»Weshalb denn? Das verstehe ich nicht.«
»Gewalt ist nicht das beste Mittel, um Hass zu besiegen, und Rache macht gewiss kein Unrecht wieder gut.«
»Was denn dann?«
»Lies das Neue Testament und achte darauf, was Christus sagt und wie Er handelt. Lass dir Sein Wort Richtschnur sein und Sein Leben Beispiel.«
»Was sagt Er denn?«
»Liebet eure Feinde; segnet, die euch fluchen, tut Gutes denen, die euch hassen und euch verleumden.«
»Dann müsste ich ja Mrs. Reed lieben, und das kann ich nicht. Und ich müsste ihren Sohn John segnen, aber das ist mir unmöglich.«
Nun bat mich Helen Burns ihrerseits um eine Erklärung, und ich begann, auf meine Art die Geschichte meiner Leiden und meines Grolls hervorzusprudeln. Verbittert und trotzig, wie ich in erregtem Zustand nun einmal war, schilderte ich alles so, wie ich es empfand, ohne etwas wegzulassen oder zu beschönigen.
Helen hörte mich geduldig bis zum Ende an. Ich erwartete, dass sie etwas sagen würde, aber sie schwieg.
»Nun«, fragte ich ungeduldig, »ist Mrs. Reed nicht eine hartherzige, böse Frau?«
»Gewiss ist sie so lieblos zu dir gewesen, weil ihr dein Charakter ebenso missfällt wie Miss Scatcherd der meine, verstehst du? Aber wie genau du dich an alles erinnerst, was sie dir angetan und gesagt hat! Wie ungewöhnlich tief sich ihre Ungerechtigkeit offenbar in deinem Herzen eingeprägt hat! Keine noch so schlechte Behandlung vermag in mir solch unauslöschliche Spuren zu hinterlassen. Wärest du nicht glücklicher, wenn du versuchtest, ihre Strenge und Unerbittlichkeit und auch die leidenschaftliche Empörung, die sie in dir hervorriefen, zu vergessen? Das Leben scheint mir zu kurz, als dass man es damit verbringen sollte, feindselige Gefühle zu hegen oder über jedes erlittene Unrecht Protokoll zu führen. Wir sind alle, gar alle, mit Fehlern beladen, und so muss es in dieser Welt wohl sein. Aber ich bin sicher, bald wird die Zeit kommen, da wir sie zusammen mit unseren vergänglichen Leibern ablegen, da Verderbnis und Sünde zusammen mit dieser beschwerlichen fleischlichen Hülle von uns abfallen werden und nur der Funke des Geistes erhalten bleibt – jener unfassbare Ursprung des Lebens und Denkens, rein wie ehedem, als der Schöpfer ihn der Kreatur einhauchte. Woher er kam, dahin wird er auch zurückkehren, vielleicht, um in ein höheres Wesen, als der Mensch es ist, einzugehen, vielleicht, um die Stufen himmlischer Herrlichkeit zu durchschreiten, bis die blasse Menschenseele dereinst als leuchtender Seraph erstrahlen wird. Niemals aber wird zugelassen werden, dass er vom Menschen zum Teufel hinabsinkt. Nein, das kann ich einfach nicht glauben. Mein Glaube sagt mir etwas anderes, etwas, was mich niemand gelehrt hat und worüber ich nur selten spreche, was mich aber froh stimmt und woran ich festhalte, denn es birgt Hoffnung für alle. Mein Glaube macht die Ewigkeit zu einem Ort der Ruhe und des Friedens – zu einem großen Zuhause und nicht zu einem Abgrund des Schreckens. Außerdem kann ich mit diesem Glauben ganz klar zwischen dem Verbrecher und seinem Verbrechen unterscheiden, kann ich Ersterem aufrichtig vergeben, während ich Letzteres verabscheue; mit diesem Glauben sinnt mein Herz nie auf Rache, keine Erniedrigung kann mich allzu sehr empören, keine Ungerechtigkeit ganz zu Boden drücken. Ich lebe in Ruhe und erwarte das Ende.«
Helens ohnehin immer etwas gesenkter Kopf neigte sich noch ein wenig tiefer, als sie diesen Satz beendete. Ich sah ihr an, dass sie sich nicht länger mit mir unterhalten, sondern lieber ihren eigenen Gedanken nachhängen wollte. Man ließ ihr allerdings nicht viel Zeit dazu, denn eine der Klassenaufseherinnen, ein großes, ungeschlachtes Mädchen, kam gleich darauf auf sie zu und fuhr sie mit unüberhörbarem Cumberland-Akzent an:
»Helen Burns, wenn du nicht augenblicklich deine Schublade aufräumst und deine Näharbeit ordentlich zusammenlegst, sag ich Miss Scatcherd Bescheid, damit sie sich das ansieht.«
Helen seufzte, als sie aus ihrer Träumerei gerissen wurde, erhob sich und gehorchte der Aufseherin sofort und ohne Widerrede.
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