In Bezug auf Berlin sind zwei weitere Aspekte auszuführen. Erstens beherbergt die Stadt eine große Anzahl von Kurd*innen, wobei die Schätzungen stark voneinander abweichen. Einige gehen nämlich von ca. 50.000 (vgl. Ghaderi 2014: 136) und andere von ca. 100.000 bis 120.000 Kurd*innen in Berlin aus (vgl. Derince 2020: 18). Auch eine Zahl zwischen 70.000 und 90.000 wird in diesem Zusammenhang von einigen Vereinen genannt, die in Berlin mit Kurd*innen arbeiten5. Unabhängig davon, welche Schätzung zugrunde gelegt wird, macht die Anzahl der Kurd*innen in Berlin einen beachtlichen Anteil der auf 1,2 Millionen geschätzten Kurd*innen in Deutschland aus.6 Zweitens gibt es in Berlin eine Reihe kurdischer Einrichtungen, die auch in den kurdischen Varietäten soziale Dienste und Aktivitäten anbieten, z.B. Beratung, Familienhilfe, Einzelfallhilfe, Jugendarbeit, Nachhilfe-Kurse, Vätergruppen etc. Solche Einrichtungen sind in anderen Teilen Deutschlands kaum bzw. nicht in der Stärke und in der Vielfalt wie in Berlin vorhanden. Einige dieser Vereine bestehen schon seit längerer Zeit, etwa der „Kurdistan Kultur- und Hilfsverein e.V.“ (seit 1974) oder das „Kurdische Zentrum e.V.“ (seit 1984).7
Dem „Kurdistan Kultur- und Hilfsverein e.V.“ ist es auch gelungen, in Kooperation mit einer Elterninitiative im April 1990 in Berlin einen bilingual kurmancî-deutschen Kinderladen mit dem Namen Hêlîn (deutsch: „Nest“) zu gründen (vgl. Ates 2016: 111). In diesem Kinderladen wurde versucht, das Kurmancî neben dem Deutschen konsequent zu fördern. Dies gelang auch in den Anfangszeiten bis etwa Ende des Jahres 1991.8 Das bilinguale Konzept konnte allerdings nicht fortgeführt werden, jedoch wurde das Kurmancî bis etwa Ende der 90er Jahre weiterhin in geringem Umfang gezielt gefördert. Beispielsweise wurden Kinderlieder in Kurmancî gesungen oder auch in Kurmancî vorgelesen. Etwa ab dem Jahr 2000 erfolgte die Förderung des Kurmancî nur noch im Rahmen der interkulturellen Kompetenz. Begrüßungsrituale fanden zum Beispiel in Kurmancî statt oder das Neujahrfest (Newroz) wurde in der Einrichtung gefeiert. Die Förderung des Kurmancî im Rahmen der interkulturellen Kompetenz findet auch heute noch statt. Zudem ist die Einrichtung, die sich inzwischen zu einer Kita entwickelt hat, weiterhin eine Anlaufstelle für kurdische Familien. Da die Kita kurdische Mitarbeiter*innen beschäftigt, können die Familien mit ihnen in ihrer Sprache kommunizieren und auch die Eingewöhnungsphase ihrer Kinder kann mit Einbezug ihrer Sprache erfolgen9.
In Berlin gibt es zwei weitere Kitas, die das Kurmancî bzw. das Kurdische im Rahmen der interkulturellen Kompetenz fördern, nämlich „Kindervilla Waldemar e.V.“ und „Kinder einer Erde e.V.“10 Es könnte weitere Kitas in oder außerhalb Berlins mit einer solchen Förderung geben, die jedoch zu diesem Zeitpunkt nicht bekannt sind.
Schließlich stellt sich die Frage, ob Kurmancî oder allgemein das Kurdische in Deutschland eine „vitale“ Sprache ist (vgl. Extra/Yağmur 2008: 149, Küppers/Schroeder 2017: 63 für die Begrifflichkeit). Zur Beantwortung dieser Frage liegen allerdings keine genauen Daten und kaum Untersuchungen vor. Eine der wenigen Studien diesbezüglich ist die von Extra/Yağmur (2008). In dieser Studie, die neben Hamburg in fünf weiteren westeuropäischen Städten – Brüssel, Göteborg, Lyon, Madrid und Den Haag – durchgeführt worden ist, wird festgestellt, dass der Grad der Vitalität des Kurdischen in diesen Städten insgesamt niedrig ist (vgl. Extra/Yağmur 2008: 153). In der Untersuchung gibt es jedoch keine differenzierten Angaben zu den einzelnen Städten, auch nicht zu den einzelnen Varietäten des Kurdischen. Eine weitere Studie, die zwar nicht in Deutschland, aber im deutschen Sprachraum, in Wien, durchgeführt worden ist, kommt zum Ergebnis, dass auch hier der Grad der Vitalität des Kurdischen niedrig ist (vgl. Brizić/Hufnagl 2011: 216). In dieser Studie wird im Übrigen ebenfalls nicht nach den Varietäten differenziert.
Die Studie von Yekmal e.V., die mit Kurd*innen in Berlin durchgeführt und von Derince (2020) erarbeitet wurde, bietet in diesem Zusammenhang einen differenzierten Blick sowohl nach Varietäten als auch nach den Herkunftsländern an. In der Studie wird festgehalten, dass Kurd*innen aus Syrien/Rojava die Varietät Kurmancî und Kurd*innen aus dem Irak die Varietät Soranî in Deutschland in ihrem Alltag stärker nutzen. Dies betrifft insbesondere die Kommunikation der Eltern mit ihren Kindern. Die Nutzung des Kurmancî und Zazakî als Alltagssprache seitens der Kurd*innen aus der Türkei ist dagegen weniger verbreitet, auch als Kommunikationssprache der Eltern mit ihren Kindern. Hier zeichnet sich wiederum ab, dass Kurmancîsprecher*innen eher Kurmancî nutzen als Zazakîsprecher*innen Zazakî. In beiden Gruppen ist im Übrigen die Anwendung der Staatsprache Türkisch des Herkunftslandes stärker verbreitet, als es bei den Kurd*innen aus Syrien/Rojava und dem Irak mit dem Arabischen der Fall ist (vgl. Derince 2020: 69f.). Auf die starke Nutzung des Türkischen bei den Kurd*innen aus der Türkei wird auch in den anderen Studien hingewiesen (vgl. Meyer-Ingwersen 1995: 322, Şenol 1992: 141).
Anzumerken ist an dieser Stelle jedoch, dass für die Studie meist Kurd*innen aus Syrien/Rojava interviewt wurden, die etwa seit 2014 in Deutschland leben (vgl. Derince 2020: 37f.). Da sie sich nicht seit langem in Deutschland befinden, sind sie stärker durch die kurdischsprachige Sozialisation aus dem Herkunftsland geprägt als beispielsweise Kurd*innen aus der Türkei, die zum größten Teil über mehrere Dekaden in Deutschland leben und ihren Alltag auch verstärkt mit Deutsch gestalten. Insofern ist abzuwarten, ob die Kurd*innen aus Syrien/Rojava die starke Nutzung des Kurdischen beibehalten werden, wenn sich ihre Migrationsgeschichte über eine längere Zeit erstreckt und sie ihre Deutschkenntnisse fortlaufend erweitern.
In Bezug auf Gebrauch und Vitalität der kurdischen Varietäten bzw. des Kurdischen ist auch zu erwähnen, dass Kurd*innen in Deutschland zurückhaltend sind, sich im öffentlichen Raum mit ihren Kindern in Kurdisch zu unterhalten. Sie haben sogar Bedenken dagegen, Kurdisch in Institutionen wie beispielsweise in Kitas als ihre Sprache anzugeben (vgl. Chilla/Niebuhr-Siebert 2017: 100). Ehlich spricht in diesem Zusammenhang von „Auskunftsvorsicht“ (Ehlich 2013: 39). Daher ist anzunehmen, dass die Stigmatisierungseffekte des Kurdischen aus den Herkunftsländern in Deutschland nicht aufgehoben sind (vgl. Şenol 1992: 136ff.).
Die Vitalität des Kurdischen bzw. seiner einzelnen Varietäten in Deutschland ist eine Forschungsfrage an sich und sollte mit einer gut konzipierten Untersuchung angegangen werden. Dabei sollten auch die Stigmatisierungseffekte berücksichtigt werden. Auf ein solches Vorhaben ist die vorliegende Untersuchung jedoch nicht zugeschnitten.
4.1.4 Grundlegende grammatische Charakteristiken des Kurmancî
4.1.4.1 Phonologie
Vergleichend mit dem Deutschen ist festzuhalten, dass Wörter in Kurmancî keine besonders komplexen Silben haben. Konsonantencluster mit zwei oder gar drei aufeinander folgenden Konsonanten im Wortanlaut (Silben-Onset) sind selten, wobei diese (regional bedingt) meist durch eine Vokalepenthese unterbrochen werden (vgl. Haig/Öpengin 2018: 168, MacKenzie 1961: 37). Beispielsweise ist das Wort stran [strɑːn] „Lied“ ein seltenes Kurmancî-Wort mit drei Konsonanten im Wortanlaut, das jedoch häufig als sitran [sɨtrɑːn] realisiert wird (vgl. Aygen 2007: 10, Haig/Öpengin 2018: 168). Im Silben- und Wortauslaut (Koda) treffen jedoch häufig zwei Konsonanten aufeinander, die nicht unterbrochen werden (vgl. Şimşek 2016: 91).
Ob Kinder bei Erwerb und Aussprache der Wörter mit der Konsonanten-Abfolge oder im Allgemeinen bei der Phonologie des Kurmancî Schwierigkeiten haben, ist aufgrund fehlender Forschung ungewiss. Die vorliegende Studie wird auch in dieser Hinsicht keine Analysen anbieten. Jedoch ist bekannt, dass regionale Varietäten des Kurmancî sich vor allem phonologisch voneinander unterscheiden (vgl. Aygen 2007, Haig/Öpengin 2018). Daher ist zu erwarten, dass die Färbungen der dialektal-regionalen Unterschiede sich in der Sprachproduktion der Kinder niederschlagen. Denn sie und/oder ihre Eltern kommen aus den verschiedenen Regionen des Kurmancî-Sprachraums.
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