Doch im lokalen Maßstab schon, denke ich. Ohne falsche Bescheidenheit kann ich sagen, dass meine Erfahrung im Maßstab von Belarus einzigartig war. Meine Freunde und ich waren die ersten Anarchisten in Belarus, die seit der Unabhängigkeit des Landes wegen politischer Aktionen zu Haftstrafen verurteilt wurden. Nicht weniger einzigartig waren auch die Umstände unserer Freilassung. Ich weiß nicht, ob es andere Beispiele in der Weltgeschichte gibt, wo die höchsten Vertreter europäischer Staaten, von Präsidenten und Premierministern bis zu Senatoren in den USA, von einem anderen Staat die Freilassung politischer Gefangener, und zumal von Anarchisten, gefordert hätten, die wegen direkter Aktionen verurteilt worden waren – und interessanterweise wurden wir unter anderem auch aufgrund dieser Forderungen tatsächlich freigelassen – obwohl es auch in ihren jeweiligen Ländern genug „eigene“ Anarchisten gibt, die im Gefängnis sitzen.
In den fünf Jahren meiner Gefangenschaft war ich in vier verschiedenen Gefängnissen und in drei Strafkolonien inhaftiert. Nur wenige Gefangene in Belarus ereilt ein solches Schicksal. Insgesamt mehr als ein Jahr habe ich in Einzelhaft verbracht, konnte aus der Nähe die Subkultur der Kriminellen und ihrer Vertreter beobachten – Berufsverbrecher oder auch „Vagabunden“, wie sie sich selbst nennen. Ich war der zweite Gefangene, der in der zweiundzwanzigjährigen Geschichte des Gefängnisses von Mahiljou nach Art. 411 des Strafgesetzbuches 1verurteilt wurde; erlebte ausnahmslos alle „Besserungsmethoden“, vom Entzug der Paketzustellung bis zur Überführung in ein Hochsicherheitsgefängnis und probierte ausnahmslos alle Methoden des Gefangenenprotests aus, von schriftlichen Beschwerden, über Hungerstreiks, bis zur Selbstverletzung. Deshalb hoffe ich, dass meine Erfahrungen und die Informationen, die ich aus den Kerkern mitgenommen habe, nützlich sein werden. Für die einen, um die kommenden Bewährungsproben zu bestehen, für die anderen, um nicht die Fehler zu wiederholen, die ich gemacht habe, und für andere wiederum womöglich als Material soziologischer und anthropologischer Forschung.
Aus dem Gefangenenjargon sind einige hundert, wenn nicht tausend Wörter in die russische Sprache eingegangen. Dieser Gefangenenjargon wurde in diesem Buch beibehalten.
Danke, dass Sie bis hierher gelesen haben. Ich hoffe dieses kleine Buch wird für Sie von Interesse sein.
Für die Entstehung dieses Buches möchte ich meinem Vater und meinen Genossen danken: Dank ihrer Bemühungen konnte ich ein halbes Jahr früher freikommen, als nach dem Urteil vorgesehen war. Ich danke meinem Lehrer Uladsislaw Iwanow für die Ermutigung und Motivation, meiner Frau Lera für Rezensionen und Kritik. Ich danke Oberstleutnant Aljaxandr Heorhiewitsch Lizwinski – dank dessen Rachsucht und Hass ich dorthin gekommen bin, wo ich war, um zu sehen, was ich gesehen habe. Ebenfalls möchte ich dem gesamten Strafsystem der Abteilung für Strafvollzug des Innenministeriums danken, dessen totale Schwachsinnigkeit und Unmenschlichkeit für mich eine Quelle der Inspiration war und bleiben wird.
„Wer nicht im Militärknast war, der hat nicht in der Armee gedient“, sagen ehemalige Soldaten oft. Ähnlich kann man sagen: „Wer nicht im Strafisolator saß, der war nicht im Gefängnis“.
Ohne zu verstehen, was der Strafisolator ist – oder Kitscha , wie es im Gefangenenjargon heißt – ist es weder möglich, das Wesen des Gefängnissystems zu verstehen, noch viele der Handlungen der Gefangenen.
Gemäß der Vollzugsordnung für Haftanstalten und dem Strafvollzugsgesetz ist die Strafisolation eine der schwersten Disziplinarmaßnahmen, die nur wegen grober Verletzung des Vollzugsregimes angewendet werden darf. Da aber niemand definiert hat, was als grober Verstoß gelten soll, liegt es gänzlich in der Hand des Chefs der Strafkolonie, darüber zu entscheiden.
Was ist der Strafisolator? Wie eine Insel befindet sich auf dem Gebiet der Strafkolonie hinter einem zusätzlichen Stacheldraht und einem geharkten Kontrollstreifen eine Baracke: Die Strafisolationsbaracke ist eine Art Spezialgefängnis innerhalb der Kolonie. In der Baracke gibt es, wie in einem ganz gewöhnlichen Gefängnis, wo die Strafzellen sich im Keller befinden, Haftzellen. In eine dieser Zellen wird der Gefangene nach einer Sitzung des Disziplinarausschusses gebracht.
Stellt euch einen Raum von etwa zwei Metern Länge und einem Meter irgendwas in der Breite vor. Der Boden aus Holz. Auf dieser nicht sehr großen Fläche befinden sich: eine Pritsche, hochgeklappt und an der Wand befestigt, die vom Aufseher von außen, aus dem Korridor, heruntergelassen wird; ein Hocker; ein kleiner Tisch zur Nahrungsaufnahme; eine Toilette – eine Kloschüssel gibt es nicht –, es ist ein Loch im Boden, das von einer Seite von einer etwa ein Meter hohen Trennwand verdeckt ist; ein Waschbecken; kleine Regale an den Wänden. Oft ist alles so eingerichtet, dass man keine zwei Schritte gehen kann, ohne gegen irgendetwas zu stoßen. An der Decke hängt eine Glühbirne, und es gibt ein Art Fenster – wenn man es so nennen darf. Von der frischen Luft trennt euch die Glasscheibe, ein Gitter von innen und eine Metalljalousie von außen, damit die Häftlinge nicht etwas von einer Zelle in die andere weitergeben und der psychologische Druck zusätzlich erhöht wird, da weder Sonne noch Himmel zu sehen sind. Doch die Vollzugsverwaltung ist oft kreativ und lässt am Fenster zusätzliche Gitter anbringen. Rekordverdächtig waren da die Bullen aus der Strafkolonie Nr. 9 in Horki, die das Fenster gleich vierfach vergittert haben – das Sonnenlicht kam fast gar nicht mehr durch, und es ist gut möglich, dass dieses Know-how ihnen eine besondere Belobigung der Prüfungskommission von der Abteilung für Strafvollzug eingebracht hat.
Bevor der Häftling die Strafzelle betritt, wird er standardmäßig gefilzt. Das Wichtigste ist, dass man praktisch kein Kleidungsstück mitnehmen darf, außer der Häftlingsuniform. In manchen Strafkolonien ist auch die nicht erlaubt, man bekommt in der Strafisolation eine andere Uniform, mit der Aufschrift SCHISO über den ganzen Rücken. Man erlaubt euch nur, ein Handtuch, Zahnpasta, Zahnbürste und Toilettenpapier mitzunehmen. Sogar Nassrasierer sind nicht überall erlaubt.
In Horki, zum Beispiel, ist es den Insassen des Strafisolators nicht erlaubt, sich im Waschraum zu rasieren, damit sie keine Klingen aus den Rasierern holen und sich damit zum Beispiel aufschneiden. Natürlich denkt niemand daran, die Lebensbedingungen der Häftlinge zu verbessern, damit sie sich nicht aus Protest selbst verletzten, es ist einfacher das Rasieren zu verbieten. Das Ergebnis ist, dass die Gefangenen aus dem Isolator wie Yetis zurückkommen, zugewuchert und verwildert.
Was ihr sonst auch immer mitnehmen wollen würdet – Essen, Zigaretten, Papier, Stifte, Briefe, Zeitungen, Bücher – es ist nicht gestattet. In der Strafzelle müsst ihr mit euch allein bleiben und, so stellen sich das die Kerkermeister vermutlich vor: über das eigene Verhalten nachdenken.
Geschickte Gefangene, die nicht zehn oder mehr Tage ohne Zigaretten auskommen wollen, stellen sogenannte „Torpedos“ her: Zigarettenrollen, die hermetisch in mehrere Lagen Folie verpackt sind und die sie sich dann in den Enddarm schieben. Auf diese Weise passen natürlich nicht viele Zigaretten rein, deshalb müssen sie im Torpedo sehr eng verpackt werden, was an sich bereits eine hochtechnologische Prozedur ist. Am Ende besteht ein durchschnittlicher Torpedo aus vierzig Zigaretten und hat einen Durchmesser von drei bis vier Zentimetern. Die meisten Häftlinge können nicht mehr als drei Torpedos mitnehmen, aber man hört gelegentlich von besonderes Begabten, die bis zu neun Stück schaffen. Nach der Enttorpedierung muss man die Zigaretten irgendwo lagern, damit sie bei einer routinemäßigen Zellendurchsuchung nicht gefunden und beschlagnahmt werden. Auch das verlangt von einem Häftling ein gewisses Maß an Einfallsreichtum und List.
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