Die Ansätze dieser Verschiebung muten – verglichen mit den enormen Herausforderungen, mit denen wir weltweit konfrontiert sind – vielleicht klein und unbedeutend an. Und in vielerlei Hinsicht sind sie es auch. Doch ich glaube, dass in ihnen die Keime für eine tiefgreifende zivilisatorische Erneuerung schlummern, die notwendig ist, um den Wesenskern unseres Menschseins zu schützen und weiter zu aktivieren.
Meine Kollegin und Mitbegründerin des Presencing Institute, Kelvy Bird, hält diese gefühlte Wahrnehmung im Bild eines Abgrunds (s. Abb. 1) fest.
Wenn wir uns auf die linke Seite des Bildes stellen, dann sehen wir eine Welt, die zerfällt und verschwindet (die Strukturen der Vergangenheit); auf der rechten Seite sehen wir die neuen mentalen und sozialen Strukturen, die gerade entstehen. Die Herausforderung ist, wie man den Abgrund überwindet, der die beiden Seiten trennt: Wie bewegt man sich von »hier« nach »da«?

Abb. 1: Die Herausforderung des Umbruchs
Dieses Bild beschreibt, kurz gesagt, den Gang dieses Buches: den Weg über den Abgrund, d. h. von einer jetzigen Realität, die an der Vergangenheit orientiert ist, hin zu einer entstehenden Zukunft, die von unserem höchsten Zukunftspotenzial inspiriert ist.
Dieser Weg ist heutzutage wichtiger als je zuvor. Wenn wir auf die heutige Situation blicken, sehen wir drei Abgründe. Diese sind:
•der ökologische Abgrund : eine noch nie da gewesene Umweltzerstörung – die zum Verlust der Natur führt.
•der soziale Abgrund : ein Auseinanderfallen der Gesellschaft, eine Polarisierung und Fragmentierung, die zum Verlust des sozialen Zusammenhalts führt.
•der spirituelle Abgrund : steigende Zahlen von Burnout-Fällen und Depressionen – was zum Sinnverlust und zum Verlust der Wahrnehmung vom eigenen Zukunftspotenzial führt.
Der ökologische Abgrund lässt sich in einer einzigen Zahl zusammenfassen: 1,7. Derzeit verbraucht unsere Volkswirtschaft die Ressourcen von 1,7 Planeten. Wir beuten die Regenerationsfähigkeit unseres Planeten Erde um das 1,7-Fache aus. Und das ist nur eine globale Durchschnittszahl. Die Vereinigten Staaten beispielsweise beuten den Planeten um mehr als das Fünffache aus.
Der soziale Abgrund lässt sich mit einer anderen Zahl abbilden: 26 Milliardäre besitzen so viel wie die Hälfte der gesamten Menschheit. Ja, das stimmt. Eine kleine Gruppe von Menschen, die man in einem einzigen Bus unterbringen kann, besitzt mehr als die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung, d. h. 3,8 Milliarden Menschen.
Der spirituelle Abgrund lässt sich mit der Zahl 800.000 resümieren. Jährlich begehen mehr als 800.000 Menschen Suizid – eine Zahl, die größer ist als die Summe aller Menschen, die durch Krieg, Mord und Naturkatastrophen getötet werden. Alle 40 Sekunden ereignet sich ein Suizid.
Im Wesentlichen erzeugen wir kollektiv Ergebnisse, die (fast) niemand wünscht. Zu diesen Resultaten zählen die Zerstörung der Natur, der Verlust von Gesellschaft und der Verlust des eigenen Selbst.
Im 19. Jahrhundert war die öffentliche Diskussion vielerorts auf die Entstehung der sozialen Kluft fokussiert. Im 20. Jahrhundert erlebten wir die Entstehung der ökologischen Kluft, vor allem im letzten Drittel des Jahrhunderts. Auch sie hat unser öffentliches Bewusstsein geprägt.
Und zu Beginn des 21. Jahrhunderts erleben wir die Entstehung einer spirituellen Kluft. Angefacht durch die massiven technologischen Umbrüche, die wir seit der Geburt des WorldWideWeb in den 1990er-Jahren beobachten, wird bis 2050 etwa die Hälfte unserer Arbeitsplätze aufgrund von technischen Entwicklungen wegfallen. Wir sind mit einer Zukunft konfrontiert, die »uns nicht mehr braucht«, um mit den Worten des Informatikers und Mitbegründers von Sun Microsystems, Bill Joy, zu sprechen, und die uns ihrerseits zwingt, unser Menschsein neu zu definieren und zu entscheiden, in welcher Art von Gesellschaft wir zukünftig leben und wie wir diese gestalten wollen. Bewegen wir uns nach den vielfältigen Gewaltherrschaften, wie wir sie im 20. Jahrhundert gesehen haben, jetzt auf eine Tyrannei der Technologie zu? Das ist eine der Fragen, auf die wir treffen, wenn wir in den oben beschriebenen Abgrund blicken.
Mit anderen Worten: Wir leben in einer Zeit, in der unser Planet, unser gesellschaftliches Ganzes und der Wesenskern unserer Menschlichkeit angegriffen werden. Das mag vielleicht etwas dramatisch klingen, aber ich bin davon überzeugt, dass diese Beschreibung die Bedeutung des historischen Augenblicks, in dem wir leben, sogar noch untertrieben ist.
Wo gibt es Hoffnung? Die größte Quelle der Hoffnung liegt darin, dass immer mehr Menschen, vor allem junge Menschen, erkennen, dass die drei Abgründe keine voneinander getrennten Probleme sind. Sie sind eigentlich verschiedene Symptome und Spielarten von ein und demselbenGrundproblem. Welches Problem ist das? Der blinde Fleck.
Den blinden Fleck gibt es im Kontext von Führung, Management und sozialem Wandel. Es ist ein blinder Fleck, der auch unser alltägliches soziales Erleben betrifft. Der blinde Fleck bezieht sich auf den inneren Ort – die Quelle –, aus der unser Wirken hervorgeht, wenn wir handeln, kommunizieren, wahrnehmen oder denken. Wir sehen, was wir tun (Resultate). Wir sehen, wie wir es tun (Prozess). Aber meistens wissen wir nichts über das Woher : über den inneren Ort bzw. die Quelle , aus der unser Wirken entspringt ( Abb. 2).

Abb. 2: Der blinde Fleck von Führung
Dem blinden Fleck begegnete ich zum ersten Mal, als ich mit Bill O’Brien, dem langjährigen CEO von Hanover Insurance, sprach. Seine Erkenntnis aus vielen Jahren transformativer Veränderungsprozesse in seinem Unternehmen fasste er wie folgt zusammen: »Der Erfolg einer Intervention hängt vom inneren Zustand des Intervenierenden ab.«
O’Briens Feststellung öffnete mir die Augen: Was zählt, ist nicht nur das, was eine Führungskraft tut und wie sie es tut, sondern auch ihr »innerer Zustand« – d. h. ihre innere Quelle .
Es dämmerte mir, dass Bill O’Brien auf eine tiefere Dimension (die Quelle) hinwies, aus der unsere Handlungen, Kommunikation und Wahrnehmungen hervorgehen und die es uns erlaubt, einen neuen Raum zukünftiger Möglichkeiten zu erspüren und zu beschreiben.
Die Qualität unserer Aufmerksamkeit ist eine weitgehend unsichtbare Dimension unseres alltäglichen sozialen Erlebens – ob in Organisationen, Institutionen oder auch im persönlichen Leben. In unserem alltäglichen Handeln wissen wir meistens sehr wohl, was wir tun und wie wir es tun – d. h., wir kennen den Prozess. Stellt man uns aber die Frage, woher unser Handeln kommt, könnten die meisten von uns keine klare Antwort darauf geben. In meinen Forschungen bezeichne ich diesen Ursprung unseres Handelns und unserer Wahrnehmungen als Quelle oder Quellpunkt .
In meinem Gespräch mit Bill O’Brien wurde mir klar, dass wir Tag für Tag sowohl auf sichtbaren als auch auf unsichtbaren Ebenen interagieren. Um diesen Punkt besser zu verstehen, sollten wir die Arbeit eines Künstlers betrachten.
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