Palma wendet ein, vor hundert Jahren hätten alle noch in Eimer gekackt, oder genauer gesagt in Nachttöpfe, und dass man daran nicht die Würde einer Person festmachen könne. Es sei auch keine Frage der Würde, ob man einen Kaffee zum Frühstück habe statt beispielsweise ein Croissant und einen Orangensaft, für deren Zubereitung man weder Gas noch Strom brauche, falls sich Tanger auf das Fehlen von Gas oder Strom bezogen haben sollte, als er die Würde des Kaffees anführte.
Vorausgesetzt, man habe das Croissant in einer Bäckerei gekauft oder es geklaut oder im Müll gefunden, antwortet Tanger.
Natürlich, entgegnet Palma, denn ich gehe mal davon aus, dass wir normalerweise keine Croissants bei uns zu Hause backen, wofür man dann Gas oder Strom brauchte.
Oder auch nicht, denn es gebe ja auch Holzöfen, erwidert Tanger, und er fragt, ob die Versammlung es für wahrscheinlich halte, dass das Haus in der Mosén Torner einen Holzofen habe, in dem man zum Frühstück Croissants backen könne.
Ceuta sagt, dass es vielleicht einen Kamin gebe, weil es ein sehr altes Haus sei.
Tanger sagt, das mit dem Kaffee oder in den Eimer scheißen habe Schwung in die Diskussion gebracht, was ihn freue, aber wir hätten trotzdem noch nichts dazu gesagt, wie es darum stehe, wegen der Kälte und des Regens zusammengerollt in einer Ecke schlafen zu müssen, also nehme er an, dass wir darin durchaus eine Frage der Würde sähen und genau darum gehe es im Haus in der Mosén Torner, da es eben ein halb eingestürztes Dach habe.
Oviedo antwortet, dass sie persönlich nicht in einen Eimer, sondern auf die Würde scheiße, und wenn nicht auf die Würde, deren Bedeutung ihr nicht ganz klar sei, dann auf unseren Gebrauch des Ausdrucks »in Würde leben«, der für sie journalistisch und institutionell klinge, also zutiefst kapitalistisch, denn er beziehe sich nur auf die materiellen Bedingungen des Lebens und gehe davon aus, dass jemensch, der schön warm eingekuschelt schlafe, mit mehr Würde lebe als jemensch unter freiem Himmel. Dieser Logik folgend, fährt die Kameradin fort, lebe ein Mensch mit Viskomatratze würdevoller als jemensch mit einer Federkernmatratze, und wer am Hafen Meeresfrüchte zu Mittag esse, habe mehr Würde als jemensch mit Kichererbseneintopf an einem Tisch mit Kohlebecken, oder wer, noch schlimmer, bei McDonald’s oder sogar überhaupt nicht zu Mittag esse!
Tanger antwortet, sie würde die Argumentation ad absurdum führen und dass sie die Annehmlichkeiten der Bourgeoisie mit Grundbedürfnissen verwechsle, und natürlich gebe es auch materielle Grundbedürfnisse, die ja die ebenfalls aus Materie bestehenden Menschen schlicht und einfach zum Überleben sichern müssen; woraufhin die Kameradin einwirft, dass sie in der Tat einen apagogischen Beweis angeführt habe, weil die Argumente ad absurdum geführt werden müssten, um dadurch ihre Fehlbarkeit zu beweisen, also die Last der Vernunft, also ihre Wahrheit, und diese Argumentation über das Leben in Würde halte dem Stoß nicht stand. Und sie fügt an, dass sie die reductio ad absurdum ganz bewusst angewendet habe, dass aber der erste Kamerad, ohne es zu merken, zwei kleinste gemeinsame Nenner gekürzt habe, also zwei Analogien, diese Mütter der Demagogie, indem er – erstens – die materiellen Bedürfnisse von Menschen mit den Menschen selbst gleichgesetzt und – zweitens – den bourgeoisen Materialismus, auf den sie sich zuvor bezogen habe, mit dem Fleisch und Blut, den Knochen und Nerven gleichgesetzt habe, aus denen wir alle bestehen.
Mallorca bittet die Kameradin, die zuletzt gesprochen hat, dies ein wenig genauer zu erklären, eine Forderung, der sich mehrere andere Kameraden anschließen und der Oviedo nachkommt, und zwar, wie sie selbst sagt, sehr gern. Die von Tanger vorgebrachten Analogien seien in argumentativer Hinsicht trügerisch und in ideologischer Hinsicht tendenziös im Sinne einer kapitalistischen Rechtfertigung. Das sei so, weil der Kamerad Würde und materiellen Besitz miteinander in Verbindung setze, womit er den Diskurs des Wohlfahrtsstaates reproduziere, der Würde sage, wo er Wohlstand meine. Und was denn Wohlstand sei?, fragt die Kameradin oder fragt sie vielmehr sich selbst, und sie erklärt, dass sie sich auf den Wohlstand im Wohlfahrtsstaat beziehe, der eigentlich ein Wohlstandsstaat sei. Sie glaube nämlich, dass es das Konzept des Wohlstands nicht gegeben habe, bevor es die westlichen Staaten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs erfunden hätten, und wenn es das schon gegeben habe, dann nicht mit der Konnotation, die ihm diese Staaten ein für alle Mal gegeben hätten. Die Wohlfahrt oder der Wohlstand der Nachkriegszeit würden also als der notwendige Mechanismus ausgestaltet, um im zerstörten Europa die Wirtschaft wieder auferstehen zu lassen, und in den Vereinigten Staaten zum Ruhme des Kapitalismus. Arbeitslosengeld, Krankenversicherung, Sonderzahlungen, bezahlter Urlaub, Maßnahmen zur Steigerung der Geburtenrate, subventionierte Industrie, Verbilligung vormaliger Luxusgüter, Ausweitung der öffentlichen Schulen und Universitäten. Die Kameradin sagt, wenn sie von der keynesianischen Konsumfunktion spreche und der Geburt des Konsumismus, entdecke sie nicht den Stein der Weisen neu, und sie fragt, dieses Mal offen in die Runde und nicht sich selbst, ob uns interessiere, was sie erzählt, oder ob wir besser wieder über das Dach des Hauses in der Mosén Torner sprechen sollten, damit wir nicht – und die Kameradin bittet den Scherz zu erlauben, der ihr zufolge sehr passend sei – das Haus vom Dach aufzäumen, indem wir vom blöden Keynes reden, wenn wir uns doch eigentlich fragen sollten, wo wir eine Betonmischmaschine herbekämen.
Coruña antwortet, dass das für ihn durchaus wie die Entdeckung des Steins der Weisen sei, und Ceuta sagt, er würde nicht zwischen Reflexion und Aktion unterscheiden, denn die Aktion, in diesem Falle die Okupation eines verfallenen Hauses, müsse stets von Motiven geleitet sein, und diese seien für uns die Etablierung der anarchistischen Gesellschaft. Andernfalls handele es sich um eine unpolitische Aktion, oder zumindest nicht im radikalen Sinne politisch, und wenn unpolitisch, dann auch harmlos und verwundbar durch die Attacken der Unterdrücker, Attacken, die in diesem Falle von eventuellen Eigentümern ausgehen könnten, die wieder in den Vollbesitz des Hauses gelangen wollten, oder vom Richter, der den Rauswurf der Besetzer anordnet, oder von den Mossos d’Esquadra , den Zivilpolizisten, die die Räumung durchführen. Der Kamerad kommt zu dem Schluss, dass es, damit unsere Aktion kein reiner Aktionismus bleibe, nicht nur gut, sondern entscheidend sei, dass wir über Besetzung sprächen, über Betonmischmaschinen, über den Preis von Kartoffeln, und gleichzeitig über John Maynard Keynes und Paulo Freire, und er bittet Oviedo, fortzufahren, und Oviedo fährt fort, aber sie sagt, dass sie, bevor sie weiter über Würde spreche, einerseits gerne ausdrücken möchte, wie erhellend die Reflexionen des Kameraden gewesen seien, und andererseits zumindest anmerken, dass es die vermeintlich großherzigen Zuschüsse nicht gebe ohne andere Wohlfahrtserfindungen wie die Verschärfung des Strafrechts, die zahlen- und größenmäßige Erweiterung der Gefängnisse und Irrenhäuser, die massive Durchsetzung der Psychiatrie, von Pharmazeutika, von Werbung und Fernsehen, die Vernichtung der Wälder und Urwälder sowie die regelmäßige Provokation von Kriegen in Ländern außerhalb des Fortschrittsgürtels, um deren Rohstoffe auszubeuten, um nur einige wenige der offensichtlichsten Säulen dieses Wohlfahrtswohlstandes zu benennen, der uns alle – einschließlich guter Teile dieser Versammlung von Anarchisten – davon überzeugt habe, dass gutes Leben ein Leben mit leichtem Zugang zu Konsum sei, und der dieses gute konsumistische Leben in die Kategorie des Lebens in Würde gehoben habe und dabei das, was vormals als Würde begriffen wurde, von seinem moralischen Gehalt befreit, ein moralischer Gehalt, den diese Versammlung, so fährt die Kameradin fort, auf den Tisch bringen und sich fragen sollte, ob solche rein materiellen Überlegungen wie das Dach oder das Fehlen von fließendem Wasser Priorität haben sollten, wenn man G. G. bei der Besetzung helfe, oder nicht vielmehr Erwägungen, die nicht das Objekt in den Mittelpunkt stellen, sondern beispielsweise die Notwendigkeit, aus einer familiären und persönlichen Krisensituation zu fliehen, wie G. G. selbst es zu Beginn der Sitzung dargestellt und gerade noch einmal wiederholt habe, und das sei nichts anderes als eine dringliche Notwendigkeit zur Emanzipation, bei der weder Kälte oder Regen noch der Nachttopf eine Rolle spielten.
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