„Wu-Chao. Wu-Kang.“ Er lächelte uns an. Erhob die Hände, um uns heranzuholen.
Wir gingen langsam vorwärts und stellten uns vor ihn hin.
„Meine Söhne.“ Vater legte eine Hand auf die Schulter meines Bruders und eine auf meine. Sein Körper ähnelte unserem, auch wenn wir erst acht Jahre alt waren: schmächtig und nicht besonders groß.
„Die Familie ist das Wichtigste“, sagte er. „Immer.“
Wir nickten.
„Versteht ihr das?“, fragte er.
Wir nickten erneut.
Er kniff die Augen zusammen, sodass sie noch kleiner wurden, als sie es sowieso schon waren.
„Heute ist ein Festtag. Und ich möchte gern, dass ihr das respektiert. Keine weiteren Tränen. Keine weiteren Diskussionen. Heute sind wir fröhlich. Alle zusammen. Okay, Jungs?“
Mein Bruder sah nach unten ins Gras. Mein Bauch drehte und drehte sich wie die Waschmaschine beim Schleudern.
„Etwas für seine Familie tun zu können, ist die größte Freude, die ein Mensch erleben kann. Wir wohnen in einem Land, in dem man das nicht immer versteht. Ein Land, in dem man sich selbst der Nächste ist. Doch wir haben Glück. Wir haben eine starke Kultur. Eine Kultur, die uns unüberwindbar macht. Nicht zuletzt an einem Tag wie heute.“
Diesmal nickte nur ich. Mein Bruder stand mit gebeugtem Nacken da. Versuchte sicherlich, sich kleiner zu machen, als er war.
„Vergesst nicht, dass euer Großvater für den Kaiser selbst gearbeitet hat. Ihr seid in ein mächtiges Geschlecht hineingeboren.“
Das sagte er immer, wenn wir etwas tun sollten, wovor wir Angst hatten. Wir wussten sehr wohl, dass Großvater nur in der Verwaltung gearbeitet hatte. Er hatte den Kaiser nicht einmal getroffen .
„Wie sieht’s aus?“, fragte Vater. „Meldet sich einer von euch?“
Seine Augen sahen aus wie Feuersteine. Schwarz und hart. Mein Bauch drehte sich immer schneller, während ich in sie hineinblickte.
„Na gut“, sagte er. „Dann muss ich also wählen.“ Er betrachtete uns abwechselnd. Seine beiden achtjährigen Söhne.
„Lächelt, Jungs“, sagte er. „Vergesst nicht, es ist ein Festtag. Einen traurigen Bräutigam können wir nicht gebrauchen.“
Dünne Fäden aus Blut wirbeln in der Toilettenschüssel herum, und ich spüle zum zweiten Mal. Stehe da mit dem Slip an den Knien und habe keine Lust, die Binde zu wechseln. Denke, dass ich bis zum nächsten Mal warten kann, wenn ich pinkeln muss.
Beim Hochziehen des Slips kommt es mir so vor, dass ich genau dasselbe gedacht habe, als ich das letzte Mal pinkelte.
Ich ziehe den Gürtel des Morgenmantels fest und gehe zum Waschbecken. Verliere mich in Gedanken beim Betrachten der türkisfarbenen Glasmosaike an der Wand.
Das Wasser beginnt, aus dem Hahn zu spritzen, und ich wasche mir die Hände. Gerate in Zweifel, ob ich es wohl bereits getan habe. Der Seifenschaum riecht synthetisch. Es ist der billige aus dem Supermarkt, den ich nicht mag.
Das Geräusch von Autoreifen auf Kies lässt mich den Blick anheben. Durch die Jalousien kann ich sehen, wie ein Polizeiwagen vor dem Haus hält. Die Scheibenwischer laufen schnell, auch wenn es nur nieselt. Ein paar Krähen fliegen krächzend vom Kiesweg auf und verschwinden über die abgemähten schwarzen Felder, auf denen der Raps nicht mehr blüht. Mein Puls steigt, während ich die Lichter des Polizeiwagens betrachte, die ausgeschaltet werden. Die Vordertüren gehen auf, und zwei Beamte steigen aus. Torben lässt seine Hand über seinen großen roten Vollbart gleiten, ehe er seine Polizeimütze aufsetzt. Die andere ist eine Frau, die ich noch nie gesehen habe.
Sie stehen kurz da und betrachten die Kartons im Vorgarten. Der Nieselregen hat die Pappe dunkelbraun verfärbt. Torben sagt etwas, und die Frau nickt. Sie wenden sich zum Haus und gehen auf die Eingangstür zu. Ich stolpere fast über das Windelpaket, als ich vom Badezimmerfenster zurücktrete. Ich gehe hinter der Toilette in die Hocke. Halte die Luft an.
Sie haben es entdeckt. Natürlich haben sie es entdeckt.
Es klingelt.
Dicht an meinem Ort gibt die Toilette ein schwaches, plätscherndes Geräusch von sich, und ich schließe die Augen.
Ich hätte mich vorbereiten sollen.
Es klingelt erneut.
„Eva! Steen!“ Ich zucke zusammen, als Torben von dort draußen ruft.
Der Klang unserer Namen reißt mich zurück in die Wirklichkeit. Ich stütze mich auf die Toilette und komme zum Stehen. Was mache ich eigentlich? Sitze da und verstecke mich vor der Polizei?
Ich wühle in der Tasche des Morgenmantels, finde die Schachtel mit Lakritz-Pastillen der Marke Ga-Jol und stecke mir ein paar in den Mund.
Im Spiegel bin ich eigenartig unscharf wie ein Foto, das mit zitternder Hand aufgenommen wurde. Mein Blick ist panisch, ich zupfe am Haarknoten, versuche, ein paar graue Haare glatt zu streichen. Ich betrachte mein Spiegelbild, wie man etwas Zerstörtes betrachtet. Dann gehe ich hinaus, um zu öffnen.
Die Septemberluft ist frisch und feucht vom Nieselregen und vom langen Gras. Hinter den zerrissenen Wolken steht eine bleiche Sonne bereits hoch am Himmel und lässt mich mit den Augen blinzeln.
„Na?“ Torben gibt mir einen Klaps auf die Schulter. „Haben wir dich geweckt?“
„Ein bisschen.“
„Entschuldige bitte. Wie geht’s so zu Hause.“
„Geht so.“
Er reibt sich den Vollbart. Blickt zu den Pappkartons im Gras.
„Ich bedaure das hier wirklich sehr“, sagt er. „Dienstlich zu kommen, so wie die Dinge jetzt gerade sind.“
Ich sehe die Pistole an seinem Gürtel. Die Handschellen.
„Doch ich dachte, dass es trotz allem besser wäre, wenn ich käme.“
Ich nicke langsam.
„Tag.“ Die Frau streckt ihre Hand aus. „Dagmar. Ich bin Torbens neuer Partner.“
„Guten Tag.“
Ihr warmer Händedruck macht mir bewusst, wie kalt meine eigene Hand ist.
„Ist dein Mann zu Hause“, fragt Dagmar.
„Was?“
„Ja, du musst entschuldigen, dass wir so unangemeldet kommen“, sagt Torben. „Ich weiß sehr wohl, dass ihr …“ Er macht eine Handbewegung.
Ich ziehe den Gürtel des Morgenmantels fest, auch wenn er bereits fest sitzt.
„Ist Steen da drin?“ Torben macht eine Kopfbewegung an mir vorbei. „Wir würden gern kurz mit ihm sprechen.“
Ich stütze eine Hand gegen den Türrahmen und versperre den Weg. „Es passt leider nicht besonders gut. Er liegt gerade im Bett und … schläft.“
Dagmar zieht den Ärmel hoch und schaut auf ihre Uhr.
„Kann er euch nicht zurückrufen?“, frage ich. „Wenn er aufwacht.“
„Wir möchten sehr gern mit ihm persönlich sprechen“, sagt Torben.
„Es dauert nicht sehr lang.“
„Ihr könnt es einfach mir sagen, dann gebe ich es weiter.“
„Wie gesagt, möchten wir sehr gern mit ihm persönlich sprechen. Es geht um seinen Vater.“
Das verwirrt mich so, dass mein Arm wieder nach unten sinkt.
Steens Vater?
„Okay“, sage ich. „Dann kommt herein.“
Mit dem Fuß schiebe ich den Präsentkorb zur Geburt zur Seite, den ich immer noch nicht vom Türabsatz entfernt und ins Haus genommen habe. Das regennasse Zellophan klebt an einer herzförmigen Schachtel Pralinen und einer Tüte Kaffeebohnen. Die Karte ist vom Regen ganz kaputt.
Torben und Dagmar betreten die Diele. Ihr Blick gleitet durch den halbdunklen, unordentlichen Raum.
„So eine habe ich mir immer gewünscht.“ Sie tätschelt die raue Backsteinmauer. „Wir wohnen auch in einem roten Backsteinhaus.“
„Den Putz zu entfernen, macht eine Riesensauerei“, sagt Torben, als ich nicht antworte.
Ich entferne den Haufen mit verschwitzten Laken, der im Weg liegt. Schiebe die ungeöffneten Briefe von der Gemeinde unter Werbesendungen und lasse ein Päckchen Feuchttücher auf den Boden fallen. Alle Muskeln in meinem Körper spannen sich an. Ist es illegal, dass ich niemanden angerufen habe? Dass ich ihn einfach liegen lasse?
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