In diesem Jahr schien mein Selbstvertrauen verschwunden zu sein, der Spielraum war so klein zwischen den Kilos, zwischen Kontrolle und Chaos, zwischen Fiasko und etwas, das einigermaßen gelungen war. Die letzten Konzerte waren keine runde Sache gewesen. Während ich im Frühstücksraum des Hotels saß und ein Stück Knäckebrot verzehrte, dachte ich an das gestrige Konzert. Es war mäßig gewesen. Kein totales Fiasko, aber unkonzentriert, fahrlässig. Dieselben alten Tricks, die Übergänge, die auf einem so kleinen Klavier nicht so gut funktionierten. Der Techniker hatte mir geholfen, hatte hier und da ein paar schöne Klänge darüberlegt, und der Applaus war hörbar gewesen. Ich hatte zwischen den Nummern viel erzählt, wie um mich aus meiner Unsicherheit herauszureden. Sie hatten gelacht, als ich einen Witz von Trond-Viggo geklaut hatte: »Hier ist es aber dunkel, sagte der Knabe. Hier ist das Licht sicher schon vor langer Zeit ausgeknipst worden.« Sie hatten auch gelacht, als ich darüber gesprochen hatte, wie ungenau unsere Sprache jetzt wurde, die vielen Widersprüche, die häufige Verwendung der allernichtssagendsten Wörter, wie irgendwie und eigentlich . Meine Standardeinleitung zu einem Stück, das ich Irgendwie eigentlich ein Blues, hätte ich fast gesagt nannte. Aber danach fühlte ich mich unzufrieden mit mir, und seltsamerweise waren keine Bekannten im Saal, und die schöne Maj mit den langen schwarzen Haaren, die Künstlerbetreuerin, war zu Hause geblieben.
Maj, ja, dachte ich. Ich musste noch bei ihr im Büro vorbeischauen und mein Geld holen. Maj, die alle Künstler in ganz Norwegen kannte, unsere Launen und unsere Schwächen. Und alle liebten sie. Weil sie Maj war. Weil sie und die anderen im Büro wachsam waren und uns Auftritte verschafften.
Ich hatte mich noch immer nicht von dem scheußlichen Traum befreit, als ich eine halbe Stunde später aus dem Hotel auscheckte. Ich wollte schon früh zum Flughafen, um mich dort hinzusetzen und zu schreiben.
Tromsø im Dezember. Dunkelheit in den Straßen. Ich überquerte die Straße vor dem Hotel und ging das kurze Stück bis Prelaten und zum Büro, wo mich Maj erwartete, wie ich wusste. Über meine Schulter hing die graue Schultertasche. In der Hand trug ich den kleinen Rollkoffer, in den Wäsche für genau drei Tage passte.
Als ich an die offene Tür klopfe, sehe ich, dass sie am Schreibtisch sitzt und mit leerem Blick vor sich hinstarrt.
»Maj«, sage ich vorsichtig. »Stimmt was nicht?«
»John Lennon ist tot. Ein Wahnsinniger hat ihn erschossen, gleich vor seiner Wohnung in New York.«
»Ihn erschossen? Wieso denn?«
Sie erhebt sich, erwidert meinen Blick, zuckt mit den Schultern.
»Make love, not war«, sagt sie matt.
In diesem Moment sah ich die Bilder vor mir. John und Yoko, in dem Bett, wo sie ihr Bed-in gestartet hatten. Den Imperativ an Peter Watkins, nachdem er The War Game gedreht hatte, in dem er die Zerstörungen in der Gesellschaft nach einem Atomkrieg zeigt. Was John und Yoko dazu gebracht hatte, sich zu engagieren. John und Yoko. Imagine . Das Schöne zwischen ihnen, das für viele auch ans Lächerliche grenzte. Strawberry Fields Forever .
Das hier ist nicht lächerlich.
Wir stehen hier und haben die Arme umeinander gelegt, unfähig, auch nur ein einziges Wort zu sagen. Ich starre auf das Geld, das mir zustehende Honorar, das auf dem Tisch bereit liegt. Die vielen Geldscheine.
»Was machen wir jetzt?«, fragt Maj endlich.
»Ja, was machen wir jetzt?«, erwidere ich.
Manchmal, wenn Movitz auf seinen Knien liegt, mit scheußlichen Bissen nach nächtlichen Kämpfen mit anderen Katern und doch so friedlich, denkt er, dass sich vielleicht alle wilden Tiere danach sehnen, zahm zu werden. Er dachte an die Enten, die angelaufen kamen, wenn er sie im Frognerpark mit Brot fütterte. Wollten sie eigentlich mit ihm nach Hause kommen? Neben ihm auf dem Sofa liegen und sich streicheln lassen, ein bisschen quaken und dann sicher und geborgen schlafen in einem warmen Zimmer, nachts?
Diese Vorstellung konnte ihn in ihrem existenziellen Ernst überwältigen. Er lag oft im Halbschlaf da und dachte an Tiere. Wie einsam sie sein mussten, draußen in der Wildnis, im ewigen Kampf, um zu überleben und sich fortzupflanzen. Wie groß war die Freude für eine Möwe, wenn sie über den Fjord flog? Oder dachte sie nur daran, dass sie Nahrung finden musste?
Und was war mit den zahmen Tieren? Sehnten die sich danach, wieder wild zu werden? Nach der Freiheit in der Unabhängigkeit? Der Möglichkeit, Entscheidungen zu treffen, die in den Abgrund führten?
Die USA ersuchen Norwegen um die Erlaubnis, auf norwegischem Boden Atomwaffen zu stationieren. Die amtierende Regierung, ja, die große Mehrheit im Parlament, ist einverstanden. Elf Abgeordnete aber sehen das anders.
Was aber nichts hilft.
Die Mehrheit, die das Spektrum von den Sozialdemokraten bis zu den Konservativen abdeckt, sieht keine Probleme darin, dass unsere nächsten NATO-Verbündeten ein an die Sowjetunion grenzendes Land als Depot nutzen, das im Falle eines Krieges von Nutzen sein kann. Die Angst vor der Aggression des Nachbarlandes wächst. An Evensens Vision einer atomwaffenfreien Zone im Norden zu glauben kann uns teuer zu stehen kommen.
»Wir sind wieder bei 1960 angelangt«, sagt Vater. »Damals, beim U-2-Skandal, erfuhr nicht einmal der norwegische Ministerpräsident, was die Amerikaner mit dem Flugplatz in Bodø vorhatten. Und was wissen wir jetzt darüber, welche grauenhaften Zerstörungswaffen da oben im Norden bei nichtsahnenden Bauern und Fischern platziert werden sollen?«
»Oder in Kolsåstoppen«, sage ich.
Es ist der Tag vor Ronald Reagans Amtseinführung als Präsident der Vereinigten Staaten. Ungefähr gleichzeitig werden endlich die amerikanischen Geiseln im Iran freigelassen, nach heftigen diplomatischen Aktivitäten, durch die einige der Milliarden des Schahs, über die die USA verfügen, dem neuen islamischen Regime im Iran zufallen sollen. Die USA versprechen, sich nicht in interne iranische Angelegenheiten einzumischen. Die Geiselaffäre ist für die Amerikaner inzwischen fast von existenzieller Bedeutung. Sie haben an Häusern und Bäumen gelbe Bänder aufgehängt, um ihre Solidarität mit ihren Landsleuten zu bekunden.
Ministerpräsident Odvar Nordli erzählt der norwegischen Bevölkerung, dass seine Gesundheit nachlässt. Er kann die große Verantwortung nicht länger tragen. Es ist offenbar etwas mit seinen Augen. Wenn ich ihn im Fernsehen sehe, denke ich oft an einen treuen Hund. Einen, der niemals aufgeben würde. Ich weiß nicht, wie lange die Sozialdemokraten in aller Heimlichkeit daran gearbeitet haben, eine neue Ministerpräsidentin einzusetzen, die junge Ärztin Gro Harlem Brundtland, die bisher nur Umweltministerin war. Einer der Drahtzieher, Ingjald Ørbeck Sørheim, wird mir diese Geschichte später erzählen. Alles kam so ganz anders, als er erwartet hatte. Aber jetzt, zu Beginn der achtziger Jahre, ist die Begeisterung der Bygdøy-Clique noch groß. Ich wüsste gern, wie viel Kjell Bækkelund mit allem zu tun hat. Und der Möbelhändler aus Jessheim.
Gro Harlem Brundtland.
Unsere erste Ministerpräsidentin. Das ist wichtig, vielleicht das Wichtigste von allem, wenn man die politische Geschichte betrachtet, die sich von den Eidsvollmännern bis in unsere Gegenwart zieht. Aber es ist auch wichtig, dass sie jung ist. Wir hatten so viele alternde Ministerpräsidenten. Gro ist direkt. Man hört es ihrer Stimme an, dass sie sich nicht dieselbe Redeweise zugelegt hat wie ihre Vorgänger, die Parlamentarier, die grauen Arbeitstiere des Storting. Außerdem hat sie Ähnlichkeit mit Mutter, denke ich. Eine offenkundige Ähnlichkeit, durch ihre Locken und das runde und doch energische Gesicht. Ich traue mich nicht, das zu sagen, wenn ich mit Mutter telefoniere. Aber ich merke, wie begeistert sie ist. Nach all diesen Jahren im Schattenland des Feminismus. Endlich eine Frau am Steuerruder! »Das wurde aber wirklich Zeit!«, sagt sie zu mir. Dennoch ist Gro nicht die Freundin aller jungen Leute. Die ehemalige Umweltministerin wird die, die die Verantwortung dafür trägt, dass sich die vielen Alta-Demonstranten oben in Finnmark aneinanderketten und schließlich fortgeschleppt werden bei ihrem letzten verzweifelten Versuch, den Ausbau der Wasserkraft zu verhindern, der schon wenige Jahre darauf als vollkommen überflüssig eingestuft werden wird.
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