Zögernd drückte ich den Knopf und nahm das Gespräch an. Das Gesicht meines Schwagers füllte den Bildschirm. Normalerweise stand ich nicht auf „hübsche“ Männer, aber es war nicht zu leugnen, dass Jake in dem ehemaligen Model, das jetzt ein Modedesigner war, ein wunderschönes Exemplar Mann gefunden hatte. Aber so umwerfend Oz auch rein äußerlich war – sein physisches Aussehen war nicht im Vergleich zu seiner inneren Schönheit. Mein Bruder war auf pures Gold gestoßen, als er den temperamentvollen jungen Mann am Wegesrand einer schneebedeckten Bergstraße getroffen hatte.
„Zachary, Sweetie, ich liebe dich wie die Frühjahrskollektion von Dolce, aber Boo und ich haben noch ein Hühnchen mit dir zu rupfen.“ Bevor ich etwas erwidern konnte, schob sich ein Gesicht mit Glubschaugen und einem Köpfchen, das mit schneeweißen Fellbüscheln bedeckt war, ins Bild. Die Visage des hässlichen kleinen Hundes ließ mich für einen Moment lang meinen Schmerz vergessen.
„Hey, Oz“, sagte ich. „Was auch immer ich getan habe, es tut mir leid. Aber könnten wir die Nahaufnahmen von deinem Mädchen vermeiden? Ihre einzigartige Schönheit lässt sich aus der Ferne viel besser bewundern.“
Die Kamera schwenkte zurück zu Oz. Er schüttelte den Kopf. „Boo wird dich dafür bezahlen lassen, wenn du das nächste Mal zu Besuch kommst. Und ich werde dich für die vielen schlaflosen Nächte bezahlen lassen, die du meinem Mann bescherst … und damit meine ich nicht die gute Art schlafloser Nächte.“
Bei Oz’ Worten durchfuhren mich Schuldgefühle. Ich hörte, dass mein Bruder den Namen seines Mannes sagte. Das Bild des Telefons wechselte zu einer Aufnahme des Fußbodens, und ich nutzte den Moment, um mich wieder in den Griff zu bekommen. Als das Telefon wieder hochgehalten wurde, hielt Jake es in der Hand und saß mit seinem Mann eng an sich gedrückt auf der Couch. Boo lag zusammengerollt in Jakes Schoß.
„Sorry, Zach“, murmelte Oz und sah mich traurig an. Ich fühlte mich noch mehr wie ein Mistkerl, als mein Bruder sich zu ihm lehnte, um ihm einen Kuss auf die Schläfe zu geben. Nur selten sah mein Schwager so niedergeschlagen aus. Mein Blick wanderte zu Jake und ich erkannte sofort, wovon Oz gesprochen hatte. Mein Bruder sah beschissen aus. Er hatte dunkle Ränder unter den Augen und war dünn geworden. Ich hatte selbst so ausgesehen, als ich vor Jahren vom Verschwinden meines Bruders während seines Medizinstudiums erfahren hatte.
„Schon gut“, brachte ich mühsam, so gut ich konnte, hervor. „Ich … ich werde mit Tag darüber reden, ob ich mir am vierten Juli herum freinehmen kann, okay? Von Colorado aus ist die Fahrt nicht so weit.“
Jake lächelte. „Das würde uns freuen, Zach.“
„Boo, ich bringe dir was Schönes mit, okay?“, bot ich an. Ich sah, wie Oz lächelte, auch wenn der hässliche Hund im Glitzerpulli mich ignorierte.
„Sie hat gerade eine Pastell-Phase“, klärte Oz mich auf. „Keine Blumen, auch wenn das dieses Jahr der absolut letzte Schrei ist. Unser Mädchen setzt gern neue Trends.“
Ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen. „Kapiert.“
„Ich schätze, ich sollte wieder an die Arbeit gehen.“ Oz streckte sich, um meinem Bruder einen Kuss auf den Mund zu geben. Ich musste mich räuspern, als es mir zwischen den beiden zu heiß wurde. Oz errötete, während Jake mir einen verärgerten Blick zuwarf. Gerne hätte ich ihn daran erinnert, dass sie schließlich mich angerufen hatten. Oz beugte sich vor, um meinem Bruder etwas zuzuflüstern, bevor er sich von der Couch erhob … und sich vor Jake hinkniete.
„Ähm, Jungs“, begann ich. Obwohl mir der öffentliche Austausch von Zärtlichkeiten zwischen meinem Bruder und seinem Mann nicht neu war, musste ich irgendwo eine Grenze ziehen.
„Du musst nicht sofort an Schweinskram denken, kleiner Bruder“, sagte Jake, während er die Kamera nach unten richtete.
Ich lachte laut auf, als ich sah, welche „Arbeit“ Oz verrichtete. Er hockte über einem Paar glitzernder Stiefel an den Füßen meines Bruders.
Frauenstiefel.
„Ich glaube, die Absätze sind eine Spur zu hoch für dich, Jake.“ Ich beäugte die fast zehn Zentimeter hohen Stiletto-Absätze der Stiefel.
„Leck mich“, knurrte Jake.
„Tatsächlich habe ich versucht, deinen Bruder zu überreden, ein paar meiner neuen Models zu zeigen, wie man darin läuft“, mischte Oz sich ein. „Sein Laufsteg-Gang ist einfach umwerfend. Obwohl er das bisher nur nachts für mich gemacht hat, nachdem wir …“
Die Hand meines Bruders erschien im Bild und legte sich sanft über Oz’ Mund. Diesmal war es Jake, der Oz etwas zuflüsterte, was den hübschen jungen Mann bis zu den Haarwurzeln erröten ließ.
„Okay, das ist mein Stichwort“, sagte ich schnell, denn die Funken, die zwischen den beiden Männern flogen, waren nicht zu übersehen. Ich verabschiedete mich, aber ich war mir nicht mal ganz sicher, ob die beiden mich hörten, denn sie waren zu sehr damit beschäftigt darüber zu streiten, wer später im Schlafzimmer die Stiefel tragen würde.
Ich warf das Handy in meinen Becherhalter und lehnte mich im Sitz zurück, während ich versuchte, mich zu entspannen. Mein Kopf schrie mich an, mich endlich an einen dunklen, stillen Ort zurückzuziehen. Ich warf noch einen Blick auf die Tür von Luckys Haus und griff dann nach den Schlüsseln im Zündschloss. So sehr ich auch Luckys Wohnung im Auge behalten wollte, um sicherzugehen, dass sein Ex nicht hier auftauchte, wusste ich doch, dass ich schon bald nicht mehr in der Lage sein würde zu fahren – nicht, wenn ich in diesem Tempo weiter abbaute. Gerade wollte ich den Motor anlassen, als die Wohnungstür aufging und Luckys vertraute Gestalt im Türrahmen erschien. Er telefonierte.
Automatisch scannte ich unsere Umgebung um sicherzugehen, dass niemand im Halbdunkel auf Lucky wartete. Seit über einer Stunde saß ich mittlerweile vor seiner Wohnung und hatte in der Zeit nur wenige Fußgänger hier gesehen. Beiläufig fragte ich mich, ob es mir gelingen würde, Lucky zu folgen, wohin auch immer er gehen mochte … natürlich nur so lange, bis er sein Ziel erreicht hatte. Dann würde ich mich für die Nacht ins Bett hauen.
Mit aller Macht bändigte ich den Schmerz in meinem Kopf und beobachtete Lucky, der zu seinem Auto ging, das an der Straßenseite gegenüber von mir geparkt war. Von meinem Platz aus konnte ich die Fahrerseite nicht sehen, aber Lucky hielt unmissverständlich am Auto inne, dann ging er herum und stellte sich vor die Front. Das Auto war unter einer Straßenlaterne geparkt, also konnte ich seinen Gesichtsausdruck sehen, als er auf die Front starrte. Er sah … verwirrt aus. Seine Augen weiteten sich kurz, dann schien sein ganzer Körper sich zu versteifen. Ich sah zu, wie er näher an die Windschutzscheibe heranging, aber ich konnte nicht erkennen, was er sich ansah. Während die Sekunden vergingen, begann sich meine Besorgnis zu regen. Was, wenn Davis irgendwie ins Auto gelangt war und vielleicht gerade jetzt eine Waffe auf Lucky gerichtet hielt oder ähnliches?
Ich behielt das Fahrzeug im Auge und griff nach meiner Waffe, die auf dem Beifahrersitz lag. Eine Sekunde später war ich aus meinem Wagen heraus. Ich rannte praktisch um Luckys Auto herum, in der Hoffnung, jemanden im Inneren auszumachen. Aber ich konnte niemanden sehen.
„Wo ist er?“, bellte ich Lucky an, der wie erstarrt an der Fahrerseite des Wagens stand. „Lucky, wo ist er?“, rief ich noch einmal.
Diesmal zuckte Lucky zusammen.
„Zach“, flüsterte er. Er sah völlig geschockt aus. Sein Blick fiel auf die Waffe in meiner Hand.
„Wo ist er?“, fragte ich noch einmal, diesmal mit gesenkter Stimme, und trat näher an ihn heran.
„Wo ist Davis?“
Er schüttelte den Kopf. „Weiß nicht.“
Ich konnte mir aus Luckys Reaktion keinen Reim machen. Er war eindeutig durcheinander, aber da war keine Spur von Wut oder Angst. Ich öffnete den Mund, um ihn zu fragen, was los war, als ein Farbklecks meine Aufmerksamkeit erregte. Ich blickte nach rechts und spürte, wie mir der Atem stockte: leuchtendes Rot hob sich von dem nüchternen Grau des Autolacks ab.
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