Lukas 15
1Es nahten sich ihm aber alle Zöllner und Sünder, um ihn zu hören. 2Und die Pharisäer und die Schriftgelehrten murrten und sprachen: Dieser nimmt die Sünder an und isst mit ihnen.
Lk 15,1–2Sünder und Pharisäer 15,1Zöllner, vgl. Anm. zu 3,12. Sünder, diejenigen, die das Gemeinwohl verletzen. 15,2Isst mit ihnen, suggeriert Verbundenheit und Akzeptanz (dagegen Ps 1,1: „Wohl dem [hebr. aschrej, vgl. LXX makarios], der nicht […] sitzt, wo die Spötter sitzen“).
3Er sagte aber zu ihnen dies Gleichnis und sprach: 4Welcher Mensch ist unter euch, der hundert Schafe hat und, wenn er eines von ihnen verliert, nicht die neunundneunzig in der Wüste lässt und geht dem verlorenen nach, bis er‘s findet? 5Und wenn er‘s gefunden hat, so legt er sich‘s auf die Schultern voller Freude. 6Und wenn er heimkommt, ruft er seine Freunde und Nachbarn und spricht zu ihnen: Freut euch mit mir; denn ich habe mein Schaf gefunden, das verloren war. 7Ich sage euch: So wird auch Freude im Himmel sein über einen Sünder, der Buße tut, mehr als über neunundneunzig Gerechte, die der Buße nicht bedürfen.
Lk 15,3–7Das Gleichnis vom verlorenen Schaf (Mt 18,12–14) 15,4Der hundert Schafe hat, verweist auf eine Person mit einem gewissen Vermögen. Eines von ihnen verliert, deutet an, dass der Besitzer der Schafe nicht Gott ist, weil Gott keine Menschen verliert. Um das Fehlen eines Schafes von hundert zu bemerken, musste der Besitzer sie zählen. Geht dem verlorenen nach, bzgl. Gott als Hirte vgl. Ps 23; 78,52; 80,2; 100,3; bzgl. dem Volk als verlorenes Schaf vgl. Jer 50,6; Ez 34,15–16; Ps 119,176. SchemR 2,2 stellt Mose als den guten Schafhirten dar, der nach einen verlorenen Schaf sucht und daraufhin den göttlichen Auftrag erhält, das Volk Gottes, Israel, zu hüten. Allerdings wird in diesem Gleichnis die Bezeichnung Hirte nicht verwendet. 15,7Ein Sünder, der Buße tut, Lukas überliefert eine allegorische Deutung des Gleichnisses (vgl. Anm. zu 8,9; Lk 18,1).
8Oder welche Frau, die zehn Silbergroschen hat und einen davon verliert, zündet nicht ein Licht an und kehrt das Haus und sucht mit Fleiß, bis sie ihn findet? 9Und wenn sie ihn gefunden hat, ruft sie ihre Freundinnen und Nachbarinnen und spricht: Freut euch mit mir; denn ich habe meinen Silbergroschen gefunden, den ich verloren hatte. 10So, sage ich euch, ist Freude vor den Engeln Gottes über einen Sünder, der Buße tut.
Lk 15,8–10Das Gleichnis vom verlorenen Groschen 15,8Wenn der Hirte in Lk 15,3–7als Gott verstanden wird, sollte das auch auf diese Frau zutreffen. Weibliche Gottesbilder finden sich vereinzelt im Tanach, z.B. in Jes 49,15–16. Silbergroschen, Drachmen. Einen davon verliert, wie der Schafbesitzer, hat auch die Frau gezählt. 15,9Freundinnen und Nachbarinnen, feminine Substantive, die auf weibliche Wegbegleiterinnen hinweisen. 15,10Ein Sünder, der Buße tut, vgl. Anm. zu 15,7.
11Und er sprach: Ein Mensch hatte zwei Söhne. 12Und der jüngere von ihnen sprach zu dem Vater: Gib mir, Vater, das Erbteil, das mir zusteht. Und er teilte Hab und Gut unter sie.
13Und nicht lange danach sammelte der jüngere Sohn alles zusammen und zog in ein fernes Land; und dort brachte er sein Erbteil durch mit Prassen. 14Als er aber alles verbraucht hatte, kam eine große Hungersnot über jenes Land und er fing an zu darben 15und ging hin und hängte sich an einen Bürger jenes Landes; der schickte ihn auf seinen Acker, die Säue zu hüten. 16Und er begehrte, seinen Bauch zu füllen mit den Schoten, die die Säue fraßen; und niemand gab sie ihm. 17Da ging er in sich und sprach: Wie viele Tagelöhner hat mein Vater, die Brot in Fülle haben, und ich verderbe hier im Hunger! 18Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen und zu ihm sagen: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir. 19Ich bin hinfort nicht mehr wert, dass ich dein Sohn heiße; mache mich einem deiner Tagelöhner gleich! 20Und er machte sich auf und kam zu seinem Vater.
Als er aber noch weit entfernt war, sah ihn sein Vater und es jammerte ihn, und er lief und fiel ihm um den Hals und küsste ihn. 21Der Sohn aber sprach zu ihm: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir; ich bin hinfort nicht mehr wert, dass ich dein Sohn heiße. 22Aber der Vater sprach zu seinen Knechten: Bringt schnell das beste Gewand her und zieht es ihm an und gebt ihm einen Ring an seine Hand und Schuhe an seine Füße 23und bringt das gemästete Kalb und schlachtet‘s; lasst uns essen und fröhlich sein! 24Denn dieser mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden; er war verloren und ist gefunden worden. Und sie fingen an, fröhlich zu sein.
25Aber der ältere Sohn war auf dem Feld. Und als er nahe zum Hause kam, hörte er Singen und Tanzen 26und rief zu sich einen der Knechte und fragte, was das wäre. 27Der aber sagte ihm: Dein Bruder ist gekommen, und dein Vater hat das gemästete Kalb geschlachtet, weil er ihn gesund wiederhat. 28Da wurde er zornig und wollte nicht hineingehen. Da ging sein Vater heraus und bat ihn. 29Er antwortete aber und sprach zu seinem Vater: Siehe, so viele Jahre diene ich dir und habe dein Gebot nie übertreten, und du hast mir nie einen Bock gegeben, dass ich mit meinen Freunden fröhlich wäre. 30Nun aber, da dieser dein Sohn gekommen ist, der dein Hab und Gut mit Huren verprasst hat, hast du ihm das gemästete Kalb geschlachtet. 31Er aber sprach zu ihm: Mein Sohn, du bist allezeit bei mir und alles, was mein ist, das ist dein. 32Du solltest aber fröhlich und guten Mutes sein;[*] denn dieser dein Bruder war tot und ist wieder lebendig geworden, er war verloren und ist wiedergefunden.
Lk 15,11–32Das Gleichnis vom verlorenen Sohn Vgl. „Das Gleichnis vom verlorenen Sohn“. 15,12Er teilte Hab und Gut, vgl. Anm. zu 12,13; Sir 33,19–23. 15,15Säue, vgl. Anm. zu 8,32. 15,17Da ging er in sich, es wird nicht berichtet, dass der verlorene Sohn Buße tat ( Lk 15,7. 10). 15,18Ich habe gesündigt, vgl. Ex 10,16: Die Analogie zum Bekenntnis des Pharao lässt die Aussage des Sohnes weniger ernsthaft erscheinen. 15,20Es jammerte ihn, vgl. Anm. zu 10,33. 15,23Gemästetes Kalb, vgl. 1Sam 28,24; Am 6,4. 15,25Er [hörte] Singen, anders als das verlorene Schaf und der Groschen, wird der verlorene Sohn nicht gesucht; anders als der Schafbesitzer und die Frau, musste der Vater nicht zählen. 15,29Diente ich dir, in manchen Auslegungen wird der ältere Sohn mit den Pharisäern verglichen, auf die das negative Klischee projiziert wird, sie würden Gott lustlos und mechanisch dienen; V. 32 spricht gegen diese Interpretation. 15,30Dieser dein Sohn, Feindschaft unter Geschwistern (Gen 4,2–8; 25,27–34; 27,1–36; 37,1–4). 15,31Alles, was mein ist, das ist dein, vgl. V. 12. 15,32Dieser dein Bruder, der Vater versucht, die Söhne zu versöhnen.
Das Gleichnis vom verlorenen Sohn
Die thematisch ähnlichen Gleichnisse vom verlorenen Schaf und dem verlorenen Groschen, die diesem Gleichnis unmittelbar vorangehen, zeigen, dass es hier um mehr geht als um bloße Umkehr (trotz der Feststellung in Lk 15,10), denn weder Schafe noch Münzen sind zur Umkehr fähig. Wenn man das Gleichnis in einen jüdischen Kontext stellt, verleiht man der Geschichte mehr Tiefe und verhindert einige volkstümliche (Fehl-)Interpretationen.
1) Eine Geschichte, die mit „Ein Mann hatte zwei Söhne“ beginnt, gibt angesichts der Brüderpaare Kain und Abel, Ismael und Isaak, Esau und Jakob schon gleich zu Beginn ihr Thema an. Jüdische Hörerinnen und Hörer würden sich wahrscheinlich (von Anfang an) mit dem jüngeren Sohn identifizieren. Hier aber blamiert sich der jüngere Sohn durch einen ausschweifenden Lebenswandel. So werden sich die Hörerinnen und Hörer schockiert der Möglichkeit zuwenden, sich mit dem älteren Sohn zu identifizieren und dann vielleicht auch die Qualitäten dieser älteren Söhne in der biblischen Tradition zu erkennen.2) Die Bitte des Sohnes um sein Erbe beleidigt den Vater nicht, wie oft behauptet wird, obwohl der Vater mit seiner Zustimmung riskiert, als Narr zu erscheinen (Sir 33,20–24). Hätte der Sohn seinen Vater durch die Bitte um Auszahlung seines Erbteils entehrt, hätte sein Vater ihn sofort zurechtgewiesen und ihm nicht seine Bitte gewährt.3) Obwohl viele Auslegerinnen und Ausleger den Sohn für reuevoll halten, erwähnt der Text dies nicht. Der Beweggrund des verlorenen Sohns, zu seinem Vater zurückzukehren, ist eher wirtschaftliche Hoffnungslosigkeit als theologische Erkenntnis, und in seinem eher formelhaft wirkenden Vers „Ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir“ ( Lk 15,18) hallt die ähnlich verzweifelte Bitte des Pharaos nach (Ex 10,16), der einfach nur will, dass die Plagen aufhören.4) Die übliche Ansicht, dass die großzügige Reaktion des Vaters auf den Verlorenen – gleich, ob man in ihm einen liebenden Elternteil oder eine Verkörperung Gottes sieht – Jesu jüdisches Publikum erstaunt habe, ist ebenfalls falsch. In der jüdischen Tradition schreibt man Vätern gemeinhin zu, ihre Kinder zu lieben (s. Anm. zu Lk 8,42), und Gott, dem Sünder die Hand hinzustrecken, um ihn heimzuholen.5) Das übliche Verständnis des älteren Bruders als widerspenstiger Pharisäer, der „wie ein Skalve arbeitet“ und eher durch Werkgerechtigkeit belastet denn durch Gnade gerettet ist, passt weder zum Gleichnis noch zur jüdischen Tradition. Im Gegenteil: Der Ältere ist derjenige, der immer beim Vater und dessen Erbe bleibt.In Verbindung mit den Gleichnissen vom verlorenen Schaf und verlorenen Groschen dreht sich dieses Gleichnis darum, was wirklich zählt. Der Besitzer der Schafe erkennt das eine fehlende Schaf in einer Herde von 100, die Frau bemerkt die eine fehlende von zehn Münzen. Der Mann hat zwei Söhne, vergisst aber, sie zu zählen. Er hat genug Zeit, die Feier für den verlorenen Sohn vorzubereiten, vergisst aber, den älteren Bruder herbeizurufen. Es ist recht leicht, ein verlorenes Schaf oder einen verlorenen Groschen aufzuspüren; einem verlorenen Kind das Gefühl zu geben, geliebt zu sein, sich wichtig zu fühlen, ist unendlich schwieriger und unendlich viel wichtiger.
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