Sabine Adatepe - Lichtblau

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Istanbul 2013: Die Studentin Lea stolpert mitten in die Gezi-Proteste hinein, verliebt sich in einen Sprayer und arbeitet an einer Doku mit. Ist der Mann in dem Video tatsächlich ihr Vater, der kurdische Flüchtling, der vor vielen Jahren verschwand? Sie macht sich auf die Suche …
Marie, Mitte vierzig, von Mollträumen geplagt, verliert mit der Festanstellung in Hamburg auch den Boden unter den Füßen. Da kommt das Angebot, einen Workshop für Studierende zu leiten: Street-Art in Istanbul! Sie wagt den Schritt in ein neues Leben …
Imke, Anfang siebzig, kommt nicht über den Kontaktabbruch der Tochter hinweg. Gelingt es ihr, im Garten und auf Reisen Trost zu finden?
Unvermutete Brüche zwingen die drei Frauen aus drei Generationen herauszufinden, was ihnen wirklich wichtig ist. Alle drei gehen neue Wege, die sich wundersam überschneiden.

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Sabine Adatepe

Lichtblau #mavi

Roman Inhaltsverzeichnis 1 Widmung 2 Prolog 3 I123456789101112 4 II12345678 5 - фото 1

Roman

Inhaltsverzeichnis

1 Widmung

2 Prolog

3 I123456789101112

4 II12345678

5 III1234567891011121314151617

6 IV1234

7 Impressum

Orientierungsmarken

1 Inhaltsverzeichnis

Es ist euer Leben. Es ist unser Leben.

Es ist das Leben überhaupt …

Bachtyar Ali (Der letzte Granatapfel)

Ankommen oder weggehen?

Mein Lieblingswort ist Sehnsucht.

Dunja Hayali

Prolog

15.06.2013, 22.35 Uhr

»Guten Abend, meine Damen und Herren, ich begrüße Sie zu diesen Tagesthemen: Gewaltsame Räumung: Polizei stürmt Protestlager in Istanbul; überraschende …«

Marie fiel fast der Becher aus der Hand. »Was ist da los, Manfred?« Sie spurtete ins Wohnzimmer.

»Psst, hörst du doch …«

»… nach Tagen der Eskalation und dann wieder der Deeskalation unterstrich Erdoğan heute, wie ernst er seine letzte Drohung meinte, und ließ den Park am Abend dann doch mit Gewalt räumen. Aus Istanbul …«

Marie hechtete neben ihren Mann aufs Sofa. Entsetzt starrte sie auf den Bildschirm.

»Heute Abend, acht Uhr, Sicherheitskräfte gehen mit Wasserwerfern und Tränengas gegen Protestierende vor und räumen den Gezi-Park. Fast zwei Wochen lang war der kleine Stadtpark im Zentrum Istanbuls ein Ort der Demonstration. Der Demonstration für den Erhalt dieses Parks und zunehmend gegen die als autoritär empfundene Politik der islamisch-konservativen Regierung. Tausende hatten den Park in ein Zeltlager verwandelt. Zur Stunde bauen Polizisten die Zelte ab …«

»Abbauen nennt der das? Die reißen brutal ab, schlagen alles kurz und klein und …«

»Pssst, bitte!«, fuhr Manfred sie an. Marie klappte aufgebracht den Mund zu. Die Kamera fokussierte auf einzelne Szenen, im Laufschritt trugen Männer eine junge Frau auf einer Trage durch das Chaos, ein Mädchen hockte zwischen zwei Helfern und schrie.

»Hast du gehört, das Mädchen da, was hat sie gerufen?«

Manfred rollte mit den Augen. »Ist vermutlich verletzt wie die anderen auch. Jetzt sei doch mal still und hör zu!«

Marie war still, auch wenn es in ihr brodelte. Die Kleine könnte ihre Studentin sein. Oder die Tochter, die sie nie bekommen hatte. Sie schluckte.

*

»Es soll zahlreiche Verletzte gegeben haben, Zeugen sprechen von Szenen wie im Krieg …«

»Oh Gott!« Imke schlug entsetzt die Hände vors Gesicht. Dieter griff nach der Fernbedienung, ein Knopfdruck und der Bildschirm war schwarz. »Wir sollten längst im Bett sein«, grummelte er. »Kurz vor dem Schlafengehen solche Brutalitäten, das muss doch nicht sein!«

Als der Tumult auf dem Bildschirm abrupt verstummte, ließ Imke die Hände in den Schoß sinken. Mit feuchten Augen blickte sie zu Dieter auf.

»Hast du das schreiende Mädchen gesehen?«

»Da sind viele verletzt, haben sie doch gesagt.«

»Wenn das unsere Tochter wäre …«

I

Juni 2013

1

LEA

#bellaciao

Zu spät! Sie hätte sich viel früher aufmachen sollen. Lea schloss die Augen. Sie würde ihr Leben verpassen! Immer kam sie zu spät! Lamento! Sie schluckte, um nicht zu weinen.

Der Bus brummte, aus den Lautsprechern quoll Rap, sie verstand kein Wort, vor ihr dröhnten Bässe aus den Ohrstöpseln eines Freaks, der sicher noch nie irgendwohin zu spät gekommen war, obwohl er gar nicht zielstrebig wirkte. Lea blinzelte. Özlem, das Mädchen neben ihr, wischte hektisch über ihr Smartphone. Aufgeregt wirkte sie, eben noch hatte sie gelächelt, jetzt durchzogen steile Falten ihre Stirn. Da musste Lea grinsen, Özlem schenkte ihr ein kurzes Lächeln. »Heftig!«, murmelte sie empört. »Jetzt verhaften sie die Ärzte!«

Lea hatte ihre deutsche Studiengruppe in Izmir sitzen lassen, Özlem, die fünf Jahre jüngere Medizinstudentin, sich heimlich aus dem Wohnheim davongestohlen. Beide waren seit Tagen in Izmir auf der Straße und abends in den Parks dabei gewesen, wollten aber da sein, wo alles seinen Ausgang genommen hatte: im Gezi-Park in Istanbul! Allein trauten sich beide nicht so recht, in diesen ungewissen Tagen, die morgens die Revolution versprachen und abends Polizeieinsätze brachten, den Weg in die unbekannte Metropole zu wagen. Auch wenn stündlich Millionen dorthin zu strömen schienen und anscheinend jeder mit offenen Armen aufgenommen wurde. Leas Gruppe war begeistert mitmarschiert bei den Izmirer Protesten, man fotografierte, führte Stegreif-Interviews, postete, was das Zeug hielt, saß abends zusammen und genoss die unerwartete Wende der zweiwöchigen Studienreise wie ein willkommenes Abenteuer. Die Professorin war aufgeschlossen, doch für sie stand die Fortführung des Projekts im Vordergrund. Lea aber mochte nicht die Rolle der Betrachterin von außen einnehmen, sie fühlte sich zugehörig, sozialer Aufbruch war für sie mehr als ein Studienobjekt.

Jubelnde Menschen im Park, aber auch prügelnde Polizisten, Verletzte, singende Jugendgruppen, Mädchen, die von Reizgas benommene Straßenköter versorgten, tanzende, lachende, feiernde Menschen, die plötzlich schreiend auseinanderliefen, Gummigeschosse, Tränengas­nebel … Die Bilder der letzten Tage wirbelten Lea durch den Kopf.

» İşte bir sabah … « Träumte sie? » … uyandığımda … «

Die nächste Zeile summte sie mit: »Bella ciao, bella ciao, bella ciao ciao ciao …«

Als Lea die Augen aufschlug, sah sie Özlem ein Video auf Twitter verfolgen und mitsingen. Der Freak vorn zog die Stöpsel aus den Ohren und stieg bei der nächsten Strophe mit ein. Hinten, wo lautstark diskutiert worden war, wurde es still, und bei der dritten Strophe sang der ganze Bus: »Wenn ich sterbe, oh ihr Genossen, oh bella ciao …« Das alte Partisanenlied wirkte frisch und wie für die Gezi-Proteste geschrieben. Die meisten jungen Leute im Bus fuhren nach Istanbul, um sich den Protesten anzuschließen. Und die Bereitschaft, für die hehren Ideale sogar den Tod in Kauf zu nehmen, gehörte einfach dazu. Gegen diesen Gedanken sträubte sich etwas in Leas Kopf, aber ihr Herz glühte. Hatte jemand etwas von Zuspätkommen gesagt? Ach was! Sie war mittendrin und genau am richtigen Ort.

Als sie lächelnd die Augen schloss, blitzte das Gesicht ihres Vaters auf. Bella ciao hatte ihn herbeigerufen. Auf seinen Kassetten hatte sie die türkische Version zum ersten Mal gehört. Baba. Wo mochte er sein? Wie lange hatte sie nichts von ihm gehört?

»Diese Blume, so sagen alle …«, summte Lea, als sie aus dem Bus stieg, es war kurz vor Mitternacht, »… ist die Blume des Partisanen, der für uns’re Freiheit LEBT!« Erstaunt blickten die Mitreisenden sie an, das letzte Wort hatte sie laut gerufen, auf Deutsch. Die Blume des Partisanen, das war ein Bild nach ihrem Geschmack. Und sterben wollte sie auf keinen Fall, und sie wollte auch nicht, dass irgendein Partisan oder sonst wer starb. Darum ging es doch: Protestieren für das Leben!

2

MARIE

#moll

Schatten neben der Tür. Ratten! Ein Knäuel schiefergrauer Ratten, fett und in sich verbissen. Kabbelig. Pulsierend. Schnell aus der Tür, unentdeckt! Nur wie? Die Blase drückt. Jede Sekunde zählt. Hinaus auf den Flur, schnell schnell, still geschlichen, unbemerkt am Rattenknäuel vorbei. Lautlos. Doch schwarz nagelt die Furcht mich auf die Türschwelle. Mein Blick ist gebannt vom düsteren Knäuel neben der Tür. Ich lausche, höre aber ihr Fiepen nicht, nur das Blut in meinen Ohren rauscht.

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