»Sie? Niemals! Sie haben Mr. Brocklehurst gesagt, ich hätte einen schlechten Charakter, neigte zu Falschheit und Hinterlist; aber ich werde allen in Lowood erzählen, wie Sie sind und was Sie getan haben.«
»Das sind Dinge, die du nicht verstehst, Jane! Kinder müssen nun einmal für ihre Fehler getadelt und bestraft werden.«
»Ich bin aber nicht verlogen!«, stieß ich aufgebracht und schrill hervor.
»Aber du bist unbeherrscht und jähzornig, Jane, das musst du doch zugeben. Und jetzt, mein liebes Kind, geh ins Kinderzimmer zurück und leg dich ein wenig hin.«
»Ich bin nicht Ihr liebes Kind; und hinlegen kann ich mich jetzt nicht. Schicken Sie mich bald zur Schule, Mrs. Reed – ich hasse es, hier zu leben.«
»Ich werde sie wirklich bald zur Schule schicken!«, murmelte Mrs. Reed leise vor sich hin. Dann raffte sie ihr Nähzeug zusammen und verließ hastig das Zimmer.
Ich blieb allein zurück – als Siegerin. Es war die schwerste Schlacht gewesen, die ich je geschlagen, der erste Sieg, den ich errungen hatte. Eine Weile lang blieb ich auf dem Teppich stehen, dort, wo Mr. Brocklehurst gestanden hatte, und genoss meinen einsamen Triumph. Anfangs lächelte ich mir selbst zu und fühlte mich in gehobener Stimmung, doch dieses ungestüme Hochgefühl ließ ebenso rasch nach wie das beschleunigte Pochen meines Pulses. Ein Kind kann nicht mit Erwachsenen streiten, so wie ich es getan hatte; es kann nicht einfach, wie ich eben, seiner Wut freien Lauf lassen, ohne gleich darauf Gewissensbisse und beklemmende Ernüchterung zu empfinden. Ein brennender Bergrücken, auf dem die Flammen im trockenen Heidekraut stets neue Nahrung finden und helllodernd und unersättlich immer weiter um sich greifen, wäre ein treffendes Bild für meine Gemütsverfassung gewesen, in der ich Mrs. Reed anklagte und bedrohte; der gleiche Bergrücken nach Erlöschen des Feuers, schwarz und verkohlt, hätte ebenso treffend die Stimmung wiedergegeben, die sich meiner bemächtigte, als mir nach einer halben Stunde stillen Nachdenkens klar wurde, wie unsinnig ich mich betragen hatte und wie trostlos meine Lage war, umgeben von Menschen, die mich ebenso hassten wie ich sie.
Zum ersten Mal hatte ich ein wenig Rache gekostet. Wie würziger Wein war sie mir beim ersten Schluck erschienen, warm und anregend; ihr Nachgeschmack aber, metallisch und ätzend, ließ in mir ein Gefühl aufsteigen, als sei ich vergiftet worden. Am liebsten wäre ich jetzt zu Mrs. Reed gegangen und hätte sie um Verzeihung gebeten, doch teils aus Erfahrung, teils instinktiv wusste ich, dass sie mich dann nur mit doppelter Verachtung zurückgestoßen und damit erneut alle aufrührerischen Regungen in mir entfacht hätte.
Wie gern hätte ich bessere Fähigkeiten besessen als die Gabe, ungestüme und hitzige Reden zu führen, wie gern ein weniger grimmiges Gefühl in mir genährt als finstere Empörung! Ich nahm ein Buch zur Hand – es waren arabische Märchen aus Tausendundeiner Nacht. Ich setzte mich hin und versuchte zu lesen, doch ich vermochte den Geschichten keinen Sinn abzugewinnen; meine eigenen Gedanken drängten sich immer wieder in den Vordergrund und ließen den Text, der mich sonst so fesselte, vor meinen Augen verschwimmen. Ich öffnete die Glastür, die vom Frühstückszimmer ins Freie führte: Draußen herrschte strenger Frost, den kein Sonnenstrahl, kein Luftzug milderte; Büsche und Sträucher lagen ruhig und friedlich vor mir. Ich bedeckte Kopf und Arme mit meinem Rock und ging hinaus, um in einem recht abgelegenen Teil des Gartens ein wenig spazieren zu gehen. Aber ich fand keine Freude an den stillen Bäumen, den fallenden Tannenzapfen, den erstarrten Überresten des Herbstes, diesen Haufen rotgelber Blätter, die der Wind vor dem Frosteinbruch aufgetürmt hatte und die nun steinhart gefroren waren. Ich lehnte mich an eine Pforte und blickte auf ein leeres Feld hinaus, auf dem keine Schafe mehr weideten und der Raureif die kurzen Grasstoppeln weiß gefärbt hatte und absterben ließ. Es war ein sehr grauer Tag. Über allem erstreckte sich ein düsterer Himmel, über den dunkle Schneewolken zogen. Hie und da fielen auch schon ein paar Flocken, die auf dem gefrorenen Weg und der weißschimmernden Wiese liegen blieben. Unglücklich und elend stand ich da, und immer wieder flüsterte ich verzweifelt vor mich hin: ›Was soll ich nur tun? Was soll ich nur tun?‹
Plötzlich hörte ich eine helle Stimme rufen: »Miss Jane, wo sind Sie? Kommen Sie zum Mittagessen.«
Es war Bessie, das wusste ich wohl; dennoch rührte ich mich nicht. Mit leichtem Schritt kam sie den Gartenweg herunter.
»Sie ungezogenes kleines Ding!«, schalt sie. »Warum kommen Sie nicht, wenn man Sie ruft?«
Im Vergleich zu meinen Grübeleien erschien mir Bessies Gegenwart geradezu ein erfreulicher Lichtblick, obwohl sie, wie so oft, etwas verärgert war. Tatsächlich war ich nach meiner Auseinandersetzung mit Mrs. Reed und meinem Sieg über sie nicht mehr gewillt, mich vom vorübergehenden Unmut des Kindermädchens allzu sehr einschüchtern zu lassen; an ihrer jugendlichen Unbeschwertheit aber wollte ich mich gern wärmen. Ich schlang einfach meine Arme um sie und sagte: »Ach, Bessie, so schimpf doch nicht mit mir!«
Mein Verhalten war freier und furchtloser als gewöhnlich, und irgendwie schien ihr das zu gefallen.
»Sie sind ein seltsames Kind, Miss Jane«, sagte sie und blickte auf mich herunter. »Ein unberechenbares, einsames Ding! Und jetzt sollen Sie wohl auf eine Schule geschickt werden?«
Ich nickte.
»Wird es Ihnen gar nicht leidtun, die arme Bessie zu verlassen?«
»Was macht Bessie sich denn schon aus mir? Sie zankt mich ja doch nur immer aus.«
»Weil Sie so ein sonderbares, verängstigtes, schüchternes kleines Ding sind. Sie sollten beherzter sein.«
»Was? Damit ich noch mehr Schläge bekomme?«
»Unsinn! Aber leicht haben Sie’s nicht, das stimmt schon. Als mich meine Mutter letzte Woche besuchte, sagte sie, sie möchte keines ihrer Kinder an Ihrer Stelle sehen. Nun kommen Sie aber mit hinein; ich habe gute Nachrichten für Sie.«
»Das glaube ich nicht, Bessie.«
»Aber Kind! Was soll das nun wieder heißen? Wie traurig Sie mich ansehen! Nun, die Gnädige ist heute Nachmittag mit den jungen Damen und Master John zum Tee eingeladen, und wir beide, wir werden hier zusammen Tee trinken. Ich werde die Köchin bitten, Ihnen einen kleinen Kuchen zu backen, und danach können Sie mir helfen, Ihre Schubladen durchzusehen, denn ich muss bald Ihre Koffer packen. Mrs. Reed wünscht, dass Sie Gateshead in ein bis zwei Tagen verlassen, und Sie sollen sich die Spielsachen aussuchen, die Sie mitnehmen möchten.«
»Bessie, du musst mir versprechen, nicht mehr mit mir zu schimpfen, solange ich noch hier bin.«
»Gut, ich verspreche es; aber Sie müssen auch ganz artig sein und dürfen keine Angst vor mir haben. Zucken Sie nicht immer gleich zusammen, wenn ich einmal etwas heftiger werde: das bringt mich nämlich erst richtig auf.«
»Ich glaube nicht, dass ich vor dir jemals wieder Angst haben werde, Bessie, denn an dich habe ich mich gewöhnt; und bald wird es eine ganze Reihe andrer Leute geben, vor denen ich mich fürchten muss.«
»Wenn Sie sich vor ihnen fürchten, werden sie Sie nicht mögen.«
»So wie du mich auch nicht magst, Bessie?«
»Ich hab Sie doch gern, Miss; ich glaube, ich mag Sie sogar lieber als alle anderen hier.«
»Das lässt du dir aber nicht anmerken.«
»Sie bissiges kleines Ding! Das sind ja ganz neue Töne, die man da von Ihnen hört. Was macht Sie denn heute so kühn und verwegen?«
»Nun, ich werde ja bald fort sein und außerdem –« Ich war drauf und dran zu erzählen, was zwischen Mrs. Reed und mir vorgefallen war, aber dann erschien es mir doch besser, über diesen Punkt Schweigen zu bewahren.
»Dann sind Sie also froh, mich zu verlassen?«
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