Ich wedele erneut. Höre nicht auf zu wedeln, bis die Fliege aufgibt und sich stattdessen an die Wand setzt.
Dagmar sieht auf ihre Armbanduhr.
„Es tut mir leid, aber wir müssen auch weiter, Torben. Auf Streife.“
Torben dreht seine Mütze in den Händen.
„Es ist ja fast nicht zum Aushalten. Mit so einer Nachricht zu kommen, wenn ihr bereits …“ Er macht eine Handbewegung.
„Wir müssen euch leider eine unangenehme Nachricht überbringen“, sagt Dagmar. „Wollt ihr euch setzen? Beziehungsweise … willst du sitzen, Eva?“
Ich blicke mich im Schlafzimmer um, aber da ist nur das Doppelbett.
„Ist schon in Ordnung“, sage ich. „Wie ist es mit euch? Soll ich ein paar Stühle holen?“
„Mach dir keine Gedanken. Wir fahren gleich wieder.“ Sie sieht zu Torben, der nickt und sich die Mütze auf den Kopf setzt.
„Die Sache ist die“, sagt er, „wir erhielten heute früh einen Anruf von der Kirche. In der Nacht war jemand da und hat Verwüstungen angerichtet. Auf dem Friedhof.“
„Dem Friedhof?“, flüstere ich.
„Es ist dein Vater, Steen. Sein Grab …“ Torben wechselt die Stellung. „Wir bedauern sehr, euch die Nachricht überbringen zu müssen. Es war der Küster, der uns kontaktiert hat. Er entdeckte, dass etwas auf den Stein geschrieben worden ist.“
„Also Graffiti?“, frage ich.
Torben schüttelt den Kopf.
„Es hat sich gezeigt, dass es eine Art Künstlerfarbe ist. Es war sehr akkurat ausgeführt. Mit einem dünnen Pinsel. Der Betreffende hat sich Mühe gegeben. Dennoch war es schwer zu entziffern. Der Regen hat einiges zerstört. Und besonders herausgefordert sind wir dadurch, dass es nicht mit Buchstaben geschrieben ist, sondern mit chinesischen Zeichen.“
Es herrscht einen Augenblick Stille, in der nur das Ticken der Wanduhr zu hören ist.
„Wir lassen das natürlich gerade übersetzen“, sagt Dagmar. „Aber es ist schwierig, wenn ein Teil der Farbe verschwommen ist.“
„Zunächst glaubte der Küster, dass es sich bloß um einen Jungenstreich handelt“, sagt Torben. „Doch als er es sich näher besah, konnte er sehen, dass jemand in der Erde gegraben hatte.“
„Ansonsten war gerecht worden und alles“, sagt Dagmar. „Und die Kieselsteine und alles waren wieder an Ort und Stelle.“
„Der Betreffende hat sich Mühe gegeben, um alles so zu hinterlassen, wie es war“, sagt Torben. „Doch wir haben die Kriminaltechniker angefordert, und diese haben unseren Verdacht bestätigt.“
Er macht eine kurze Pause. Dann sagt er:
„Das Grab ist geöffnet worden.“
Der Drache vor unserem Haus war aus Eisen und alten Autoteilen gebaut. Halb Reptil, halb Vogel mit vier Beinen und großen Nasenlöchern.
Normalerweise wohnten Drachen in Höhlen, so wie Einhörner, und zeigten sich Menschen nur, wenn etwas Wichtiges passieren sollte. Unser Drache stand hier jeden Tag, aber jetzt hatte er dennoch etwas Neues an sich. Etwas im Inneren der grünen Glasaugen. Eine Warnung?
„Komm“, sagte Vater zum zweiten Mal. Er hielt meine Schulter. Als er es das erste Mal sagte, begann ich zu laufen. Vater holte mich bereits im Vorgarten ein.
„Sie wartet auf dich“, sagte er. „Drinnen im Haus.“
„Ich muss Pipi.“
„Du musst jetzt stark sein. Dein Hochzeitstag soll ein fröhlicher Tag sein.“
„Ich bin acht Jahre alt“, flüsterte ich.
Meine Stimme war so leise, dass ich nicht wusste, ob Vater sie hörte. Vielleicht tat er nur so, als hörte er sie nicht.
„Geh hinein zu ihr“, sagte er.
Mein Körper wusste nicht, was zu tun.
„Die Familie ist das Wichtigste“, sagte Vater. „Vergiss das nicht.“
Ich nickte. Entweder gehörte man dazu, oder aber man war allein. Allein war das Unheimlichste, was ich mir vorstellen konnte.
Vater legte mir eine Hand auf den Rücken. Zwang meine Beine vorwärts.
Auf dem Weg zum Haus drehte ich mich um. Die grünen Augen des Drachen blickten mir hinterher.
Es plätscherte in der Kloschüssel, und ich blickte an die Wand. Stand lange an der Toilette, nachdem es zu tropfen aufgehört hatte. Wenn ich lange genug hinsah, tauchten Gesichter in den türkisfarbenen Glasmosaiken auf. Leute mit langem Bart und Hüten. Mit aufgesperrten Mündern und Augen, die mich anstarrten.
Es klopfte an der Tür. Eine Verriegelung gab es nicht. Ansonsten hätte ich vielleicht nie mehr geöffnet.
Im Haus war der Geruch nach Räucherstäbchen stärker geworden. Es roch auch nach Fritteuse und Mutters Parfum. Sie hatte ihr schönes Seidenkleid angezogen, das mit den roten Vögeln. Ihr langes schwarzes Haar war aufgerollt und mit zwei Essstäbchen festgesteckt.
„Erst musst du ihre Schuhe finden“, sagte Vater.
„Sind sie weg?“
„Eine Braut ist erst vollständig, wenn ihr Mann ihre Schuhe gefunden hat und sie ihr anzieht.“
Ich blickte zur Bank in der Diele. Auf der obersten Ablage standen drei Paar Damenschuhe aus Velours mit flachen Absätzen und dünnen Riemchen. Doch die gehörten Mutter.
Vater gab mir einen Schubs. Meine Beine fühlten sich eigenartig an. Auch wenn er nicht stark schubste, fiel ich beinahe hin.
„Während der Bräutigam sucht, zerren und schubsen alle Hochzeitsgäste, damit es schwieriger wird.“
Vater zog mich am Arm. Es tat nicht weh. Dennoch brannte es hinter den Augen.
Aber da sind doch nur wir beide, wollte ich sagen. Stattdessen stand ich ganz steif da und rieb mir die Stelle, an der er mich gepackt hatte.
„Vielleicht könnten wir ein wenig helfen?“, sagte Mutter.
Vater strich sich mit der Hand durchs Haar. Machte versehentlich seinen Seitenscheitel kaputt.
Sein Schweigen erfüllte den Raum. Es sickerte gewissermaßen aus ihm heraus wie Rauch aus dem Nasenloch eines Drachen. Vielleicht dachte er, dass er stattdessen meinen Bruder hätte wählen sollen.
„Vogel, Fisch oder irgendwo dazwischen?“, fragte ich ihn.
Er blinzelte. Sah mich an.
„Vogel“, sagte er.
Ich blickte nach oben. Die Decke war geschmückt mit gelben Laternen aus dünnem Reispapier, und ich ging in der Diele herum. Hob Jacken an und zog Schubladen der Kommode heraus. An der Wohnzimmertür hing immer noch der Tiger mit seinen großen Zähnen. Auch an der Küchentür war jetzt eine Tigerzeichnung angebracht. Es war, als schrumpfte das Haus.
Ich ging hin und her. Es war schwer, sich zu konzentrieren. „Du musst wärmer oder kälter sagen.“
„Kälter“, sagte Vater. „Sehr kalt.“
Ich ging in die andere Richtung, zurück zur Wohnzimmertür.
„Wärmer“, sagte Vater. „Heiß an deinen Haaren.“
Ich blickte nach oben.
Da waren sie. Auf der Ablage mit Vaters Hüten. Zwei kleine weiße Brautschuhe.
Vater half mir, sie herunterzuholen. Ich wedelte mit ihnen, aber Mutter lächelte nicht.
„Ich hole die Suppe“, sagte sie.
Es war schwer zu essen, ohne Luft zu holen. Der Geschmack verschlimmerte meine Übelkeit. Soja, Essig, Senfsoße, Pfeffer, Salz und Zucker. Alle fünf Geschmäcker mussten vorhanden sein. Sauer, süß, salzig, bitter und umami.
„Es ist wichtig, dass du alles isst“, sagte Vater.
Ich traute mich nicht zu fragen, warum. Er hatte denselben Ausdruck, wie wenn er den Kasten mit den toten Schmetterlingen holte. Die, die er in seinen Märchen verwendete. Seine Geschichten waren immer unheimlich. Sie handelten von Verwünschungen und bösen Vorzeichen, Hundegeheul und Krähengeschrei. Von Gespenstern, Flammen und hungrigen Geistern, die wie Fledermäuse in den Straßen herumflogen.
Mutter betrachtete mich, während ich aß. Sie hatte Ohrringe angelegt und die Augen schwarz angemalt, was sie schließlich entfernen musste, weil es die ganze Zeit verlief.
Vielleicht hatte sie Vaters Regel nicht gehört, dass es verboten war, noch mehr zu weinen.
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