»Was soll das?«
Er zuckt nur die Achseln. »Da war ein Schmutzfleck«, rechtfertigt er sein Verhalten. Und wieder sind es seine Worte, die mir noch im Kopf herumspuken. Da er nichts sagt, greife ich das Thema noch einmal auf.
»Ich gehöre Ihnen aber nicht«, kommt es jetzt doch über meine Lippen. »Im Grunde gehört kein Mensch einem anderen. Es gibt Gesetze, die die Menschenrechte ganz klar definieren«, setze ich noch bestimmt hinzu, als würde ich gerade ein Referat halten. Warum ich noch einmal auf dieses Thema eingegangen bin, weiß ich eigentlich nicht. Aber irgendwie beschäftigt es mich. »1804 hat Massachusetts die Sklaverei abgeschafft und bereits 1773 fing alles mit der Boston Tea Party an«, sprudelt es aus mir heraus. »Das ist alles rechtlich geregelt.«
Jetzt lacht er mich doch tatsächlich aus. Aber dieses Lachen ist nicht provozierend oder anmaßend, es wirkt versöhnlich und liebevoll.
»Okay, kleine Lady. Nicht im rechtlichen Sinne, aber auf eine andere Art. Eine freiwillige Art. Außerdem hatte ich nicht vor, Ihnen die Ohren abzuschneiden. Ich zwinge auch niemanden mit Mitteln zur Disziplin, die menschenunwürdig sind«, sagt er kopfschüttelnd. Als er die Mundwinkel nach oben zieht, zeigt sich wieder das kleine Grübchen.
Wenn ich es nicht besser wüsste, könnte ich annehmen, er hätte Interesse an mir. Welcher Art dieses Interesse sein soll, kann ich aber nicht sagen. Irgendetwas Magisches liegt zwischen uns in der Luft.
»Eine freiwillige Art? Was meinen Sie damit?«, stoße ich empört aus. Wer will schon freiwillig einem anderen Menschen dienen? Wir befinden uns nicht mehr im Mittelalter, sondern im 21. Jahrhundert. Wofür gibt es Menschenrechte und Gesetze? Er unterbricht meine Gedankengänge, als er zu meinen Händen greift und die Handflächen nach oben dreht.
»Vergessen Sie es. Es ist nicht wichtig. Reinigen Sie die Wunden gut. Es sind zwar nur kleine Kratzer, doch auch damit sollte man vorsichtig sein. Sind Sie geimpft?«
Seine Stimme nimmt jetzt einen neutralen Ton an. Die provozierende Haltung ist völlig verschwunden, was ich fast ein wenig bedaure. Selbst die aufgeladene Atmosphäre zwischen uns hat Normalität Platz gemacht. Ich ziehe meine Hände aus seinem Griff, als hätte ich mich verbrannt, und wische die letzten Reste Erde an meiner Jeans ab.
»So schlimm ist es nicht«, wehre ich ab.
»Sagen Sie das nicht. Es gibt Menschen, die sind schon wegen kleinereren Kratzern an einer Blutvergiftung gestorben.«
»Ich glaube, jetzt übertreiben Sie.«
»Mein bester Freund ist Arzt. Sie können mir also glauben.« Dabei greift er wieder nach meinem Arm, um sich meine Kratzer anzusehen. »Wissen Sie, wie gefährlich Bakterien sind und was sie im Blutkreislauf anrichten können?«
Als hätte mir der Tag heute nicht schon genug schlechte Überraschungen gebracht; ich brauche jetzt nicht auch noch eine Lehrstunde in medizinischer Hygiene. Und doch lässt er mich nicht kalt. Im Gegenteil, sein Interesse an mir ist nicht gespielt, als würde er sich aufrichtig Sorgen machen.
Das laute Kreischen einiger Kinder, die auf dem Weg zur Schule sind, lässt mich aus meiner Benommenheit erwachen, die mich bei seiner Frage wieder überkommen hat, sodass ich nicht gezwungen bin, auf seine Äußerung einzugehen. Abrupt gibt er mich frei, tritt einen Schritt zurück und bückt sich, um das Rennrad vom Boden aufzuheben.
»Passen Sie das nächste Mal besser auf«, belehrt er mich in einem ruhigen, versöhnlichen Ton und schiebt das Rad neben mich.
Ein letzter Blick in seine verführerischen Augen und er ist weg. Ich drehe mich um und starre ihm nach, wie er schnell um die nächste Biegung joggt. Aber er wendet sich nicht mehr um und dann ist er aus meinem Blickfeld verschwunden. Als hätte ich etwas verloren, stehe ich stumm da und schaue auf den leeren Weg, in der Hoffnung, ihn wiederzusehen. Doch nur die Blätter, die der Wind von den Bäumen gerissen hat, wirbeln über den sandigen Boden. Ich möchte ihm am liebsten nachlaufen, ihn nach seinem Namen oder seiner Telefonnummer fragen, aber das ist unmöglich. Resigniert schnappe ich mir das Rennrad und schiebe es den Weg entlang.
Was meinte er damit, ›nicht im rechtlichen Sinne‹, sondern auf eine andere Art? Welche Art sollte das sein? Auf dem restlichen Weg zum Büro lässt mich dieser Gedanke nicht mehr los. Er beherrscht mich regelrecht, sodass ich gar nicht mitkriege, dass ich schon vor dem Firmengebäude angekommen bin. Die einzige Verbindung, die für mich akzeptabel ist, ist die einer aufrichtigen Beziehung, in der Vertrauen und Liebe die Basis bilden, rede ich mir ein, während die Eingangstür des Bürokomplexes geräuschvoll hinter mir ins Schloss fällt.
Aber welche Garantie gibt es schon? Bin ich nicht erst vor kurzem mit der harten Realität konfrontiert worden? Ich sollte diesen Typen schnellstens aus meinen Gedanken streichen. Ein Mann mit diesem Aussehen kann nicht der Richtige sein. Niemals! Schöne Männer hat man nie für sich allein. Da brauche ich nur an Sean zu denken. Schwanzgesteuert, alle!
Ich drücke auf den Aufzugknopf und warte.
Jetzt bereue ich es fast, dass nicht mehr passiert ist, denn dann hätten wie unsere Personalien austauschen müssen. Über mich selbst und meine hirnrissigen Gedanken den Kopf schüttelnd steige ich in den Aufzug und fahre in den zweiten Stock. Ich muss doch härter mit dem Kopf aufgeschlagen sein, als ich dachte. Habe ich nicht gerade erst eine beschissene Beziehung hinter mich gebracht? Daraus sollte ich doch gelernt haben.
Es ist zehn Minuten nach neun, als ich den Gang bis ans Ende hechte, die Büroräume von Fullerton & Fullerton Immobilien betrete und Elijahs Fahrrad im Flur in die Ecke schiebe. Mein Chef steht mit einer Tasse dampfenden Kaffee in der Hand in seiner offenen Bürotür und schaut provozierend auf seine Armbanduhr, die er von seinem Vater geerbt hat. Innerlich mache ich mich schon für eine Auseinandersetzung bereit.
Mister Fullerton Senior ist vor einem Jahr verstorben, sein Bild hängt neben dem von Fullerton Junior im Foyer und darunter ein kleines Schild mit seinem Namen und der Information, dass er der Gründer der Immobiliengesellschaft war. Jetzt wird die Firma ganz allein von seinem Sohn geführt.
Nicht zum ersten Mal bedauere ich den Tod von Mister Fullerton Senior. Er war ganz anders als sein Sohn, hatte immer ein offenes Ohr und stand loyal zu seinen Mitarbeitern. Bei ihm florierte das Geschäft trotz der Konkurrenz, was man heute nicht mehr behaupten kann. Sonst hätte Mister Fullerton Junior Adam und Mia nicht entlassen müssen. Wie ich diesen Sack von Juniorchef hasse. Nicht, weil er einen pedantischen Stil verfolgt und auf Pünktlichkeit und Ordnung Wert legt, das tue ich auch. Es ist vielmehr sein Charakter, der mich ihn hassen lässt. Vor kurzem, als ich wieder einmal Überstunden machen musste und wir allein im Büro waren, drückte er sich von hinten an mich, bis ich seinen harten Schwanz durch seine Hose an meinem Po gespürt habe. Sein schneller Atem, der mir signalisierte, wie scharf er auf mich war, trieb mir vor lauter Ekel eine Gänsehaut über den Körper. Als ich mich erschrocken zu ihm umdrehte, leckte er sich gerade mit der Zunge über die schmalen Lippen und ein wenig Speichel klebte in seinem Mundwinkel. Mich schüttelt es jetzt noch, wenn ich daran denke. Unangenehm berührt wandte ich mich einfach ab und gab der ganzen Situation etwas Belangloses, um ihn nicht bloßzustellen.
Am Ende machte er mich dafür verantwortlich, ich hätte ihn mit meiner engen Jeans gereizt und angemacht. Natürlich entsprach das nicht der Wahrheit. Was bildet sich dieser Mensch nur ein? Er ist an die 60, ich bin 27. Außerdem ist er verheiratet und wirklich nicht das, was ich als attraktiv einstufen würde. Er wirkt schwammig, hat mindestens 20 Kilo Übergewicht, leidet an Bluthochdruck und ist Choleriker.
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