Und ich sehe es ihm an. Dass sich ein neues Alter in seinem Gesicht festgesetzt hat. Ein Alter, das ich noch nie gesehen hatte, das nicht mit der Anzahl der Falten zusammenhängt, sondern vor allem mit dem Blick, einem Funken, der fehlt, einer Mattigkeit in der Haut, bei der ich an Leder denken muss. Und dann muss ich auch an Tante Svanhild denken, die allein in ihrer Wohnung sitzt und uns auf diesem Weg weit voran ist. Sie ist dort angelangt, wo der Wald dichter wird, wo die Schatten die Sonne verdecken. Vielleicht denke ich an das Gedicht von Halldis Moren Vesaas. Halldis, die mir immer so nahekommt, wenn wir für Aschehoug auf Tournee gehen. Die geschrieben hat: »Mein Wort soll danke sein / mein Weg biegt ab / und wird getrennt von deinem / biegt ab in ein Land, wo aller Schmerz rein ist / und das Antlitz des Todes mild.«
»Ich fürchte mich jetzt vor der Welt«, sagt Vater plötzlich.
Seit Wochen warte ich schon auf Nachrichten aus Schweden. Tor Marcussen von Aftenposten ruft an und möchte ein Interview mit Lill Lindfors und mir in Verbindung mit der neuen LP, die nun gleichzeitig in allen nordischen Ländern veröffentlicht werden soll. Es ist schön, Lill wiederzusehen. Sie wirkt noch immer so begeistert von dem Projekt, aber im Gespräch mit Andreas Burman wird mir klar, dass Warner/ Metronome ihre Erwartungen heruntergeschraubt haben. Das hier sind nicht gerade die neuen ABBA. Nun hat auch die Marketingabteilung die Lieder gehört. Natürlich sind sie zu introvertiert, denke ich. Außerdem schreibe ich keine Melodien, die gleich beim ersten Hören haften bleiben. Sie brauchen Zeit. Sie sind zu rätselhaft. Aber wie soll man sich in der Welt der Popmusik Zeit verschaffen? Drei Minuten hier und drei Minuten da, in Konkurrenz zu allen anderen, die einen Platz in den Hitlisten anstreben.
Aber Lill lässt sich nichts anmerken.
»Ich bin verdammt stolz auf diese Scheibe«, sagt sie zu Tor und umarmt mich.
Später sehe ich die Bilder in den Zeitungen.
So dünn war ich noch nie.
Ich muss es der Anderen erzählen. 10 000 Exemplare ist nicht schlecht, aber Millionär wird man nicht davon. Wir hatten ohnehin nicht nach Holmenkollåsen ziehen und uns eine Villa mit Swimming Pool zulegen wollen. Ich sitze auf dem Plumpsklo auf Sandøya und denke, dass ich immer hier wohnen will. Ich darf das niemals vergessen. Darf mich nie in etwas anderes verirren, etwas Idiotisches, wie es so viele meiner Kollegen bereits getan haben. Will an diesem Leben festhalten. Muss daran festhalten. Und im Garten wächst Grünkohl. Ich habe sogar Kartoffeln ausgemacht.
Wieder zurück. Nichts ist wie das hier. Nichts. Ich muss das denken. Muss es spüren.
Ich gehe über den Hofplatz zu Tore. Ich höre, dass er im Wohnzimmer sitzt und Trompete bläst.
»Störe ich?«, frage ich.
»Nimmermehr«, sagt er und blickt mich fragend an.
»Siehst du den Sternenhimmel?«
Er macht einige Schritte in die Dunkelheit.
»Ach, meine Güte.«
»Weißt du noch, in alten Tagen?«
»Wie meinst du das?«
»Du bist mit mir mit der Schnicke nach Båen gefahren. Und noch weiter hinaus. Und da draußen hast du den Motor ausgeschaltet. Weißt du noch?«
»Klar, weiß ich noch.«
»Wir haben uns im Boot auf den Boden gelegt und zu den Sternen geschaut. Wir haben die Wellen unter uns gespürt. Weißt du noch, was wir gesehen haben?«
»Dass wir mitten in der Zeit waren. Unserer eigenen Zeit.«
»Genau.«
Tore lächelt. »Dann zieh dir was an. Jetzt ist es kalt draußen auf dem Meer.«
In den USA sind Präsidentschaftswahlen. Ich werde in der Bar des Doktor Holms Hotell in Geilo auf einem weißen Flügel spielen. Die liebenswürdige Direktorin. Obwohl ich eigentlich gar nicht weiß, wem das Hotel gehört. Jedenfalls nimmt sie mich herzlich auf, als wäre ich einer ihrer Stammgäste aus Vestre Aker.
»Hat der Herr Pianist bereits gespeist?«
»Ich speise gern nach dem Konzert«, sage ich.
»Wir haben Rentier von der Hardangervidda auf der Speisekarte«, sagt sie und zwinkert mir zu. »Und vielleicht eine Flasche guten Burgunder?«
»Da sage ich nicht nein.«
In der Welt passiert etwas. Etwas Wichtiges. Das Land, das sich stolz als beste Demokratie der Welt betrachtet, setzt alles auf einen Mann, gibt ihm mehr Macht als jedem anderen auf der Welt. Carter gegen Reagan. Liegt es nur daran, dass wir ein neues Jahrzehnt begonnen haben, dass ich das Gefühl habe, an einem Kreuzweg zu stehen, dass sich etwas ändert, dass die Menschen sich ändern. Als die siebziger Jahre anbrachen, war ich so jung. Ich hatte das Gefühl, dass wir eine enorme Freiheit besaßen. Unser einziges Problem war, wie wir sie nutzen sollen. Jetzt hatten wir sie genutzt, jetzt hatten wir gewählt. Obwohl ich immer noch nicht entschieden habe, was ich werden will. Ich mache Musik und ich schreibe, genau wie früher. Ist es nicht bald an der Zeit, Lokführer bei der Bergenbahn zu werden?
Aber in der Welt sind nicht alle auf die gleiche Weise frei. Die Jagd nach dem Geld ist jetzt deutlicher. Man darf sein Leben nicht mit Jazz, Liedermacherei und Romanen verplempern. Man braucht Kapital, größere Häuser, schnellere Wagen, Geld auf dem Konto. Zurück zu Smokings, weißen Hemden und Fliegen. Lebwohl Sigrun Berg und die lila Schals. Eine neue Zeit zieht herauf. Die jungen Schnösel im Anzug. Young Aspiring Professionals? Einige sitzen bereits in dem Bereich der Bar, wo der Flügel steht. »Wolltest du nicht immer schon Barpianist werden, Ketil?«, fragte Paul, als er mich wegen dieses Auftritts anrief. Er wusste nicht, dass er damit fast ins Schwarze getroffen hatte. Meine Rolle finden, als Mussikant zwischen Bier-, Wein- und Schnapsgläser gleiten, Narkosemusik für die Ehrgeizigen spielen. Ihnen I’m in the Mood For Love geben, oder, vielleicht noch besser: Ain’t misbehavin’ . Dasitzen wie Fats Waller mit Schuhcreme im Gesicht und dem Gefühl, besser zu sein, es geschafft zu haben. Das war plötzlich so verlockend. Bei der freundlichen Frau Holm ein bescheidenes Zimmer beziehen und zu ihrem festen Barpianisten werden, einem Teil der Einrichtung. 25 Standardstücke einstudieren, mich wieder fett fressen, genau wie die Brauseböcke, die auf die Alm wollten. In Geilo fett werden. Den Verfall einsetzen lassen, das Wohlleben in allen Formen willkommen heißen, am Fenster sitzen und auf die Slalomhänge schauen, wo die Leute auf den Loipen auf und ab jagen, am Ende der Mittagszeit ins Restaurant gehen und die Reste essen, Schweinerippe, Soße und Kartoffeln, wie unbeschreiblich verlockend. Kein neues Dach auf das Haus legen müssen, der Anderen sagen, dass auch sie hier herzlich willkommen ist, dass sie ein aktives Freiluftleben führen kann, sich eine kleine Holzhütte zulegen, wo der Webstuhl steht, dass unsere Beziehung weitergeht, nur in ganz neuen Formen.
»Und in was für Gedanken ist der Herr versunken?«, fragt Frau Holm.
»Wann das Konzert losgehen soll.«
»Das geht jetzt los.«
»Jetzt?«
Sie nickt, ein bisschen traurig. In der Bar sitzen elf Menschen. Vier von ihnen sind offensichtlich Makler oder Investoren. Sie sitzen vor dem teuersten Rotwein und reden leise miteinander, haben Papierstapel auf dem Tisch liegen. Dann sind da zwei wohlhabende Ehepaare, die aus den Häusern in Ustaoset oder den Privatsuiten ganz oben im Hotel hergekommen sind. Die Männer tragen grünkarierte Hosen und blaue Jacken. Die Damen sind entweder lachsrosa oder türkis mit dem schwersten Goldschmuck von David Andersen. Ein Komiker auf dem absteigenden Ast sitzt erschöpft da und trinkt Gin Tonic mit einem viel zu jungen Mädchen aus dem Ort. Er erzählt ihr die ältesten Witze aus der großen Zeit des NRK in den fünfziger Jahren. Beide lachen laut über die Glanznummern von Einar Rose und Arvid Nilssen.
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