1 ...6 7 8 10 11 12 ...15 In den darauffolgenden Jahren kamen weniger Geflüchtete aus Kurdistan in die westeuropäische Diaspora und nach Deutschland, aber die Migration ging weiter, z.B. durch Heirat und Familiennachzug. Diese Situation sollte aber nicht lange anhalten. Ab 2011 begann der Bürgerkrieg in Syrien, und die soziopolitische und sozioökonomische Lage im Irak verschlechterte sich. Dies führte dazu, dass in beiden Staaten radikale Gruppen erstarkten und große Gebiete unter ihre Kontrolle brachten. Sie griffen im August 2014 Şengal im Nordirak an und verübten dort ein Massaker. Außer Şengal griffen sie auch weitere Gebiete der Kurd*innen im Irak und in Syrien an. Als Folge flüchteten viele Menschen direkt in die westeuropäischen Staaten oder zunächst in einen benachbarten Staat, beispielsweise in die Türkei oder in den Libanon und im Anschluss weiter nach Westeuropa. Auch die Repressionspolitik der Türkei gegenüber den Kurd*innen nahm ab etwa Mitte 2015 wieder zusehends zu. Das Hauptzielland der geflüchteten Menschen war wiederum Deutschland.
Die Folge ist, dass im Zeitraum zwischen 2014 und September 2019 etwa 330.000 Kurd*innen in Deutschland Asyl beantragt haben. Über die Hälfte davon kommt aus Syrien, etwa 36 Prozent aus dem Irak und 6 Prozent aus der Türkei. Über die Kurd*innen aus Syrien ist bekannt, dass sie etwa 30 Prozent der Asylanträge ausmachen, die von syrischen Staatsbürger*innen gestellt wurden (vgl. Pürckhauer 2019).
Insgesamt besteht also seit den 60er Jahren eine dynamische Migrationsbewegung der Kurd*innen in die westeuropäischen Staaten, insbesondere nach Deutschland. Über ihre genaue Zahl sind jedoch keine verlässlichen Informationen vorhanden, da die Staaten bei der Einwanderung für die statistische Erfassung in der Regel nicht die ethnisch-sprachliche, sondern die Staatsangehörigkeit zugrunde legen (vgl. Derince 2020: 10, Ghaderi 2014: 135f.). Nur in bestimmten Fällen – wie im Asylverfahren – können Migrant*innen ihre ethnische Zugehörigkeit angeben und diese wird dann ggf. miterfasst (vgl. Engin 2019: 8). Daher gibt es nur grobe Schätzungen und ungefähre Angaben über die Zahl der Kurd*innen in den westeuropäischen Staaten (vgl. Hassanpour/Mojab 2005: 214). Ihre Anzahl in Deutschland wird dabei unter Einrechnung der neuen Geflüchteten auf 1,2 Millionen Menschen geschätzt (vgl. Engin 2019: 9). Damit dürfte die Anzahl der Kurd*innen in Deutschland die Gesamtanzahl der Kurd*innen in allen anderen westeuropäischen Staaten übertreffen (vgl. Grond 2018: 78, Skubsch 2002: 225).
Da die Kurd*innen aus der Türkei bereits in den 60er Jahren in der westeuropäischen Diaspora anwesend waren und später in den 80er und vor allem in den 90er Jahren in großer Zahl und zum Teil politisiert dazukamen, haben sie auch die Aktivitäten der kurdischen Diaspora geprägt bzw. prägen diese weiterhin. Als Folge wurde/ist Kurmancî die Sprache dieser Aktivitäten. Denn die überwiegende Anzahl der Kurd*innen aus der Türkei spricht diese Varietät, wenn auch die Anzahl der Zazakîsprecher*innen dort nicht gering geschätzt werden sollte. Es besteht sogar die Annahme, dass Kurmancî sich in der westeuropäischen Diaspora zu einer Art lingua franca unter Kurd*innen entwickelt hat (vgl. Ammann 2019: 28, siehe auch Derince 2020: 58)1. Der erste kurdische Sender Med-TV – gegründet in der westeuropäischen Diaspora im Jahr 1995 – bot beispielsweise Programme meistens in Kurmancî an (vgl. Hassanpour/Mojab 2005: 219). Auch die meisten kulturellen Aktivitäten, wie z.B. Newroz-Feierlichkeiten, fanden/finden überwiegend in Kurmancî statt. Für die Zukunft kann erwartet werden, dass diese Tendenz nicht ab-, sondern eher zunehmen wird. Denn die Kurd*innen aus Syrien, die in den letzten Jahren in einer großen Anzahl Asyl beantragt haben, sprechen ausschließlich Kurmancî (vgl. Ammann 2019: 28).
Auch in den Bemühungen zur Integration des Kurdischen in den Bildungsprozess stand/steht das Kurmancî im Vordergrund. Im Kontext von Deutschland gilt dies sogar nahezu ausschließlich (vgl. Skubsch 2002: 302). Viel wichtiger ist jedoch, dass es weder Kurd*innen noch ihren Aufnahmeländern gelungen ist, das Kurdische – sei es Kurmancî oder andere Varietäten – in das Bildungssystem des jeweiligen Staates übergreifend und durchgängig einzugliedern (siehe die Ausführungen unten zur Lage in Deutschland). Schweden dürfte dabei die einzige Ausnahme sein, denn dort sind kurdische Varietäten neben anderen Sprachen der Migrant*innen in das Gesamt-Bildungssystem inkludiert. Die Eingliederung der kurdischen Varietäten in das Bildungssystem hat auch die Infrastruktur dafür geschaffen, dass in Schweden Lehr- und Lernmaterial sowohl für den vorschulischen Bereich als auch für die Schule erstellt worden ist (vgl. Şenol 1992: 121ff.). Auf dieses Material wurde und wird in den anderen Ländern, u.a. in Deutschland, zurückgegriffen. Auch die hier untersuchte Kita hat ein Teil ihres Materials aus Schweden bezogen. Auf diesen Punkt wird aber noch näher eingegangen.
Der Unterricht in den Sprachen der neu angekommenen Migrant*innen an den Schulen erfolgte in Deutschland in den sechziger und siebziger Jahren zunächst in Kooperation mit ihren Herkunftsstaaten (Baur/Ostermann/Chlosta 2004: 161f.). In diesem Zusammenhang wurde in Sprachen wie Türkisch, Griechisch oder Portugiesisch Unterricht an den Schulen installiert, der gewöhnlich als Konsulatsunterricht definiert wird (vgl. Mediendienst Integration 2019: 3). Es ist offensichtlich, dass die Türkei sich für das Kurdische in Deutschland nicht verantwortlich gefühlt hat, ebenso wenig wie für andere Sprachen der Türkei wie Lasisch, Tscherkessisch, Aramäisch u.v.m. Auch in den folgenden Dekaden bis heute ist nicht bekannt, dass die Türkei sich für den Unterricht irgendeiner Sprache ihrer Mitbürger*innen außer Türkisch in den Schulen Westeuropas und Deutschlands eingesetzt hat.
Die Forderung nach einem Kurdisch-Unterricht an den Schulen in Deutschland wurde jedoch von Kurd*innen schon zu Beginn der achtziger Jahre gestellt (vgl. Skubsch 2002: 301). Mit diesen Forderungen gingen auch Bestrebungen einher, die in einigen Bundesländern zu Beginn der neunziger Jahre konkrete Gestalt angenommen haben. In diesem Zusammenhang wurde in Bremen im Jahr 1993, in Hamburg im Jahr 1994, in Niedersachsen im Jahr 1995 und in Nordrhein-Westfalen im Jahr 1998 kurdischer muttersprachlicher Unterricht eingeführt (vgl. Skubsch 2002: 302ff.). Bis auf Hamburg findet der Unterricht in diesen Bundesländern bis dato statt (vgl. Mediendienst Integration 2019). Auch in Berlin (Westberlin) gab es seit dem Ende der achtziger Jahre Bestrebungen von Elterninitiativen und Vereinen, Kurdisch-Unterricht an den Schulen anzubieten. An einigen Schulen fand solcher Unterricht auch zeitweilig statt, hatte jedoch keinen langfristigen Bestand (vgl. Ates 2016: 111).
Erst im Jahr 2016 hat der Berliner Senat die Förderung des Kurdischen als Herkunftssprache in die Koalitionsvereinbarung aufgenommen (vgl. Koalitionsvereinbarung 2016-2021). Seitdem hat die Stadt Berlin den Unterricht an einer Schule übernommen, die von Yekmal e.V.2 initiiert war, und den Kurdisch-Unterricht an zwei weiteren Schulen installiert. In allen drei Schulen ist das Angebot in Kurmancî.3
Aber im Verhältnis zur Anzahl der kurdischen Bevölkerung in Berlin ist das Angebot an drei Schulen deutlich zu gering. In Bremen, wo eine viel kleinere kurdische Gemeinschaft lebt, findet beispielsweise an zehn Schulen Kurdisch-Unterricht statt.4 Gegenwärtig bieten neben den genannten Bundesländern auch Rheinland-Pfalz und Brandenburg Kurdisch-Unterricht an. In Letzterem wird dieser durch regionale Arbeitsstellen für Bildung, Integration und Demokratie (RAA Brandenburg) ausgeführt (vgl. Mediendienst Integration 2019). Die übrigen Bundesländer bieten keinen Kurdisch-Unterricht an. Es kann jedoch sein, dass dort die eine oder andere Schule auf eigene Initiative oder durch die Initiative der Eltern, etwa in Form von Arbeitsgemeinschaften, Kurdisch-Unterricht anbietet.
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