Und dann ist da noch die eine, die dort sitzt, ganz allein.
Ich würde gern zu ihr gehen und sagen, dass das hier kein Konzert von Ole Paus ist, dass es sogar ziemlich langweilig werden wird, dass der Flügel nicht gestimmt ist und außerdem zu stark intoniert. Der Klang ist so formlos wie die Schafswolle, aus der die Hammerköpfe gemacht sind. Aber das tue ich nicht.
Das Konzert beginnt. Ich weiß nie, was ich spielen soll. Drücke auf einige Tasten und lausche. Die Art, wie das Instrument mir antwortet, entscheidet, was es für ein Konzert wird. Wenn das Instrument aggressiv ist, ein wenig hysterisch, überempfindlich, wenn es bespielt wird, versuche ich, es zu beruhigen nach einigen Minuten heftigen Streits. Ist der Flügel, oder ab und zu das Klavier, von der zurückhaltenden Sorte, versuche ich mich respektvoll an einer Art Vertraulichkeit, erzähle Geschichten, die nicht zu anstößig oder nervenaufreibend sind. Aber der Flügel im Doktor Holms ist eingeschlafen. Ich versuche, ihn zu wecken, aber das bringt nichts. Also spiele ich Wiegenlieder. Die passen zu den vier Anzugmännern, die sich lautstark unterhalten. Einer der Wohlhabenden bedeutet ihnen zu schweigen, aber das nutzt nichts. Erst, als ich fast mit Spielen aufhöre, werden sie leise. Stille kann eine effektive Waffe sein.
Danach bleibt die gesamte Zuhörerschar sitzen und trinkt weiter. Nur die einsame Frau erhebt sich und geht mit einem eiligen Danke hinaus in die Novembernacht. Als ich sie verschwinden sah, fragte ich mich: Habe ich etwas vermitteln können? Ist sie mir in dieser Stunde gefolgt? Kannte sie meine Musik bereits? Hatte sie einige von meinen Büchern gelesen? Habe ich ihre Erwartungen erfüllt?
Ich hatte keine Ahnung. Die liebenswürdige Hoteldirektorin setzte mich im Restaurant an einen Ecktisch. Die Rotweinflasche stand da. Das Menü war bereits festgelegt.
»Wo sind die Leute alle?«, fragte ich leicht verwirrt.
»Ach, die sitzen sicher zu Hause vor dem Fernseher. Heute Nacht wird doch Ronald Reagan zum Präsidenten der USA gewählt. Muss man sich mal vorstellen. Nichts wird mehr so sein wie bisher.«
»Wieso das denn?«
»Bildung allein reicht nicht, junger Mann. Man braucht auch Klasse. Hat Ihnen der Flügel gefallen? Toralv Maurstad hat darauf gespielt.«
»Der ist Schauspieler.«
»Ja, aber trotzdem.«
»Der Flügel hat geschlafen«, sage ich höflich. »Ich weiß nicht, ob es ihm recht war, von mir geweckt zu werden.«
»Sie haben fabelhaft gespielt, junger Mann. Das war eines der denkwürdigsten Konzerte in der Geschichte dieses Hotels.«
Ich nahm den Rest der Rotweinflasche mit aufs Zimmer. Zum Glück gab es dort Fernsehen und Radio. Später am Abend und bis in den frühen Morgen würde es Sondersendungen geben.
Magie zu wirken, Alchimist zu sein, aus Nichts Gold zu machen. Das schafften die Hoteldirektorin und Ronald Reagan. Die Begeisterung der Hoteldirektorin griff auf die Gäste über. Sie konnte mir fast einreden, dass ich ein gutes Konzert gegeben hatte.
Aber nun war Ronald Reagan an der Reihe. Nach all dem Rotwein konnte ich mich auf verblüffende Weise mit ihm vergleichen. Dieses Gefühl, das so viele von uns haben: Dass wir niemals wirklich ernstgenommen werden. Die seriösesten und zugleich aufgeblasensten politischen Journalisten trauten ihren Augen nicht, als sie sahen, dass Reagan die Vorwahlen gewann. Aber Himmel? Ist das denn die Möglichkeit? Hat er wirklich …?! Sollte der denn …? Aber Himmel. Aber Himmelarsch!!!
Ja, er hatte. Und im Laufe dieser Nacht sollte er zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt werden.
Damit war die Ähnlichkeit verschwunden. Reagan würde sich aller Wahrscheinlichkeit nach ins Oval Office begeben. Ich dagegen im Kino von Sandvika einen Soloauftritt haben.
Und an allem waren diese neunzig Kommandosoldaten schuld. Wussten sie, als sie sich an jenem Tag im April, am Tag vor meinem 28. Geburtstag, in ihre Hubschrauber und Hercules-Flugzeuge setzten, dass das, was sie jetzt vorhatten, darüber entschied, wer in den nächsten vier Jahren im Weißen Haus sitzen würde? Wenn es ihnen gelungen wäre, die Geiseln aus der Botschaft in Teheran zu befreien, hätte in dieser Nacht vermutlich Jimmy Carter den Sieg davongetragen. Was hätte das für die Welt bedeutet, für uns alle? Ich lag im Bett und dachte die großen apokalyptischen Gedanken. Die Übelkeit kam wie eine Mahnung. Natürlich. Ich hatte ja das Kotzen vergessen.
In Ostnorwegen herrschen Kälte und Frost, aber als Anfang Dezember überraschend mildes Wetter einsetzt, fährt er nach Norden, um Menschen zu treffen und dringend nötiges Geld zu verdienen. Das hat er Paul Karlsen zu verdanken. Er wird Solokonzerte in Tromsø, Bodø und Finnsnes geben.
Und im Norden ist es kalt, eiskalt. In Tromsø türmt sich der Schnee in den Straßen. Er wird in der Gaststätte Prelaten spielen. Das kleine braune Klavier. Ohne einen tüchtigen Tontechniker wäre das unmöglich.
Er checkt im SAS-Hotel ein. In Tromsø ist jetzt alles so schön und neu. Die Universität lockt junge Leute an. Ihm graust davor, vor denen zu spielen. Weiß nicht, was er zu bieten hat. Fünf Uhr nachmittags. Draußen ist es dunkel. Er hofft, vielleicht später an diesem Abend am Himmel das Nordlicht zu sehen. Er legt sich ins Bett, lässt die Dunkelheit hereinsickern. Er schläft fast ein.
Im Dakota-Gebäude in der Upper Westside von New York steht die Fotografin Annie Leibovitz in der Wohnung von Yoko Ono und John Lennon und arbeitet an einem Porträt für das Cover der einflussreichen Zeitschrift Rolling Stone. Zu Lennon hat sie gesagt, sie hätte gern ein Porträt von ihm allein, aber er hat darauf bestanden, dass Ono dabei sein soll. Es ist viele Jahre her, dass die beiden sich in ein Bett gelegt haben, im Namen des Friedens, und die Weltpresse zu Besuch kommen durfte.
Lennon ist schon morgens früh aufgestanden. Ehe er zu einem Friseur im Viertel ging, um sich die Haare im Stil der fünfziger Jahre schneiden zu lassen, hatte er im La Fortuna in der 71. Straße gefrühstückt.
Leibovitz bittet Ono, sich auf den Boden zu legen und ihre langen schwarzen Haare wie einen Pfauenschweif um ihr Gesicht auszubreiten. Gleichzeitig zieht Lennon alle Kleidungsstücke aus und legt sich in Embryostellung neben sie, legt die Arme um Onos Kopf und küsst sie auf die linke Wange. Gegen halb vier Ortszeit sind sie fertig mit Fotografieren. Lennon hat bereits vorher dem RKO Radio Network ein Interview gegeben. Jetzt geht das Ehepaar zusammen mit den Radioleuten zu seiner wartenden Limousine. Ono und Lennon wollten zu Record Plant, um das von Ono geschriebene Walking On Thin Ice abzumischen. Vor drei Wochen haben sie das gemeinsame Album Double Fantasy veröffentlicht, wobei Lennons Woman und Beautiful Boy bereits große Aufmerksamkeit erregt haben.
Wie üblich wartet unten eine Handvoll Autogrammjäger. Einer davon ist der 25 Jahre alte ehemalige Wachmann Mark David Chapman aus Fort Worth, Texas. Einige Wochen zuvor ist er nach New York gekommen, um Lennon zu ermorden, hat sich die Sache dann aber anders überlegt. Er möchte Kapitel 27in J. D. Salingers Roman The Catcher in the Rye mit Lennons Blut neu schreiben. Das Buch ist bereits einer der weltweit meistgelesenen Romane. Die Hauptperson heißt Holden Caulfield, ein ruheloser Junge mit destruktiven Neigungen, der von der Schule Pencey Prep verwiesen worden ist. Wie Chapman fährt er nach New York. Chapman fühlt sich bereits seit Jahren als Versager und hat mehrere Selbstmordversuche geplant. Er hat als Sicherheitswache gearbeitet und einen einwöchigen Kurs gemacht, um als bewaffneter Wächter arbeiten zu dürfen. Auf Hawaii versank er in einer ziemlich tiefen Depression und versuchte, Selbstmord zu begehen, indem er einen Schlauch an das Auspuffrohr eines Autos anschloss, aber der Schlauch schmolz. Später reiste er in sechs Wochen um die Welt, inspiriert von In achtzig Tagen um die Erde , und heiratete eine Angestellte eines Reisebüros, ehe er Arbeit als Nachtwächter in einem Krankenhaus fand und begann, heftig zu trinken.
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