„Das ist Linda“, sagte die Kollegin und gestikulierte ausschweifend in Lindas Richtung. „Sie ist unsere neue Praktikantin in der Grafik, aus Valand.“
Seine Wimpern waren das Erste, worüber sie bei ihm nachdachte, wie dunkle Schatten um die braunen Augen. Irgendwie weich, einladend und offen. Unwirklich im Vergleich zu seinem ansonsten so hart geschnittenen Gesicht, dem Dreitagebart, der die starken Kiefer noch hervorhob. Man konnte nicht leugnen, wie unglaublich gut er aussah.
„Cool. Hallo“, sagte er und streckte die Hand aus. Die Stimme war tief, aber melodisch.
„Linda“, sagte Linda und nahm die Hand.
Zwei:Linda kam aus der Toilette und Lucas bog bei den Druckern um die Ecke. Es gab keine Möglichkeit, einen Zusammenprall zu vermeiden, und sie fiel fast in ihn hinein. Aber in dem Augenblick wurde sie von Lucas‘ Körper umschlossen, die Wärme seines Brustkorbs, der Geruch – ein Hauch von Schweiß und irgendein Parfüm. Trocken und warm, Sandelholz, Vanille, Birke.
„Oh, Verzeihung“, sagte er. „Alles okay?“
Sie nickte. „Ja, nichts passiert. Sorry.“
„Schön gemacht, die Serie auf Instagram“, sagte er. „Das warst doch du, oder?“
Und Linda nickte. „Ja, danke.“
Jener Flur ist ungewöhnlich eng, und einer von ihnen müsste sich zur Seite zwängen, damit der andere passieren könnte. Keiner tat es.
„Wie geht’s ansonsten?“, fragte er und legte die Hand an die Wand, lehnte sich fast an. Es war wohl nicht seine Absicht, ihr mit dieser Bewegung noch mehr den Weg zu versperren, aber genau das tat er.
„Gut“, antwortete sie. „Es läuft gut. Und für dich?“
Das brachte Lucas zum Lachen, ein gluckerndes, ziemlich helles Lachen. Linda lächelte schief und zahnlos und hob die Augenbrauen. Die Reaktion brachte Lucas dazu, sich zu räuspern und zu schlucken, als ob ihm sein unkontrolliertes Lachen deutlich wurde und er es herunterschluckte. Er versuchte das zu verbergen. Sein Adamsapfel trat hervor und er leckte sich über die Lippen, ehe er antwortete.
„Es geht mir gut.“
„Schön“, sagte Linda mit viel Luft in der Stimme, sodass es fast, aber nicht ganz, geflüstert klang. Es klang heiser und langsam. Dann zeigte sie hinter Lucas und sagte: „Darf ich vorbei?“ Lucas brauchte etwa eine halbe Sekunde, um sich aus dem Weg zu bewegen. Er zog den Arm von der Wand an sich und ging zur Seite. Als ob er zusammenzuckte.
„Danke“, sagte sie und ging vorbei. Holte tief Luft durch die Nase. Schweiß und Birke.
Drei:Als Lucas Linda leere DIN-A4-Blätter aus seinem Büro gab. Es war nicht unbedingt notwendig, dass Linda sie genau da holte. Aber ihr fiel zwischen ihrem Büroplatz und dem Depot auf, dass sie endlich mal an Lucas‘ Büro vorbeikam. Ihr Handeln war weniger eine Wahl als ein Impuls, es fühlte sich an, als ob ihr Körper sich mit Muskelerinnerung bewegte, als sie sich durch die offene Tür schlängelte, dreimal an den Türrahmen klopfte und mit übertrieben autoritärer Stimme „Lucas! Alles klar?“ sagte. Der Bürosessel gab einen quietschenden Laut von sich, als Lucas sich herumdrehte, und Linda war dankbar, dass sie noch sein zuerst sehr nachdenkliches Gesicht sah – mit einer deutlichen Falte zwischen den Augenbrauen, und sein schnelles zweimaliges Zwinkern – bevor er erkannte, dass sie es war, und lächelte. Ein großes, ehrliches Lächeln.
„Linda“, sagte er. Keine Feststellung und auch keine Frage, mehr so, als ob er einfach ihren Namen sagen wollte. Es klang glitschig, weich und fast nass in seinem Mund. Die Betonung auf dem N viel länger als sie sein soll, als ob er nicht aufhören wollte, ihren Namen zu sagen, und länger an dem Konsonanten saugte als aus sozialer Hinsicht akzeptabel. Sie sagten eine Weile nichts, aber sie ließ ihn nicht aus den Augen. Seine beiden Hände lagen auf den Armlehnen, mit den Ellenbogen zur Seite angewinkelt, als ob er erst hatte aufstehen wollen, dann aber beschlossen hatte, dass das komisch wäre und jetzt nicht wusste, ob er die Hände wegnehmen sollte oder nicht.
„Alles gut“, sagte er schließlich.
„Hast du A4-Papier?“, fragte Linda.
„Mhm“, sagte er.
Eine Weile blieb es still. Lucas hielt sich noch immer an den Armlehnen fest und sah sie an, wie sie in der Türöffnung stand. Sein Gesicht sah entspannt aus, aber noch immer leicht verwirrt, als ob er nicht richtig verstand, warum sie da war.
„Kann ich … etwas haben?“, fragte sie schließlich.
Das brachte Lucas wieder dazu, so nervös aufzulachen, und er rollte die Augen, als ob er sich entschuldigen wollte.
„Ja, Herrgott, natürlich“, sagte er und stand endlich vom Stuhl auf, aber mit zu viel Kraft, sodass er hinter ihm wegrollte und im Tisch landete. Das Geräusch von Plastik an Plastik klang höher, als sie gedacht hätte, und Lucas langte nach dem herumrollenden Stuhl. „Oh, oh“, sagte er und schob ihn wieder an seinen Platz. Linda sah Lucas neugierig an, als er einige Papierseiten aus der Schublade des großen, dunklen Schreibtisches holte. Ihre Hand berührte seine leicht, als er sie zu ihr ausstreckte. Warm und trocken.
„Danke, Lucas“, sagte sie und ging zurück.
Vier:Bei der Personalversammlung am letzten Dienstag. Der Chef, der Kurator und Lucas saßen ganz vorne. Die anderen Angestellten hatten ihre Macbooks oder Notizbücher vor sich. Man erzählte der Reihe nach oder meldete sich, und Lucas deutete mit der ganzen Hand, betrachtete alle Vorschläge mit skeptischem Blick unter seinen schweren Wimpern. So sexy wie da war er noch nie gewesen. Außer, als er die Kontrolle über seinen Schreibtischstuhl verloren hatte, weil Linda ihn zu lange angesehen hatte. Sie hat ja schon bemerkt, dass er ihr bei den Meetings nicht in die Augen sieht. Sie bildet sich ein, dass er Angst hat, die Kontrolle zu verlieren. Oder vielleicht bildet sie es sich gar nicht ein.
Sie wollte als eine der Letzten den Raum verlassen, als sie Lucas im Augenwinkel noch dasitzen sah. Sie ging drei Schritte zurück, leise und kontrolliert. Der leere Becher mit dem Kaffee vom Beginn des Meetings stand noch neben seinem Laptop und sie wollte ihn fragen, ob sie ihn mitnehmen sollte. Also legte sie die Hand an seinen Rücken und Lucas zuckte zusammen, fuhr herum und warf den Becher mit einer schnellen und vollkommen unkontrollierten Bewegung um.
„Oh“, sagte Linda und lachte.
„Linda. Hallo“, murmelte er.
Sie hatte nicht geplant, das zu sagen, aber er sah so unschuldig und hübsch aus, als er den Becher wieder auf den Tisch stellte, also sagte sie:
„Du kannst dich echt nie richtig benehmen, oder?“
Sie bereute es im selben Moment, in dem sie es sagte. Aber er wurde nicht wütend oder sah verwundert aus, sondern als er den Mund öffnete, war der Laut, der ihm entwich, ein helles, unwillkürliches, kurzes Lachen. Ein Zischen oder mehr ein Jaulen. Und auf den Wangen, unter dem Dreitagebart und den langen Wimpern breitete sich eine leichte Röte aus. Also behielt sie die Kontrolle, nahm seinen Kaffeebecher und sagte:
„Ich nehm den mit.“
Dann saß sie zehn Minuten lang da und starrte auf ihren Bildschirm, ohne auch nur so zu tun, als würde sie arbeiten. Das Einzige, was sie tat, war, dass sie sich dieses jaulende Lachen immer und immer wieder vorstellte. Je tiefer sie in diese Fantasie eindrang, desto mehr klang es wie ein Stöhnen. Ein so unkontrolliertes und authentisches Ausatmen, das nur im Zusammenhang mit Schock oder echter Lust geschieht. In ihrem Kopf machte er wieder und wieder dieses Geräusch, wenn sie ihm über die Schenkel strich, über seine dunkelblaue Jeans. Und das Geräusch war ein Zusammenspiel daraus, dass er so geil war und es so schön war und weil seine Erektion so hart war, dass sie in seiner engen Jeans wehtat und das war nicht ansatzweise eine ausreichende Beschreibung. Aber er durfte sie nicht öffnen. Nur sie darf sie öffnen. Sie möchte sich so nah zu ihm herüberbeugen, dass er ihren Atem auf seinen Lippen spürt, wenn sie flüstert: „Sag bitte“.
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