Kunst lässt sich aus mindestens drei Perspektiven betrachten:
•Wir können uns auf den Gegenstand konzentrieren, der in dem kreativen Prozess entstanden ist – beispielsweise ein Gemälde.
•Wir können uns auf den Prozess konzentrieren, also beobachten, wie die Künstlerin das Bild malt.
•Oder wir können die Künstlerin in dem Augenblick beobachten, wenn sie vor der leeren Leinwand steht.
Anders ausgedrückt: Wir können das Kunstwerk betrachten, nachdem es geschaffen wurde, während es entsteht oder bevor es entsteht.
Wenn wir diese Analogie auf Veränderungsmanagement anwenden, können wir die Arbeit des Erfinders, des Veränderungsmachers, der Führungskraft aus drei ähnlichen Blickwinkeln betrachten. Erstens können wir anschauen, was Führungskräfte und Menschen, die etwas verändern möchten, tun. Aus dieser Perspektive sind schon viele Bücher geschrieben worden. Zweitens können wir anschauen, wie eine Führungskraft vorgeht, d. h., welche Prozesse sie aktiviert. Aus dieser Prozess-Perspektive wurden in den letzten 20 Jahren Bücher über Management und Führung geschrieben.
Doch aus der Perspektive der leeren Leinwand haben wir die Führung nie systematisch betrachtet. Die bisher nicht beantwortete Frage lautet: Aus welchen Quellen entsteht das Handeln von Führungskräften und Veränderungsmachern? Zum Beispiel: Welche Qualität des Zuhörens, welche Qualität der Aufmerksamkeit bringe ich in eine Situation ein und wie verändert diese Qualität die Muster der Interaktion?
Die Diskussion über die drei Abgründe lässt sich so zusammenfassen: Während die ökologische Kluft eine Bruchlinie zwischen Selbst und Natur und die soziale Kluft eine Bruchlinie zwischen Selbst und dem Anderen darstellt, erwächst die spirituelle Kluft aus einem Bruch zwischen dem Selbst und dem Höheren Selbst – das heißt zwischen dem, der ich heute bin, und dem, der ich morgen sein könnte, also meiner höchsten Zukunftsmöglichkeit.
Als ich vor etwa 24 Jahren aus Deutschland kam, um am MIT zu arbeiten, wollte ich lernen, wie ich Menschen, die in der Gesellschaft etwas verändern möchten, helfen könnte, die großen Herausforderungen und Umbrüche zu bewältigen, auf die wir immer wieder treffen. An dem damals neu gegründeten MIT Organisational Learning Center (OLC), das von Peter Senge, dem Autor von Die fünfte Disziplin , geleitet wurde, kam eine einzigartige Konstellation führender Vertreter der Aktionsforschung aus dem MIT und von der Harvard University zustande, darunter Edgar Schein, Chris Argyris, Don Schön, William Isaacs und viele andere. Dieses Buch ist stark geprägt und inspiriert von der Chance, in diesem Netzwerk und wunderbaren Kollegen- und Freundeskreis wie auch zusammen mit vielen anderen geschätzten Mitarbeitenden aus anderen Institutionen und anderen Orten arbeiten zu dürfen.
Wenn ich heute auf meinen Weg zurückblicke, fallen mir drei wichtige Erkenntnisse auf, die meinem Vorhaben, den blinden Fleck zu erforschen, Gestalt gegeben haben.
Von der im Entstehen begriffenen Zukunft lernen
Meine erste Erkenntnis ist recht elementar. Nämlich: Es gibt zwei unterschiedliche Quellen des Lernens: (1) Lernen, indem man über die Vergangenheit nachdenkt, und (2) Lernen, indem man entstehende Zukunfts möglichkeiten erspürt und verwirklicht.
Alle herkömmlichen Methoden des organisationalen Lernens funktionieren nach demselben Lernmodell: Lernen, indem man über frühere Erfahrungen nachdenkt. Doch dann stellte ich immer wieder fest, dass in Organisationen die meisten Führungskräfte täglich mit Herausforderungen konfrontiert waren, denen man nicht einfach dadurch begegnen kann, dass man über die Vergangenheit nachdenkt. Manchmal sind früh gemachte Erfahrungen nicht hilfreich und stellen vielleicht sogar die Hindernisse dafür dar, dass ein Team eine Situation nicht mit neuen Augen sehen kann.
Anders ausgedrückt: Aus der Vergangenheit lernen ist notwendig, aber nicht hinreichend. Alle umwälzenden Herausforderungen verlangen, dass wir uns der Sache mit einer neuen Herangehensweise nähern. Sie verlangen, dass wir uns entschleunigen, innehalten, die wichtigen Antriebskräfte der Veränderung erspüren, die Vergangenheit loslassen und die Zukunft, die entstehen möchte, kommen lassen.
Aber was ist notwendig, um von der im Entstehen begriffenen Zukunft zu lernen? Als ich diese Frage stellte, schauten mich viele Menschen mit einem ausdruckslosen Blick an: »Von der Zukunft lernen? Wovon sprechen Sie?« Viele meinten, es sei eine verschrobene Frage.
Doch es war genau diese Frage, an der sich meine Forschungsreise über mehr als 20 Jahre lang orientiert hat. Das Besondere an uns Menschen ist, dass wir uns mit einer entstehenden Zukunft in Verbindung setzen können. Genau das zeichnet uns als Menschen aus. Wir können die Muster der Vergangenheit sehen, durchbrechen und neue Muster schaffen. Keine andere Spezies auf der Erde ist dazu imstande. Bienen beispielsweise organisieren sich vielleicht mit einer höheren kollektiven Intelligenz; aber sie haben keine Möglichkeit, ihr Organisationsmuster zu ändern. Wir als Menschen sind dazu aber in der Lage.
Man kann es auch anders formulieren. Wir haben die Gabe, in zwei sehr unterschiedliche Zeitqualitäten und Zeitströme einzutauchen und uns in ihnen zu bewegen. Da ist zum einen die Qualität der Gegenwart, die sich als Verlängerung der Vergangenheit konstituiert. Der gegenwärtige Augenblick bestimmt sich aus dem, was gewesen ist. Da ist zum anderen die Qualität des gegenwärtigen Erlebens, das sich als Öffnung zu einem Feld zukünftiger Möglichkeit konstituiert. Der gegenwärtige Augenblick ist geprägt von dem, was anwesend werden möchte: die Gegenwart als Ankunftsgeschehen. Diese tiefere Zeitqualität, wenn wir uns ihr gegenüber öffnen, ist das Feld, in dem wir Presencing erleben können: das Erspüren und Vergegenwärtigen des höchsten zukünftigen Potenzials. Der Begriff Presencing ist eine Kombination aus »sensing« (erspüren) und »presence« (Gegenwart). Er bedeutet, sein höchstes Zukunftspotenzial zu erspüren und umzusetzen. Wann immer wir es mit Umbrüchen zu tun haben, ist es dieser zweite, aus der Zukunft entgegenlaufende Zeitstrom, der uns erlaubt, neue Impulse in die Welt zu setzen. Denn ohne eine solche Verbindung zur entstehenden Zukunft tendieren wir am Ende dazu, zu Opfern, statt zu Mitgestaltern von Umbrüchen zu werden.
Wie können wir uns als Individuen, Organisationen und als Ökosysteme mit diesem zweiten Zeitstrom in Verbindung bringen? An dieser Frage hat sich mein Forschungsweg in den letzten 20 Jahren orientiert. Das Ergebnis ist die Beschreibung eines tieferen Lernzyklus , der nach einer anderen Form von Prozess funktioniert, einem, der uns zu den Rändern des jeweiligen Systems führt, uns mit unseren tieferen Quellen von Wissen verbindet und uns dazu ermuntert, die Zukunft durch praktisches Handeln zu erkunden. Dieser tiefere Lernzyklus trifft sowohl auf unser Berufsleben als auch auf unser persönliches Leben zu. Als 16-Jähriger hatte ich beispielsweise ein Erlebnis, das mir einen Vorgeschmack davon gegeben hat, wie es aussieht und sich anfühlt, wenn man aus dem Feld des gewohnheitsmäßigen Handelns herausgerissen wird.
Als ich an jenem Morgen unseren Bauernhof verließ, um zur Schule zu gehen, hatte ich keine Ahnung, dass ich mein Elternhaus zum letzten Mal sehen würde, einen großen, 350 Jahre alten Bauernhof. Es war ein ganz gewöhnlicher Schultag, bis etwa ein Uhr, als der Lehrer mich aus der Klasse rief und sagte, ich solle nach Hause gehen. Ich hatte keine Ahnung, was passiert sein könnte, hatte aber das Gefühl, dass es nichts Gutes war. Nach der üblichen einstündigen Zugfahrt rannte ich zum Bahnhofsausgang und warf mich in ein Taxi. Noch lange, bevor das Taxi auf unserem Hof ankam, sah ich riesige graue und schwarze Rauchwolken. Mein Herz klopfte, als sich das Taxi unserer langen Hofeinfahrt näherte. Ich erkannte Nachbarn, Feuerwehrleute und Polizisten. Ich sprang aus dem Taxi und rannte durch die Menge, die sich versammelt hatte, den letzten halben Kilometer unserer kastaniengesäumten Einfahrt hinauf. Als ich den Hof erreichte, traute ich meinen Augen nicht. Die Welt, in der ich mein ganzes bisheriges Leben verbracht hatte, war verschwunden. In Flammen und Rauch aufgegangen.
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