Basel wurde noch aus einem andern Grund für Reuchlin bedeutsam. Der Buchdrucker Johannes Amorbach (oder Amerbach) bestellte eine riesenhafte Arbeit bei dem armen Studenten; ein lateinisches Wörterbuch, den vocabularius breviloquus. Es war Reuchlins erstes Buch, das allerdings anonym erschien (weshalb es ihm manchmal abgesprochen wird. Aber die Gedenkrede Melanchthons bezeugt ausdrücklich Reuchlins Verfasserschaft). – Merkwürdig, daß gerade dieses Buch ein großer Erfolg wurde. Es wimmelt von etymologisch falschen Ableitungen und stellt überhaupt nur einen Tastversuch seines jungen Autors, einen ersten Vorstoß ins Reich der Wissenschaft dar – so wird beispielsweise das Wort ›uterus‹ als stammverwandt mit ›uti‹ oder mit ›utilitas‹ angesehen. Gerade dieses Buch erreichte eine Verbreitung von 25 Ausgaben. »Es wäre seltsam«, sagt Ludwig Geiger in seiner klassischen Reuchlin-Biographie, »daß Reuchlin bei all den neu erscheinenden Ausgaben keine bessernde Hand angelegt hätte, wenn man sich nicht erinnerte, daß nur die (vier) Ausgaben bis 1482 bei Amorbach aufgelegt, alle späteren Nachdrucke sind. Seit 1504 ist keine neue Ausgabe erschienen; die Zeit war über das Werk hinweggeschritten.« Es handelt sich übrigens nicht um ein bloßes Lexikon, sondern an sehr vielen Stellen eher um eine Art von Realenzyklopädie. Die Worterklärungen wachsen gelegentlich zu richtigen großen Sachartikeln an, dem Titel des Werkes, der »kurze Rede« verheißt, unumwunden widersprechend.
In der ›Bibliographie der Schriften Johannes Reuchlins im 15. und 16. Jahrhundert‹ von Josef Benzing findet man die korrigierende Bemerkung, daß es »nur 22 sichere Ausgaben« des vocabularius gibt. – Kritisch gibt Geiger unter den positiven und negativen Eigenschaften dieses Reuchlinschen Erstlings an, zu bewundern sei die große Belesenheit des jungen Mannes, der nicht etwa bloß auf den Wortschatz der lateinischen Bibel abzielt, sondern es »als seine Aufgabe erkennt, den ganzen durch klassische Schriftsteller und die Quellen der römischen Jurisprudenz wesentlich bereicherten lateinischen Sprachschatz in sich aufzunehmen«. Echt reuchlinisch mutet auch schon die folgende Bemerkung an: »Merke, daß überall wo sich in den Büchern des alten Testaments (bei Geiger einer der häufigen Druckfehler: ›ceteris‹ statt ›veteris‹) ein Irrtum findet, auf die hebräischen Bücher zurückzugreifen ist, da das Original des alten Testaments in hebräischer Sprache geschrieben ist.« – Damals, in jener Baseler Zeit hatte Reuchlin das Studium des Hebräischen noch gar nicht begonnen. Und doch stellt er bereits einen jener Grundsätze auf, an denen er später eisern festgehalten hat und die ihm soviel Gegnerschaft eingebracht haben. Sogar um eine eigentlich so selbstverständliche Regel mußte also gekämpft werden. Rückblickend erzählt Reuchlin später (1518 in einer Widmung an Kardinal Hadrian), daß er es in Basel mit einer Sorte von Menschen zu tun gehabt habe, »deren einziges Streben es Jahrhunderte lang gewesen war, recht barbarisch zu reden«. Die Vorkämpfer der alten Lehrmethode waren den jungen modernen Lehrern (ebenso wie in Paris) feindlich gesinnt. Es galt als verboten, die griechische Sprache zu unterrichten, da ja die Griechen (Oströmer) von der römischen Kirche abgefallen waren! So dachte man damals, zu einer Zeit, da die Hauptstadt des oströmischen Reiches, Byzanz–Konstantinopel, schon seit drei Dezennien von den Türken erobert war und die flüchtigen griechischen Gelehrten, aus dem Ostreich in den Westen gekommen, dort ihre höheren Bildungswerte, die der griechischen Kultur, zu verbreiten begannen; die dann (neben den Fundamenten der nie ganz vergessenen lateinischen Erbschaft) zu einer wesentlichen Vertiefung der humanistischen Anschauungen hinführte.
Der vocabularius ist in lateinischer Sprache verfaßt. Über Reuchlins seltsame, letzten Endes aber doch dem Verhältnis Dantes zur ›Volkssprache‹ entsprechende fortschrittliche, in die Zukunft weisende Haltung zur Verwendung des Deutschen, wird später, bei Gelegenheit des ›Augenspiegels‹ einiges darzulegen sein. Schon hier aber sei der große Skandal beklagt, daß von sämtlichen Werken Reuchlins, den lateinischen wie den deutschen, bis heute, da ich diese Zeilen schreibe (April 1963), kein einziges ins Hochdeutsche übersetzt vorliegt. Das ist um so weniger begreiflich, als von seinem doch nur flacheren Zeitgenossen Erasmus eine große Anzahl von Werken und Briefen in hochdeutschen Ausgaben, einige sogar mehrfach herausgebracht worden sind. – Das Mittelmäßige, Glatte und eigentlich Uninteressante, Unoriginelle erwirbt sich eben manchmal, bei geeigneter Propaganda (nicht immer), leichter und rascher Weltruhm als das tief Gedachte und auf persönlichste Art Erlittene!
In Basel blieb Reuchlin mehr als drei Jahre, ging dann zum zweitenmal nach Frankreich, wo er in Paris bei Georgios Hermonymos (siehe den oben zitierten Brief, den zweiten der Geigerschen Sammlung) die griechische Sprache weiterstudierte. In Paris wurde er mit dem Kanonischen Recht vertraut; anschließend an den Universitäten in Orléans und in Poitiers mit dem römischen Recht. In Orléans soll er zum Eigengebrauch und für Mitstudierende eine griechische Grammatik ›Mikropaideia‹ (etwa: Kleine Belehrung) herausgegeben haben, die ich allerdings bei Benzing nicht verzeichnet finde und die mir auch an einigen Universitäten Süddeutschlands, in denen ich Reuchlins Bücher in ihrem bibliothekarischen Eremitendasein aufgestöbert habe, nicht zu Gesicht gekommen ist. (Nach Geiger existierte das genannte Werk nur handschriftlich.) – 1481 erhielt Reuchlin in Poitiers das Lizentiatendiplom und »die ausdrückliche, den sonstigen Sitten der Universität entgegenstehende Erlaubnis, den Doktortitel zu erwerben, wo es ihm beliebe«. So war er um diese Zeit durch lauter Juristerei seinen philologischen Bestrebungen entfremdet, die später zugleich mit Theologie und Mystik das Zentrum seiner geistigen Wesenheit erfüllen sollten. Das Brotstudium, die Juristerei, hatte ihn geschnappt. Es dünkte ihm, wie es scheint, nicht seinem Charakter gemäß: sich auf Mäzenatentum, Pfründen und die unsicheren Ergebnisse der Schriftstellerei zu verlassen, wie der um zwölf Jahre jüngere Erasmus (der allerdings viel diplomatischer war und mehr Glück hatte als Reuchlin) und die ganze jüngere Humanistengeneration wie Eoban Hesse, Konrad Celtes, Ulrich von Hutten, Crotus Rubeanus u. a. in einer Art von ungemessenem Wanderleben und leichter Bohème-Freiheit es taten. »Laß den väterlichen Herd«, so dichtet (natürlich lateinisch) der Humanist Celtes, »und schaue fremde Gestirne, wenn du himmlische Pfade wandeln willst. Wo du stirbst, ist einerlei; überall führt der gleiche Weg von der Erde in Jupiters Saal.« Der schwerblütige Reuchlin neigte dagegen sein ganzes Leben lang zu festen Bindungen, zu Bestimmtheit, zu Heimat und einem geordneten Leben, ja zu einer Stetigkeit, die an Unbeholfenheit grenzte und sich nur im Notfalle (dann allerdings höchst energisch) zu Bewegung und Veränderung aufraffte, auch dann immer unter der machtvollen Kontrolle seines Gewissens, und zu einer erhabenen Gott-Trunkenheit hinleitend, die seine besten Zeiten erfüllte. – Er hat, wie viele seiner Briefe beweisen, sehr darunter gelitten, daß er dem geschäftigen Leben, dem juristischen und Beamtenberuf unterjocht blieb. Erst im Alter, zehn Jahre vor seinem Tode und mitten im bittersten Ringen mit den Kölnern und mit Pfefferkorn, das alle seine Kräfte in Anspruch nahm, hat er die Berufslast der Rechtswissenschaft abgeworfen, die er so lange getragen hat. – Gauguin hatte sein Indonesien gefunden. Im Falle Reuchlins hieß es: De arte cabalistica.
Indessen war ihm das Rechtsstudium nicht unfruchtbar geblieben. Im ›Augenspiegel‹ zeigt er, wenn es in den Argumentationen hart auf hart geht, wie vortrefflich er den ungeheuren Wissensschatz des weltlichen wie des Kanonischen Rechtes zu handhaben versteht.
Читать дальше