnose fordert auf, die Ursache zu erforschen und eine Therapie zu entwickeln.
In der Aufklärung ist Skepsis die ständige Begleiterin der Wissenschaft geworden; und diese ist in ihren vielen Disziplinen enorm erfolgreich. Aber, wie es scheint, vernachlässigt die Aufklärung die Besinnung auf den gesellschaftlichen Grundwert: die Berücksichtigung der Lebensinteressen der zukünftigen Generationen. Die Erforschung der Zukunft ist viel zu spät wissenschaftliche Disziplin geworden.
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