244
Umgekehrt kann in einer Norm aber auch explizit zum Ausdruck kommen, dass kein subjektives öffentliches Rechtbesteht.
Beispiel:
Nach § 1 Abs. 3 S. 1 BauGB haben die Gemeinden Bauleitpläne aufzustellen, sobald und soweit es für die städtebauliche Entwicklung und Ordnung erforderlich ist. Mit dieser objektiven Pflicht korrespondiert jedoch kein subjektives Recht. Denn nach der ausdrücklichen Regelung des S. 2 der Bestimmung besteht kein Anspruch auf Aufstellung der Bauleitpläne, und ein solcher kann auch nicht durch Vertrag begründet werden[17].
245
Schwieriger ist es, im Wege der Interpretationfestzustellen, ob eine Norm ein subjektives öffentliches Recht enthält. Insbes. die Reichweite der nachbarschützenden Bestimmungen im öffentlichen Baurecht ist in einer langen Rechtsprechungslinie fortentwickelt worden. Sie werden im Rahmen der Vorlesungen zum Besonderen Verwaltungsrecht behandelt und sollen daher in dieser Stelle nicht vertieft werden[18].
246
Nicht nur materielle Rechte kommen als subjektive Rechte in Betracht, sondern auch Verfahrensrechte[19]. Dies gilt etwa für das in § 28 Abs. 1 geregelte Anhörungsrecht. Zugleich kommt darin die bereits angesprochene Aufwertung des Verfahrensgedankens zum Ausdruck (s.o. Rn 170). Allerdings liegt vielen Normen noch der Gedanke der rein dienenden Funktion des Verfahrens zugrunde. Daher können Verfahrensfehler unter gewissen Voraussetzungen unbeachtlich sein oder werden (§§ 45 f; dazu ausf. Rn 571ff).
247
Oftmals bis zum Examen Probleme bereitet das Verhältnis des subjektiven öffentlichen Rechts zum Ermessen. Hier wird häufig fälschlicherweise angenommen, dass eine Gegensätzlichkeit zwischen dem „Anspruch“ einerseits und dem „Ermessen“ andererseits bestehe. Richtig ist vielmehr: Die Frage, ob es sich um eine gebundene Entscheidung der Verwaltung handelt oder ob sie in ihrem Ermessen steht, ist alleine eine Frage der objektiven Rechtsordnung. Sowohl mit der Pflicht zum Erlass einer Entscheidung als auch mit der Pflicht zur ordnungsgemäßen Ausübung des Ermessens kann ein subjektives öffentliches Recht korrespondieren. Bei einer gebundenen Entscheidung entsteht ein subjektives Recht auf deren Erlass. Und bei einer Ermessensentscheidung ergibt sich dann ein subjektives Recht auf fehlerfreie Ausübung des Ermessens. Ist das Ermessen ausnahmsweise auf Null reduziert (s.o. Rn 218), so entsteht auch hier im Ergebnis ein Anspruch auf Erlass der Entscheidung.
Beispiele:
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Mit der objektiven Verpflichtung einer Bauaufsichtsbehörde, bei Vorliegen der Genehmigungsvoraussetzungen die Baugenehmigung zu erteilen (vgl. etwa § 71 Abs. 1 S. 1 BauO Bln), korrespondiert nach einhelliger Ansicht ein subjektives öffentliches Recht des Bauherrn auf Genehmigungserteilung[20]. |
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Maßnahmen nach der polizeilichen Generalklausel (etwa nach § 17 Abs. 1 ASOG Bln) dienen im Ausgangspunkt dem öffentlichen Interesse der Gefahrenabwehr und ergehen nach Ermessen der zuständigen Behörden. Sollen jedoch auch Rechtsgüter des Bürgers geschützt werden (etwa bei einer Schlägerei), so dient die Gefahrenabwehr zugleich dem Schutz subjektiver Rechte (der körperlichen Unversehrtheit). Der betroffene Bürger hat dann zunächst ein subjektives Recht auf fehlerfreie Ausübung des Ermessens, das sich im Einzelfall auf Null reduzieren kann[21]. |
248
Auch das Europarecht kann subjektive öffentliche Rechte verleihen. Dies gilt zunächst für das Europarecht i.w.S., zu dem etwa die EMRK gehört (zum Begriff Rn 50)[22]. In erhöhtem Maße von Bedeutung ist jedoch auch hier das Unionsrecht als Europarecht i.e.S.: Subjektive Rechte enthalten etwa die in Art. 28 ff AEUV primärrechtlich verankerten Grundfreiheiten(s.o. Rn 81)[23]. Allerdings werden diese vielfach durch Akte des Sekundärrechtskonkretisiert. Ein explizites subjektives öffentliches Recht enthält etwa Art. 15 Abs. 1 HS 1 der Datenschutz-Grundverordnung 2016/679. Danach haben betroffene Personen das Recht, von dem Verantwortlichen eine Bestätigung darüber zu verlangen, ob sie betreffende Daten verarbeitet worden sind[24]. – Von dieser unmittelbaren Einräumung subjektiver Rechte durch das Unionsrecht zu unterscheiden sind diejenigen Fälle, in denen die Reichweite subjektiver Rechte nach innerstaatlichem Recht im Lichte des Unionsrechts zu bestimmen ist. Diese „Aufladung“ des subjektiven Rechts kann in Analogie zur Europäisierung des Verwaltungsrechts als Europäisierung des subjektiven öffentlichen Rechtsbezeichnet werden[25]. Dies wird in einigen Schwerpunktbereichen des öffentlichen Rechts relevant, insbes. im Umweltrecht, aber auch im öffentlichen Wirtschaftsrecht.
4. Prokuratorische Klagerechte
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Im Anschluss an die EuGH-Entscheidung zum slowakischen Braunbären[26] ist verstärkt erörtert worden, ob den anerkannten Umweltvereinigungende lege lata oder zumindest de lege ferenda sog. prokuratorische Klagerechte zuzuerkennen sind. Diese hätten zur Folge, dass die Umweltvereinigungen die Belange der Umwelt als eigene subjektive Rechte geltend machen könnten (daher auch der Begriff „prokuratorisch“). Da solche Klagerechte im System der Verwaltungsgerichtsordnung aber einen Fremdkörper darstellen, hätte es einer ausdrücklichen Regelung durch den Gesetzgeber bedurft[27]. Auch einer Einführung prokuratorischer Verbandsklagerechte durch den Gesetzgeber hat die Abteilung Öffentliches Recht des 71. Deutschen Juristentages eine eindeutige Absage erteilt[28]. Dem gleichwohl bestehenden Anpassungsdruck an das Unionsrecht ist der deutsche Gesetzgeber durch die Ausweitung der Vereinsklage der anerkannten Umweltvereinigungen nachgekommen (s.o. Rn 235)[29].
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Lösung zu Fall 5 ( Rn 233):
X ist nach § 42 Abs. 2 VwGO klagebefugt, wenn er geltend machen kann, durch den Verwaltungsakt (hier die Baugenehmigung) in seinen Rechten verletzt zu sein. Ob § 34 BauGB ein subjektives öffentliches Recht verleiht, ist fraglich. Unter gewissen Voraussetzungen entfalten allerdings das Gebot der Rücksichtnahme sowie in begrenztem Umfange der Anspruch auf Gebietserhaltung nachbarschützende Wirkung. Einzelheiten hierzu folgen in der Vorlesung zum öffentlichen Baurecht[30].
Ausbildungsliteratur:
Kahl/Ohlendorf, Das subjektive öffentliche Recht, JA 2010, 872; dies., Die Europäisierung des subjektiven öffentlichen Rechts, JA 2011, 41; Ramsauer, Die Dogmatik der subjektiven öffentlichen Rechte, JuS 2012, 769; Scherzberg, Das subjektive öffentliche Recht – Grundfragen und Fälle, JURA 2006, 839; Schoch, Nachbarschutz im öffentlichen Baurecht, JURA 2004, 317; Voßkuhle/Kaiser, Das subjektiv-öffentliche Recht, JuS 2009, 16; dies., Nachbarschutz im öffentlichen Baurecht, JuS 2018, 764.
§ 10 Das Verwaltungsrechtsverhältnis
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Das Verwaltungsrechtsverhältnis ist ein Unterfall des Rechtsverhältnisses. Die Kategorie „Rechtsverhältnis“ entstammt der allgemeinen Rechtslehre. Ein Rechtsverhältnisliegt vor, wenn sich aus einem konkreten Sachverhalt auf der Grundlage einer Rechtsnorm eine rechtliche Beziehung einer Person zu einer anderen Person oder einer Sache ergibt[1]. Rechtsverhältnisse sind bereits aus dem Privatrecht bekannt: So begründet etwa ein privatrechtlicher Vertrag Rechtverhältnisse zumindest unter den Vertragsparteien. Nicht-vertragliche privatrechtliche Rechtsverhältnisse können etwa bei der Geschäftsführung ohne Auftrag nach §§ 677 ff BGB entstehen. Wenn die Rechtsbeziehung demgegenüber verwaltungsrechtlicher Artist, handelt es sich um ein Verwaltungsrechtsverhältnis. Auch das Verwaltungsrechtsverhältnis kann vertraglicher Natur sein, muss es aber nicht. Oftmals bestehen spezifische Zusammenhänge des Verwaltungsrechtsverhältnisses mit dem subjektiven öffentlichen Recht; denn aus subjektiven Rechten können Verwaltungsrechtsverhältnisse entstehen, umgekehrt können sie subjektive Rechte begründen[2].
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