»Ist es immer noch Rasselas ?«, fragte ich, während ich hinter sie trat.
»Ja«, sagte sie, »und ich bin gleich damit fertig.«
Fünf Minuten später klappte sie das Buch zu. Ich war froh darüber. ›Vielleicht kann ich sie jetzt zum Sprechen bringen‹, dachte ich und setzte mich neben sie auf den Boden.
»Wie heißt du noch außer Burns?«
»Helen.«
»Wo kommst du her? Hast du weit weg von hier gelebt?«
»Ich komme aus einem Ort weit oben im Norden, fast an der Grenze zu Schottland.«
»Wirst du je wieder dorthin zurückgehen?«
»Ich hoffe es; aber niemand weiß, was die Zukunft bringt.«
»Du möchtest sicher gern fort von Lowood?«
»Nein, warum sollte ich? Ich wurde nach Lowood geschickt, um etwas zu lernen, und es hätte keinen Sinn wegzugehen, ehe ich dieses Ziel erreicht habe.«
»Aber diese Lehrerin, Miss Scatcherd, ist doch so grausam zu dir?«
»Grausam? Keineswegs! Sie ist streng; meine Fehler missfallen ihr.«
»Wäre ich an deiner Stelle, würde ich sie bestimmt hassen. Ich widersetzte mich ihr, und wenn sie mich mit dieser Rute schlüge, risse ich sie ihr aus der Hand. Ich würde sie vor ihrer Nase zerbrechen.«
»Wahrscheinlich würdest du nichts dergleichen tun; tätest du es aber doch, so würde dich Mr. Brocklehurst von der Schule jagen, und das würde deinen Angehörigen großen Kummer bereiten. Es ist viel besser, einen Schmerz, den niemand außer dir selbst spürt, geduldig zu ertragen, als sich zu einer übereilten Tat hinreißen zu lassen, deren schlimme Folgen sich auf alle auswirken, die etwas mit dir zu tun haben; und außerdem gebietet uns auch die Bibel, Böses mit Gutem zu vergelten.«
»Aber es ist doch so beschämend, geschlagen zu werden und sich mitten in einen Raum voller Menschen stellen zu müssen! Und du bist doch schon so groß! Ich bin viel jünger als du, aber ich könnte es nicht ertragen.«
»Und doch wäre es deine Pflicht, es zu ertragen, wenn du es nicht vermeiden konntest. Es ist ein Zeichen von Schwäche und töricht zu sagen, du könntest nicht ertragen, was das Schicksal dir auferlegt hat.«
Ich hörte ihr verwundert zu: Diese Lehre von der Duldsamkeit war mir unbegreiflich, und noch weniger vermochte ich die Nachsicht zu verstehen oder gar zu teilen, die sie ihrer Peinigerin entgegenbrachte. Doch ich spürte, dass Helen Burns die Dinge in einem meinen Augen verborgenen Licht sah. Ich ahnte, sie könnte recht und ich unrecht haben, aber ich hatte keine Lust, der Frage weiter nachzugehen: wie Felix vertagte ich das auf einen späteren Zeitpunkt.
»Du sagst, du hättest Fehler, Helen. Welche denn? Ich kann keinen an dir entdecken.«
»Dann lerne an mir, nicht nach dem äußeren Schein zu urteilen. Ich bin, wie Miss Scatcherd schon sagte, schlampig; ich räume meine Sachen nur selten auf und halte sie nicht in Ordnung; ich bin nachlässig; ich verstoße gegen die Hausordnung; ich lese, wenn ich lernen sollte; ich arbeite nicht systematisch; und manchmal behaupte ich wie du, ich könne es nicht ertragen , starren Regeln unterworfen zu sein. All das bringt Miss Scatcherd auf, die von Natur aus ordentlich, pünktlich und sehr korrekt ist.«
»Und gemein und grausam«, fügte ich hinzu, aber Helen Burns war nicht gewillt, auf meine Bemerkung einzugehen. Sie schwieg.
»Ist Miss Temple auch so streng mit dir wie Miss Scatcherd?«
Als ich Miss Temples Namen erwähnte, huschte ein sanftes Lächeln über ihr ernstes Gesicht.
»Miss Temple ist voller Güte. Es schmerzt sie, streng sein zu müssen, und sei es nur gegen das ungezogenste Mädchen an der Schule. Sie sieht auch meine Fehler und macht mich behutsam auf sie aufmerksam; und wenn etwas, was ich tue, Lob verdient, dann geizt sie damit nicht. Und es ist doch ein unwiderlegbarer Beweis für meine erbärmliche Charakterschwäche, dass ihre so sachten, so vernünftigen Ermahnungen mich nicht von meinen Fehlern zu heilen vermögen und dass selbst ihre Anerkennung, die mir doch mehr als alles andere bedeutet, mich nicht zu ständiger Sorgfalt und Achtsamkeit anspornen kann.«
»Das ist merkwürdig«, meinte ich. »Es ist doch so leicht, sorgfältig und achtsam zu sein.«
»Für dich ist es das offenbar. Ich habe dich heute Morgen beim Unterricht beobachtet und gesehen, wie aufmerksam du warst: Deine Gedanken schienen nie abzuschweifen, während Miss Miller den Stoff erklärte und dir Fragen stellte. Aber meine Gedanken sind ständig woanders, und wenn ich Miss Scatcherd zuhören und mir alles, was sie sagt, eifrig merken sollte, nehme ich oft nicht einmal mehr den Klang ihrer Stimme wahr; ich träume vor mich hin. Manchmal glaube ich, ich sei in Northumberland und die Geräusche um mich herum seien das Murmeln eines kleinen Baches, der ganz in der Nähe unseres Hauses durch Deepden fließt. Wenn ich dann aufgerufen werde und eine Frage beantworten soll, muss man mich erst wecken; und da ich in Gedanken dem Plätschern des Bächleins gelauscht und nichts von dem gehört habe, was vorgelesen wurde, kann ich keine Antwort geben.«
»Heute Nachmittag hast du aber doch sehr gut geantwortet.«
»Das war reiner Zufall: Das Thema, das wir durchgenommen haben, interessierte mich. Anstatt von Deepden zu träumen, dachte ich heute Nachmittag darüber nach, wie ein Mensch, der doch das Rechte wollte, so ungerecht und unklug handeln konnte, wie Karl der Erste es zuweilen tat, und welch ein Jammer es war, dass er trotz seiner Rechtschaffenheit und Gewissenhaftigkeit lediglich die Vorrechte der Krone im Auge hatte. Hätte er nur ein bisschen mehr Weitblick gehabt und den sogenannten Zeitgeist erkannt! Trotzdem mag ich Karl – ich achte ihn – ich bemitleide ihn, den armen ermordeten König! Ja, seine Feinde waren viel schlimmer als er; sie hatten keinerlei Recht, sein Blut zu vergießen. Wie konnten sie es wagen, ihn zu töten!«
Helen sprach nun zu sich selbst. Sie hatte vergessen, dass ich ihr gar nicht folgen konnte – dass ich über die Ereignisse, die sie erwähnte, so gut wie nichts wusste. Ich brachte das Gespräch wieder auf eine Ebene, auf der ich mitreden konnte.
»Schweifen deine Gedanken auch ab, wenn Miss Temple unterrichtet?«, fragte ich.
»Nein, zumindest nicht oft, denn Miss Temple hat meist etwas zu sagen, das neuer und interessanter ist als meine eigenen Überlegungen. Ihr höre ich besonders gern zu, und oft erzählt sie genau das, was ich gerade wissen wollte.«
»Bei Miss Temple bist du also artig?«
»Ja, aber ohne mein Zutun. Ich gebe mir keine Mühe, sondern folge einfach meiner Neigung. Auf diese Weise artig zu sein ist kein Verdienst.«
»O doch! Denn wenn jemand gut zu dir ist, dann bist auch du artig und gut. Anders möchte ich gar nicht sein. Begegnete man grausamen und ungerechten Leuten stets freundlich und unterwürfig, so könnten diese bösen Menschen alles tun, was ihnen passt; sie hätten nichts zu fürchten und würden sich folglich nie ändern, sondern nur immer noch schlechter werden. Wenn uns jemand grundlos schlägt, sollten wir mit aller Kraft zurückschlagen, ja bestimmt, das sollten wir, und zwar so, dass es dem Betreffenden zur Lehre gereicht und er es nie wieder tut.«
»Du wirst hoffentlich deine Meinung ändern, wenn du älter wirst; jetzt bist du ja noch ein kleines, unwissendes Mädchen.«
»Aber ich empfinde es nun einmal so, Helen. Ich kann niemanden gernhaben, der sich weigert, seine Abneigung gegen mich aufzugeben, obwohl ich mir die größte Mühe gebe, es ihm recht zu machen; ich muss mich gegen die zur Wehr setzen, die mich zu Unrecht bestrafen. Das ist doch nur natürlich. Und genauso natürlich ist es, dass ich die Menschen liebe, die mir Zuneigung entgegenbringen, oder mich einer Bestrafung unterwerfe, wenn ich weiß, dass ich sie verdient habe.«
»Heiden und Angehörige primitiver Stämme leben nach solchen Grundsätzen; Christen und zivilisierte Völker aber lehnen sie ab.«
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