Löffler ( 11985, ²1994:86) entwickelt dazu ein diversifiziertes Modell, in dem er „Großbereiche des Sprechens“ ( Lekte ) annimt, die sich überlagern, und zwar in Form von Mediolekten (nach Medium), Funktiolekten (nach Funktion), Dialekte (nach arealer Verteilung), Soziolekten (nach sozialer Gruppe), Sexolekten/Genderlekten (nach Geschlecht), Situolekten (nach Situation/Interaktionstyp) und Idiolekten (nach Individuum). Das Modell macht zweifellos die Vielfalt der Arten des Sprechens deutlich, über die ein Individuum verfügen kann, jedoch fehlt eine gewisse Systematik.120
Auf der Ebene der Diatopik, gibt es nun neben dem traditionellen Dialekt-Begriff, der im Verständnis Coserius zunächst vor allem primäre Dialekte bezeichnet und terminologischer Ausgangspunkt aller weiteren Lekte ist, den sehr nützlichen Begriff des Regiolektes . Hiermit wird üblicherweise auf die bei Coseriu als tertiärer Dialekt bezeichnete Varietät referiert, die zwischen Standardvarietät und primärem Dialekt angesiedelt ist. Dabei ist der Begriff des Regiolektes hier sehr viel eindeutiger und transparenter als die Coseriu’sche Denomination. Was die Abgrenzung groß- vs. kleinräumig angeht, kann man entsprechend dem in der strukturellen Areallinguistik üblichen bottom-to-top -Konzept zwischen den Gradationsstufen Standardlekt – Dialekt – Regiolekt – Lokolekt unterscheiden (cf. Ebneter 1989:872).121 Mit Urbanolekt (cf. Dittmar 1997:193) wird hingegen eher eine spezifische diatopische Situation von Metropolen oder größeren städtischen Zentren beschrieben.122
Was die Ebene der Diaphasik angeht, so ist festzustellen, daß die bisherigen Begrifflichkeiten eher schwankend sind, und zwar insofern als hier von Stilregistern, Stilen, Registern oder Sprachregistern gesprochen wird, so daß mit Situolekt (cf. Dittmar 1997:206) eine gewisse Einheitlichkeit möglich wäre, zumal auch dieser Begriff relativ transparent ist.
Die inzwischen recht übliche Bezeichnung Soziolekt (cf. Dittmar 1997:189) im Bereich der diastratischen Ebene, erscheint eine recht gute Lösung, um gleichermaßen neutral sowohl gruppenspezifisches als auch schichtenspezifisches Sprechen zu umreißen.123 Hinzu kommt, daß man hier eine sehr transparente begriffliche Parallele zu diasozial ziehen kann. Das gleiche Argument wäre bezüglich des Technolekts vorzubringen, mit der Ergänzung und Präzisierung, daß hierbei nicht allein auf Sprachvariation im Bereich der Technik abgehoben wird, sondern jegliches berufs- und wissenschaftsspezifisches Sprechen miteinbezogen werden soll.
Bei dem noch neueren Feld der diagenerationellen Differenzierung sind auch die Begrifflichkeiten noch recht schwankend und zum Teil wenig etabliert. Am ehesten untersucht ist in der Regel die Jugendsprache, die beispielsweise bei Michel (2011:194) als Juventulekt bezeichnet wird; eher selten zum Tragen kommt die Sprache der älteren Generation, die mitunter als Gerontolekt (cf. Dittmar 1997:229–231) oder Gerolekt (Veith 2005:173) benannt wird. Diesbezüglich sollte man eine gewisse Konsequenz und Kohärenz in Bezug auf die Bezeichnungen einführen, weshalb hier der Vorschlag sowohl eines neutralen Hyperonyms notwendig erscheint, als auch einer homogenen griechischen Denomination. Aus diesem Grund sollte man sinnvollerweise von Helikialekten (zu griech. ʿηλικία ‚Lebensalter‘), also altersbedingten Sprachunterschieden sprechen, die man in Gerontolekte (griech. γέρων ‚alter Mann‘, ‚alt‘) und Neotolekte (zu griech. νεότης ‚Jugend‘) differenzieren könnte.124
Analog zu diesem Vorschlag wären auch die Begrifflichkeiten im Bereich der diasexuellen Ebene zu gestalten, so daß hier neben dem bereits etablierten, neutralen Sexolekt (cf. Dittmar 1997:228–229) zwischen Androlekt (zu griech. ʾανδρός ‚Mann‘) und Gynaikolekt (zu griech. γυναικός ‚Frau‘) unterschieden werden sollte.125
Unabhängig von den einzelnen Begrifflichkeiten und ihrer etymologischen Transparenz und Adäquatheit, geht es vor allem darum, mit der Koppelung des Spektrums der Lekte -Denominationen den Termini, die mit der Konzeption des Diasystems einhergehen, ein Begriffsinventar zur Seite zu stellen, das die Variation im Varietätenraum einer Sprache so präzise wie möglich zu erfassen hilft.126 Ziel ist es ja letztlich, die Architektur einer Sprache so exakt wie möglich in der gesamten Bandbreiten ihrer Heterogenität beschreiben zu können, dabei die Kategorisierung aber nur so weit zu treiben, als den einzelnen Kategorien dann auch ihnen attribuierbare sprachliche Realitäten gegenüberstehen, die – soweit möglich – klar voneinander abgrenzbar sind.
Mit vorliegendem Modell soll also versucht werden, die Gesamtheit des Varietätenraumes zu erfassen, um auf diese Weise das Verständnis für die sprachliche Realität zu schärfen. Ein Anliegen des Modells war es dabei, deutlich zu machen, daß auch bei einer Darstellung mit dem Fokus auf den Varietäten, die Sprechsituation, d.h. die konstitutiven Faktoren bei der Wahl einer Varietät mehr Raum einnehmen müßten bzw. vielmehr ohne diese zusätzliche Perspektive die Beschreibung defizitär bleibt. Dies bedeutet auch, daß sowohl dem Sprecher als auch dem Hörer sowie der sozialen Gruppe mehr Gewicht in der Betrachtung einer varietätenlinguistischen Untersuchung zukommen müßte.
Diese Überlegungen zu Sprechsituation gelten in erster Linie für zeitgenössische synchrone Kommunikationssituationen, da nur in diesen die Determiniertheit des Sprechers (und Hörers) adäquat eingeschätzt werden kann. Für eine historische Kommunikationssituation, bei der man auf rein schriftliche Dokumente angewiesen ist, fällt der erste Bereich (‚schriftlich/mündlich‘) der Selektion in obigem Modell weg. Es bleiben dennoch determinierende Faktoren bei der Sprach- und Varietätenwahl, vor allem die Diskurstraditionen, allerdings sind manche Faktoren ungleich schwerer zu ermitteln. Die vorgeschlagene Erweiterung bzw. Präzisierung des Varietätenraumes mit Rückgriff auf die verschiedenen Terminologien der dia - und der lekte -Begriffe ist hingegen prinzipiell auch in einem historischen Kontext anwendbar. In der vorliegenden Untersuchung soll daher dieses Begriffssystem auch bei der Beschreibung des Lateinischen verwendet werden (cf. Kap. 4).127 Wie ausdifferenziert dies dabei möglich ist, hängt grundsätzlich von der Dokumentationslage bezüglich der einzelnen sprachlichen Phänomene ab.
Was den metasprachlichen Diskurs des 15. und 16. Jh. anbelangt (cf. Kap. 6), so wird diese hier vorgestellte Begriffssystem nicht vollständig zum Tragen kommen können. Dies liegt vor allem darin begründet, daß die Beschreibung des antiken Lateins durch die Humanisten nicht mit gleicher Präzision geleistet werden konnte, wie das heutzutage möglich ist. Die Möglichkeiten, die von den damaligen Gelehrten beschriebenen Phänomene des antiken Lateins im Sinne einer modernen Interpretation in einer sozio- und varietätenlinguistische Terminologie darzustellen, sind daher begrenzt und nur vereinzelt wird es sich anbieten, begrifflich weiter zu differenzieren. In diesem Teil wird deshalb im Wesentlichen auf „traditionelle“ Begrifflichkeiten wie ‚diatopisch‘, ‚diastratisch‘, ‚diaphasisch‘ etc. rekurriert.
3.2 Die Rekontextualisierung : Klassische Hermeneutik und historische Verortung
Die methodische Vorgehensweise zur Analyse der frühneuzeitlichen Traktate, die sich mit der Frage nach der Art des Lateins in der Antike auseinandersetzen, soll in vorliegender Arbeit zwei Facetten umfassen (cf. Kap. 1.4). In den vorherigen Kapiteln wurde dazu das Inventar der aktuellen varietätenlinguistischen und soziolinguistischen Begrifflichkeiten vorgestellt und diskutiert, mit deren Hilfe die zu untersuchenden Texte aus einem modernen sprachwissenschaftlichen Blickwinkel heraus analysiert werden, zum Teil unter bewußter Ausblendung zeitgenössischer Implikationen der jeweiligen Epoche (cf. Kap. 3.1.1–3.1.3).
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