Sein jüngerer und als Hoferbe vorgesehener Bruder Franz verlor wie so viele seiner Kameraden als Soldat in Russland sein Leben, und niemand in seiner Familie erfuhr jemals etwas über seine letzte Ruhestätte, wenn von einer solchen überhaupt geredet werden kann. Die Mutter von Ludwig starb in den Kriegsjahren, wodurch er den Bauernhof am Pfenningberg erbte. Während seiner Militärzeit führte seine ältere Schwester mit zwei Frauen aus Polen den Hof, die von der deutschen Regierung zur Zwangsarbeit abgestellt wurden. Bei seinen wenigen Heimaturlauben überzeugte sich Ludwig, dass der Betrieb zufriedenstellend geführt wurde und es den Zwangsarbeiterinnen an nichts fehlte. Schon in der Zwischenkriegszeit war der Hunger in der städtischen Bevölkerung groß, und die Lebensmittelmarken reichten kaum zum Überleben. Daher scheuten die Stadtmenschen den weiten Fußmarsch zu den Bauern am Pfenningberg nicht, um sich dort mit Milch, Eiern, Butter und Brot einzudecken. Die Lebensmittelknappheit machte die Bauern damals zu Direktvermarktern, wie wir sie heute von Biobauern kennen.
Gegen Ende des Krieges bombardierten die alliierten Streitkräfte die Infrastrukturanlagen in Deutschland und in der Ostmark (Österreich). Da Hermann Göring auch in Linz ein Stahlwerk für die Rüstungsindustrie bauen ließ, wurde dieses ein Ziel der englischen Bomber. Viele Bomben verfehlten ihr Ziel und flogen in und über den Pfenningberg und richteten großen Schaden an. Als Ludwig nach Kriegsende und wochenlangen Märschen über Polen und Tschechien schwer erschöpft endlich nach Hause kam, traf ihn fast der Schlag. Der gesamte Bauernhof war zerbombt, und er fand nicht einmal seine Zivilkleider vor, um endlich die Soldatenuniform ablegen zu können. Der riesige Bauernhof war ein Trümmerhaufen. Mehr als fünf Jahre seines Lebens hatte er als junger Soldat dem wahnsinnigen Hitler und seinem Regime geopfert, permanent in Lebensgefahr geschwebt und war mehrmals verwundet worden, und nun dieses Desaster. Abgemagert und psychisch gebrochen ging er zu seinem Nachbarn und bat um Hilfe. Doch als er in Soldatenuniform den Hof betrat, wurde er von befreiten Insassen aus dem Konzentrationslager Mauthausen umstellt. Sie hielten Gewehre im Anschlag, die sie auf Grund ihres körperlichen Zustandes kaum halten konnten, und drohten ihm sofort mit dem Erschießen. Nur dem beherzten Einschreiten seiner beiden Zwangsarbeiterinnen aus Polen mit den Worten: „Nix schießen, das gute Bauer!“ verdankte er sein Leben. Er wurde aufgefordert, sofort zu verschwinden. Aber wohin? Sein menschenwürdiges Verhalten, das auf der Grundlage seines christlich-sozialen Weltbildes beruhte, rettete ihm das Leben.
Mit der Familie auf Wanderschaft
Nach Jahren in der Fremde und vor dem Nichts zu Hause war für Ludwig ein Neubeginn alternativlos – beruflich und familiär. Bekanntlich gab es nach dem Krieg keine Online-Partnerbörsen, wo man sich zwischen hunderten von Frauen oder Männern entscheiden kann. Die spärlichen Veranstaltungen und Personen mit häufigen Hauskontakten waren wesentliche Vermittler bei der Suche nach einem geeigneten Partner oder einer geeigneten Partnerin. Nicht selten hatten beispielsweise Schweinehändler nicht nur Kenntnis über den Schweinebestand an einem Bauernhof, sondern auch über die eine oder andere Heiratspartie. Vor allem deshalb, weil zu diesen Zeiten nicht die Charaktereigenschaften einer Frau oder eines Mannes im Vordergrund standen, sondern die Größe des bäuerlichen Betriebes und die damit verbundene Mitgift. Die persönlichen Wünsche und Eigenschaften der Partnerwahl wurden als vernachlässigbar angesehen, da sie von der künftigen, schweren Arbeit überlagert wurden. Ludwig ging den traditionellen Weg und lernte über eine Tanzveranstaltung in der näheren Umgebung Johanna kennen.
Johanna war um ein Jahr älter als Ludwig und entstammte einer Großfamilie mit elf lebenden Kindern. Ihr pfeiferauchender Vater war von mittlerer Größe mit einer etwas rundlichen „Bauchmuskulatur“ und dem obligatorischen Oberlippenbart. Auf seinem Pfeifenständer am Fensterbrett stellte er sein Rauchequipment, sortiert nach Wochen- und Feiertagspfeifen, ab. Als Glasermeister in Heimarbeit war er viel zu Hause und beschäftigte sich wohlwollend mit den Kleinkindern. Für ihn war nichts ein Problem, da er sich an der Kindererziehung und Haushaltsführung nach dem Prinzip „Es wird sich schon alles irgendwie von selbst richten“ nicht beteiligte. Johannas Mutter war das Exekutivorgan in der Familie. Sie sagte, wo es langgehen sollte, und war in der Kindererziehung streng. Bei dieser hohen Anzahl an Kindern aus Gründen des Selbstschutzes verständlich. Obwohl der Vater von Johanna als Glaserer unterwegs war, um bei den Bauern die gebrochenen Fensterscheiben zu reparieren, konnten er und seine Frau ihre Kinder nicht bis ins Erwachsenenalter ernähren. Schon im Alter der Grundschule kamen die Kinder zu Bauern, wo sie ernährungsmäßig versorgt wurden, die Schule besuchten und mitarbeiten mussten.
So kam auch Johanna mit zwölf Jahren zu einem Bauernhof mit angeschlossener Wäschereinigung in der Nähe von Linz. Sie war das Mädchen für alles und musste ihre unbeheizte und schlecht gelüftete Schlafstätte mit anderen Bediensteten teilen und gelegentlich mitanhören, wenn diese ihre sexuellen Bedürfnisse nicht auf dem Heuboden, sondern im gemeinsamen Schlafraum erfüllten. Das führt bei einem Mädchen in der vorpubertären Phase und ohne sexuelle Aufklärung unweigerlich zu Irritationen. Der Tag war lang und auch am Samstag wurde gearbeitet. Lediglich am Sonntag durfte sie ihre Familie besuchen. Der Fußweg war lang und führte durch einen Wald, wo sie bei Dunkelheit nicht selten das Gefühl der Angst überfiel. Meist pfiff sie in der Annahme, dass sie durch das Pfeifen als ein Junge wahrgenommen werden würde und daher weniger zu befürchten hätte. Nach Beendigung der Pflichtschule arbeitete sie als Köchin für die etwa 30 Bediensteten.
Johanna zählte mit ihren 160 cm nicht zu den größten Frauen, aber sie war hübsch mit braunen, langen Haaren und ein Energiebündel mit enormer Schaffenskraft. Als sich Ludwig und Johanna erstmals sahen, war das Liebe auf den ersten Blick. Erst später erfuhr Ludwig, dass Johanna bereits einen einjährigen Sohn namens Andreas hatte. Mit Johanna, ihren Eltern und Geschwistern kam Ludwig in eine große Familie, die ihm so fehlte. Darüber hinaus stand ihm mit Johanna eine kongeniale Partnerin für das Start-up-Unternehmen Bauernhof zur Seite. Im Mai 1948 schlossen Ludwig und Johanna den Bund fürs Leben und Ludwig adoptierte Andreas als Sohn, womit die damals noch nicht gesellschaftsfähige Patchworkfamilie verborgen blieb. Die Hochzeitsfeier in einem Landgasthof war nur dadurch möglich, dass Ludwig dem Gastwirt ein Schwein aus eigenem Bestand lieferte, da Fleisch eine Mangelware war. Für Johanna war auch kein Hochzeitskleid aufzutreiben. Deshalb schneiderten sie und ihre jüngere Schwester Anni ein Hochzeitskleid aus bestehenden Vorhängen. Johanna hatte ein langes, weißes, hochgeschlossenes Kleid mit langen Ärmeln an. Auf ihren dunklen langen Haaren saß ein selbstgefertigtes Diadem, das in einen schulterlangen Schleier überging. Trotz der widrigen Umstände kam sie ihrer Rolle als Braut bemerkenswert nach und stach am Hochzeitsbild markant hervor. Ludwig trug einen geliehenen, dunkelgrauen Anzug, der nicht ganz seiner Größe entsprach. Die Hose war um einiges zu kurz und das Sakko hätte einem etwas fülligeren Mann besser gepasst. Sein weißes Hemd war keine Attrappe wie in früheren Zeiten, sondern hatte auch Ärmel und ein Rückenteil. Die Hochzeitsgäste räumten jeweils ihr bestes Kleidungsstück hervor, aus dem man zu diesen Zeiten in Ermangelung von Nahrung nicht herauswuchs.
Ludwigs Elternhaus war eine Ruine und irreparabel. Daher entschlossen sich die jungen Eheleute einen Bauernhof auf dem Truppenübungsplatz in der Nachbargemeinde zu pachten. Daran knüpften sie die Hoffnung, dass dieser nach dem Übergang vom Deutschen Reich in österreichisches Staatseigentum käuflich erworben werden könne. Da, den Friedensbedingungen entsprechend, Österreich nach dem Krieg über kein eigenes Militär verfügen durfte. Noch vor der Geburt ihrer gemeinsamen Tochter Gabriele übersiedelten sie mit den beiden älteren Geschwistern von Ludwig auf den gepachteten Bauernhof und starteten ambitioniert durch. Im Februar 1950 kam Martin, ihr gemeinsamer Erstgeborener, bei einer Hausgeburt auf die Welt. Um 06:00 Uhr morgens lief die Schwester von Johanna zu Ludwig in den Stall, der gerade mit dem Kuhmelken beschäftigt war, und teilte ihm mit, dass er einen Sohn habe. Sofort sprang er auf und lief in das Geburtszimmer, um seinen Stammhalter zu bewundern und in die Arme zu nehmen. Seine schwere Kindheit und die brutalen Erlebnisse im Krieg hatten dazu geführt, dass er Gefühlsregungen und sichtbare Rührungen als Schwäche ansah und weitestgehend unterband. Doch als er Martin sah, kamen ihm vor Freude und Stolz die Tränen.
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