Er hatte John Lennon früher sehr bewundert, doch seit er zum gläubigen Christen geworden war, kritisierte er Lennon wegen dessen Aussage, er sei »beliebter als Jesus«. In Chapmans Gebetsgruppe wurden Witze über Imagine gerissen. »Imagine if John Lennon was dead.« Chapman zeigte zudem deutlichen Zorn darüber, dass Lennon über Love & Peace reden konnte, wo er Millionen von Dollars auf der Bank, Lustyachten, Landsitze und Grundstücke besaß. Er sah rot, als Lennon dann behauptete, weder an Jesus noch an die Beatles zu glauben: »Wer ist dieser Mann, der sich so respektlos über Gott und den Himmel und die Beatles äußert?« Er entwickelte einen tiefen Hass auf Menschen, die berühmt waren und seine moralischen und religiösen Maßstäbe nicht erfüllten, unter anderem Marlon Brando, Jackie Kennedy, Elizabeth Taylor und Walter Cronkite. Aber Lennon war doch der Schlimmste.
Nun steht Chapman wieder vor dem Dakota-Building. Er hält Lennon sein Exemplar von Double Fantasy hin. Lennon signiert und fragt: »Is this all you want?«
Chapman lächelt und nickt.
Danach fahren Ono und Lennon zum Record Plant-Studio in der West 44. Straße, zwischen der 8. und der 9. Avenue. Ein legendäres Studio, wo Jimi Hendrix Electric Ladyland eingespielt hatte, The Eagles Hotel California , Fleetwood Mac Rumours und Bruce Springsteen Born to Run . Lennon hatte in diesem Studio, das zudem mehr als neun Jahre zuvor die Verantwortung für die Live-Aufnahme des Concert for Bangla Desh im Madison Square Garden getragen hatte, Imagine und Double Fantasy aufgenommen. Sie mischen Onos Walking on Thin Ice ab, auf dem Lennon Gitarre spielt. Später an diesem Nachmittag ruft er seine Tante Mimi in England an, während David Geffen mit Lennon im Studio telefoniert und erzählt, dass Double Fantasy nach nur zwei Wochen in den Charts schon eine goldene Schallplatte geholt hat.
Nach 22 Uhr beschließt Lennon, sich nicht direkt zum Promi-Restaurant Stage Deli in der Nähe der Carnegie Hall zu begeben, weil er zuerst seinem Sohn zu Hause im Dakota-Gebäude gute Nacht sagen will. Das Ehepaar tritt hinaus auf die Straße und merkt, dass es für Dezember überraschend warm ist. Die beiden beschließen, einige Straßen vor dem Dakota-Gebäude aus der Limousine auszusteigen und das letzte Stück zu Fuß zurückzulegen. Als sie das Gebäude erreichen, geht Lennon einige Schritte hinter Yoko Ono. Er hat das Tonband mit der letzten Abmischung unter dem Arm. Es ist 10.52 p. m. Chapman tritt aus den Schatten und nimmt Kampfhaltung an. Er gibt mit seinem Charter Arms 38 Spezialrevolver fünf Schüsse ab. Eine Kugel fliegt über Lennons Kopf in ein Fenster im Dakota-Gebäude. Die anderen treffen, und alle sind tödlich. Zwei dringen in die linke Seite des Rückens ein, die beiden anderen durchschlagen die linke Schulter. Mindestens einer dieser Schüsse trifft Lennons Hauptschlagader, während dieser die sechs Treppenstufen zur Rezeption hochsteigt, ehe er das Tonband loslässt, das nun über den Boden rollt. Lennon ruft: »Ich bin verletzt!« Ein Taxifahrer mit Fahrgast und ein Fahrstuhlfahrer beobachten, was geschieht. Der Portier des Gebäudes, Jay Hastings, aktiviert den Polizeialarm, ehe er Lennon mit seiner blauen Dakota-Uniform bedeckt und ihm die Brille abnimmt. Yoko Ono stürzt herbei und nimmt Lennons Kopf zwischen die Hände, während er flüstert: »Hilf mir.« Hastings hockt neben ihr. Er sagt: »Ist schon gut, John. Das schaffst du.« Vor dem Gebäude entreißt der Türsteher José Perdomo Chapman die Waffe und schleudert sie ins Gebüsch. »Weißt du, was du getan hast?«, schreit er Chapman an. »Ja, ich habe soeben John Lennon erschossen«, antwortet der, zieht Mantel und Mütze aus und fängt an, in seinem Exemplar von The Catcher in the Rye zu lesen, während er auf die Polizei wartet. Ins Buch hat er geschrieben: »To Holden Caulfield from Holden Caulfield. This is my statement.«
Beim Eintreffen der Polizei lebt Lennon noch. Sie sehen, dass er zu schwer verletzt ist, um auf den Rettungswagen zu warten. Sie heben ihn in ihr Auto und fahren ihn zum St. Luke’s-Roosevelt Hospital. Lennon liegt auf der Rückbank, und der Polizist James Moran fragt ihn: »Sind Sie John Lennon?« – »Ja«, flüstert Lennon und versucht, etwas zu sagen, aber es quillt zu viel Blut aus seinem Mund. Die Polizisten hören ein gurgelndes Geräusch. Dann verliert Lennon das Bewusstsein.
Im Krankenhaus wartet Dr. Stephen Lynn, der soeben einen dreizehn Stunden langen Dienst beendet hat. Er kann bei Lennon weder Atem noch Puls feststellen. Zusammen mit zwei weiteren Ärzten, einer Krankenschwester und zwei Hilfskräften versucht Lynn fünfzehn Minuten lang, ihn ins Leben zurückzuholen. Als ihnen das nicht gelingt, sägen sie Lennons Brustkasten auf, um eine manuelle Herzmassage vorzunehmen, sehen aber sofort, dass er so viel Blut verloren hat, dass sie ihn nicht mehr retten können. Wenige Minuten später wird Lennon für tot erklärt. Zeugen berichten, dass augenblicklich All My Loving aus den Lautsprechern des Krankenhauses strömt. Yoko Ono liegt auf dem Gang, schlägt mehrmals den Kopf auf den Boden und sagt: »Oh no, no, no, no … tell me it’s not true!« Eine Krankenschwester bringt ihr Lennons Trauring. Ono bittet das Krankenhaus, mit diesen Ereignissen nicht an die Öffentlichkeit zu gehen, ehe sie mit dem fünf Jahre alten gemeinsamen Sohn Sean sprechen konnte. »Ich will nicht, dass er durch die Fernsehnachrichten vom Tod seines Vaters erfährt.«
David Geffen führt sie aus dem Gebäude.
Die Polizei nimmt Chapman fest und entdeckt, dass er sich für den nächsten Tag eine Eintrittskarte für The Elephant Man auf dem Broadway gekauft hat, in dem David Bowie die Hauptrolle spielt. Bowie wird später behaupten, der Nächste auf Chapmans Liste gewesen zu sein. Ono/Lennon waren zur betreffenden Vorstellung eingeladen.
Drei Plätze blieben leer.
Ich löse mich langsam im SAS-Hotel in Tromsø aus einem Traum. Sehe auf die Uhr. Erst in einigen Stunden werde ich die Twin Otter-Maschine nach Bardufoss nehmen. Was hatte ich da noch geträumt? Meine Träume waren in der letzten Zeit oft überwältigend, stärker als das Leben selbst. Ich war an einem Badestrand irgendwo am Mittelmeer. Ich erwachte aus einem Traum im Traum. Lag plötzlich da und hob den Kopf, begriff, dass ich die ganze Nacht geschlafen hatte, dass es Morgen war, dass ich nur eine Unterhose trug, fast nackt war, ganz anders als sonst. Dann sah ich plötzlich, wie dünn ich war, genauso, wie ich sein wollte. Ich wollte gerade aufstehen, als ein Schatten über mich fiel, der eines anderen Menschen. Ich hatte das Gefühl, sie zu kennen, dass sie früher einmal eine Freundin gewesen war, aber ich konnte ihr Gesicht nicht sehen, ich spürte nur einen kalten Windhauch, wie von der Morra aus dem Mumintal, etwas Unheimliches, von einem wunden Punkt in meinem Leben.
»Da liegst du also?«, fragte sie.
»Ja.« Ich hielt verzweifelt Ausschau nach meinen Kleidern. Wie war ich hier gelandet? Ich konnte mich an nichts erinnern. Sie sorgte dafür, dass ich mich schuldig fühlte.
»Ich gehe schon«, sagte ich beschämt.
»Nicht mit diesem Körper«, sagte sie.
»Aber das ist doch mein Körper«, sagte ich. »Ich habe nur abgenommen.«
»Das ist nicht dein Körper«, sagte sie ruhig.
Ich fühlte mich noch immer beschämt, als ich in den Frühstücksraum nach unten ging. So konnte das nicht weitergehen. Ich wurde nicht dünner davon, dass ich den Finger in den Hals steckte. Ich konnte nicht einmal mein Gewicht halten. Mein Körper war die ganze Zeit nervös und im Ungleichgewicht. In den vergangenen Nächten hatte ich mehrmals geträumt, dass ich mich erbrach, dass ich alles erbrach, bis mir am Ende nur Gesicht und Augen blieben.
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