Die ersten Inschriften sind oft in scriptio continua , links- oder rechtsläufig, verfaßt – manche auch boustrophedon – und zeugen von einer Entstehungsphase vor der orthographischen Normierung, d.h. z.B. Verwendung von Buchstaben wie z oder k und Schriftzeichen, die eher als griechisch oder etruskisch zu klassifizieren sind (cf. Poccetti/Poli/Santini 2005:191–192; Brekle 1994:185). Zu den wichtigsten frühen Dokumenten in lateinischer Sprache werden mit stark schwankender Datierung üblicherweise die folgenden gerechnet: die Manios-Spange ( Fibula Praenestina , 7. Jh. v. Chr.),161 die Duenos-Inschrift (2. Viertel 6. Jh. v. Chr.) auf einem Drillingsgefäß, der Lapis Satricanus (6. Jh. v. Chr.), die Altarbasis von Tibur (6. Jh. v. Chr.), die Madonetta von Lavinium (Bronzeplatte, 6. Jh. v. Chr.), das Gefäß von Ardea (2. Hälfte 6. Jh. v. Chr.), der Lapis Niger (ca. 1. Viertel 6. Jh. v. Chr.),162 die Cista Ficoroni ( cista aus Bronze, 315 v. Chr.) und das Scipionenelogium (Grabinschrift der Scipionen, Ende 3. Jh. v. Chr.) (Schmidt 1996:3; Meiser 2010:2–9, § 2–5).163
Ein wichtiges, aber nicht unproblematisches Zeugnis des Frühlateins ist das Zwölftafelgesetz ( Leges duodecim tabularum ), der erste längere zusammenhängende Text des Lateinischen. Ursprünglich auf Bronzetafeln festgehalten, die auf der Rednerbühne ( rostra ) vor dem Senatsgebäude ( curia ) am Forum Romanum aufgestellt waren, wurden sie womöglich im Zuge der Gallierkatastrophe ( dies ater von 387 o. 390 v. Chr.) zerstört. Die uns überlieferten Textpassagen (Paraphrase oder Zitat), wie sie beispielsweise in Werken Ciceros ( Marcus Tullius Cicero , 106–43 v. Chr.; De re publica, De legibus ) und anderen Autoren zu finden sind, wurden partiell „modernisiert“, d.h. dem jeweiligen Sprachstand angepaßt, wodurch sie als Referenz für die Frühzeit nur eingeschränkten Wert haben (cf. Palmer 1990:67; Steinbauer 2003:511).
Ebenfalls nur indirekt überliefert sind die rituellen Gesänge der carmina salinaria und des carmen arvale . Letzteres ist ein altes Kultlied, welches die Priesterkooperation der fratres Arvales zu Ehren des Kultes der Dea Dia am 2. Festtag sang bzw. aufführte (Tanz mit Dreischritt). Überliefert ist es dank des Brauches der Bruderschaft (12 Mitglieder), Acta zu führen, so daß es in einer Inschrift auf Marmor aus dem Jahre 218 v. Chr. erhalten ist, die wahrscheinlich aber eine Kopie einer älteren Vorlage darstellt; die Sprache ist so archaisch, daß sie in historischer Zeit bereits nicht mehr verstanden wurde (cf. Kleiner Pauly IV:1511). In gleicher Weise unverständlich, auch den Priestern selbst, waren die carmina salinaria (cf. Quintilian, Inst . orat . I, 6, 40; 2001 I:180), die von den salii zu Ehren des Mars und Quirinus gesungen wurden und nur in verschiedenen späteren Fragmenten erhalten sind (cf. z.B. Varro, De ling. lat . VII, 26, 27; 1958 I:292–294).164
Das für uns in Dokumenten faßbare Latein der Frühzeit und die Umstände seiner Entstehung sind vor dem Hintergrund der kulturellen Vielfalt und des Austausches innerhalb der italienischen Halbinsel bzw. kleinräumiger gesehen am Unterlauf des Tibers zu betrachten. Hier entsteht eine pluriethnische Gesellschaft, bestehend aus zu dieser Zeit autochthonen Elementen wie der faliskischen Kultur, der sabinischen, etruskischen und schließlich der latinischen sowie aus kolonialen wie der griechischen und phönizischen Kultur. In diesem Umfeld entsteht und formt sich die lateinische Sprache im Sprachkontakt mit ihren Nachbarn, bevor sie sich zur koiné Italiens und der westlichen Welt entwickelt:
Die ‚Herausbildung‘ des Lateins der Stadt Rom (so wie parallel dazu der verschiedenen lokalen Varietäten des Lateins außerhalb Roms) schon in archaischer Zeit ist daher das Ergebnis eines sprachlich-kulturellen Pluralismus […]. (Poccetti/Poli/Santini 2005:65)
Diese Durchdringung der einzelnen Kultur- und Sprachgemeinschaften zeigt sich beispielsweise daran, daß man sowohl etruskische Inschriften auf latinischem Gebiet gefunden hat (in Roma, Praeneste, Satricum ), als auch lateinische ( Tita Vendia -Vase in Caere ) und altitalische ( Setums -Krater in Tolfa) auf etruskischem Territorium sowie griechische ( Gabii ) und phönizische ( Caere-Pyrgi ) in beiden Regionen.165 Weitere Indizien für die Kohabitation der Kulturen sind z.B. die etruskische tessera hospitalis aus Rom (6. Jh. v. Chr.) sowie im Bereich der Anthroponomastik die sabinischen und etruskischen Namen (sab. Titus Tatius, Numa Pompilius ; etrusk. Tarquinius, Servius Tullius ) der stadtrömischen Geschichte (cf. Poccetti/Poli/Santini 2005:64–68). Die wie Meier-Brügger (2002:32, E426) es formuliert „kulturelle Koine“ unter Beteiligung der Etrusker, Latiner, Falisker und Sabeller ist dadurch charakterisiert, daß es sich um plurilinguale Gesellschaften handelt, Mehrsprachigkeit war also der Normalfall und nicht die Ausnahme.166
Poccetti/Poli/Santini (2005:66) gehen demgemäß davon aus, daß in Rom sowohl eine sabinische167 Varietät gesprochen wurde als auch eine etruskische Varietät. Dies ist vor dem Hintergrund der „Homogenisierung“ der wichtigsten Sprachräume Mittelitaliens zu sehen (mit entsprechenden Konvergenzen), dem des Etruskischen, dem des Latinischen und dem des Sabinischen (Oskischen) sowie in Zusammenhang mit den damit verbundenen gemeinsamen Akkulturationsprozessen, wie z.B. der Alphabetisierung (ibid.:76).
Dabei besteht insofern ein wichtiger Unterschied zwischen den beteiligten Kontaktsprachen, als aufgrund der engen Verwandtschaft die gegenseitigen Interferenzen zwischen dem Sabinischen und Lateinischen recht groß waren und im Zuge der Expansion des Lateinischen das Sabinische wie auch das Faliskische Teil des lateinischen Diasystems wurden. Die sich herausbildende Standardsprache selegiert dabei aus allen Varietäten dieses erweiterten Sprachsystems. Das Etruskische hingegen, dessen Andersartigkeit auch im Sprachbewußtsein der Latiner verankert war, hatte in Rom noch längere Zeit den Status einer wichtigen Prestigesprache bis ins 4. Jh. v. Chr., dokumentiert bei Livius (IX, 36), der davon berichtet, daß der Nachwuchs der Oberschicht in den etruskischen litterae unterwiesen wird (cf. Poccetti/Poli/Santini 2005:67).
Versucht man die Sprachsituation im Rom der Frühzeit im Lichte des sozio-linguistischen Modells von Ferguson (1959) und Fishman (1967) zu erfassen, so ergeben sich mehrere low-varieties mit dem wohl mehrheitlich verwendeten Latein sowie weiteren italischen Sprachen (Faliskisch, Sabinisch bevor sie vom Latein absorbiert wurden) und einem „umgangssprachlichen Etruskisch“, während auf der Seite der high-varieties wohl vor allem zwei Sprachen zu verorten sind, nämlich Etruskisch als lokale Distanzsprache in Etrurien sowie Griechisch als quasi omnipräsente Adstratsprache und Distanzsprache von „internationaler“ Reichweite mit einem übergeordneten Prestige. Hinzu kommt nun an dieser Bruchstelle der Sprachgeschichte das nun nach und nach verschriftete Latein, welches sich aber wohl letztlich erst mit Beginn der literarischen Periode (Altlatein) und einer konzeptionell elaborierten Verschriftlichung den Status einer vollgültigen Distanz- und Prestigesprache erarbeiten kann.
Betrachtet man nun die Frage nach dem Ausbaugrad des Lateins im Zuge der Konzeption von Kloss (1978, 1987), so ist zu konstatieren, daß sich das Latein, was die Schriftlichkeit anbelangt, zunächst nur in wenigen Diskurstraditionen bewegt, dort aber bereits einen beachtlichen Grad an sprachlicher Elaboriertheit aufweist. Steinbauer (1996:510–511), der das komplexe Bedingungssatzgefüge der Duenos-Inschrift analysiert,168 charakterisiert diese Tatsache sogar als „verblüffend“ und erklärt den scheinbar ebenfalls ex nihilo entstandenen komplexen juristischen Text des Zwölftafelgesetzes aus einer „vorhistorischen“ Fähigkeit,169 derartige Rechtsinhalte adäquat auszudrücken.
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