Darcar sah entsetzt zu ihm auf, als er sich erhob und abwenden wollte. »Ich meine es ernst, er hat mich nicht angerührt!«
Elmer lächelte traurig. »Es ist nicht deine Schuld.«
Stöhnend strampelte Darcar die Decke von sich, dabei bemerkte er, wie schwach sich seine Gliedmaßen noch immer anfühlten, er brauchte dringend etwas zu Essen, um wieder zu Kräften zu kommen. Nun jedoch musste er etwas beweisen, denn er wollte diesen mitleidvollen Blick nie wiedersehen.
»Hier!« Er drehte dem verdutzten Elmer den nackten Arsch zu und zeigte ihm seine Unversehrtheit. »Nichts verletzt, kapiert? Oder willst du mit einer Kerze rankommen und genauer hinsehen?«
Für einen Moment war er so still im Gewölbe, dass sie sogar die Mäuse am Stroh knabbern hören konnten. Dann brach Elmer in schallendes Gelächter aus. Darcar rollte sich wieder auf den Rücken.
»Also wer mir so unverfroren den blanken Arsch hinhält, schämt sich seiner wirklich nicht!« Elmer gluckste noch immer, schüttelte amüsiert den Kopf.
Das Lachen des anderen zauberte auch ein Schmunzeln auf Darcars Gesicht. Für einen winzigen Moment lag Sorglosigkeit in der Luft, als ob sie zwei ganz normale fremde Jungen waren, die sich unverhofft auf der Straße begegnet waren und sofort zusammen lachten. Dieser eine wunderbare Moment, da ein Lachen die angespannte Stimmung auflockerte, und man spürte, dass sein Gegenüber gar nicht so übel war, wie man befürchtet hatte.
»Ich … hab meinen nackten Arsch mal aus der Kutsche gehalten«, erinnerte Darcar sich plötzlich, »und ihn Schulkameraden gezeigt. Magda, unsere Haushälterin, hat ihn mir danach versohlt.« Er lachte auf, als ihn die Erinnerungen überkamen, doch mit ihnen hielt auch Bedauern Einzug. Darcar verlor sein Lächeln, er schluckte und musste seine Tränen zurückhalten. Er hatte Heimweh.
Elmer wurde still, senkte den Blick. Unbehaglich schob er die Daumen in seinen lockeren Hosenbund, er war drahtig, beinahe mager. Ein heller Streifen Haut wurde über dem Bund sichtbar, fast so weiß wie Milch. »Es wird leichter«, sagte er unaufdringlich zu Darcar.
Glücklicherweise kam in jenem Moment endlich Veland zurück, etwas schüchtern kam er herein und trug einen schweren, dampfenden Teekessel vor sich her, sehr darauf bedacht, nichts zu verschütten. »Ich habe eine Tasse runter geworfen«, gestand er seine Schuld und schaute traurig zu Elmer auf.
»Schon gut«, beruhigte dieser ihn und ging auf ihn zu, um ihm die Kanne aus der Hand zu nehmen, er strich ihm über den Kopf. »Geh zu deinem Bruder, ich kümmere mich um den Rest.«
Darcar streckte die Hand nach Veland aus, packte ihn an seinem weichen Wollpullover und zog ihn fest in seine Arme, erst dann erlaubte er es sich, zu weinen. Sein kleiner Bruder sagte nichts, fragte nichts, wehrte sich nicht gegen die Umklammerung. Er drückte sich an Darcar und war einfach nur da. Und er war alles, was Darcar jetzt noch hatte. Alles, was noch wichtig schien.
Am nächsten Tag war das Fieber schon wieder etwas gesunken, nur eine leichte Erkältung war geblieben. Darcars Augen brannten etwas und waren glasig, seine Nase triefte und ein leichter Husten hatte sich am Morgen eingestellt. Er musste sich ausruhen, ihm fehlte Medizin und nahrhaftes Essen. Aber er würde nicht sterben, dafür sorgten Elmer und Veland, die ihn trocken und warm lagerten und ihm so viel Tee einflößten, dass Elmer mehrfach täglich die Bettpfanne ausleeren musste. Anfangs hatte Darcar sich noch geschämt, mittlerweile nahm er es wortlos hin.
»Jetzt schau nicht so, Stadtjunge«, hatte Elmer gelacht, als er seine Scham das erste Mal bemerkte, »jeder Mensch muss pissen und scheißen, das ist nicht wie in Mären, wo der Held mehrere Wochen im Zellenblock sitzt und nicht ein einziges Mal pupst.«
Veland hatte sich vor Lachen nicht mehr halten können, das war natürlich genau sein Humor. In ihrem Elternhaus hatte niemand jemals gewagt, offen über Notdürfte zu sprechen.
Darcar musste selbst schmunzeln. Elmer war anders als sie, kannte keine körperliche Scham, in vielen Dingen war er rauer, auch wenn man ihm das nicht ansehen mochte. Er war sehr schlank gebaut, aber seine Oberarme strotzten vor steinharten Muskeln, wenn auch recht unaufdringlich. Ein typischer Landjunge, wenig zu essen, aber viel harte Arbeit, die Mischung aus beidem hatte seinen jungen Körper geprägt.
»Ich komme vom Land, ich habe schon Scheiße und Pisse weggemacht, als ich gerade laufen lernte«, erklärte Elmer gegen Mittag. Er übertrieb maßlos, da war sich Darcar sicher, dennoch brachte ihn die Vorstellung eines Knirpses mit Elmers Haar und Augen, der wackelig auf den Beinen knietief in Rinderfladen stand, erneut zum Schmunzeln.
»Greift zu!«, forderte Elmer dann auf, als er sich zu ihnen umdrehte. Sie saßen im Gewölbe auf dem Boden um einen Topf herum, den Elmer aufgestellt hatte. Es war ein wenig wie um ein Lagerfeuer herum zu sitzen, nur hing über ihnen kein funkelndes Sternenzelt, sondern die Zimmerdecke. Darcar war ohnehin nie draußen in der Wildnis unterwegs gewesen, er kannte die Lagerfeuerszenen nur aus Büchern und Magdas Gutenachtgeschichten. Das hier war ein wenig ähnlich wie die Mahlzeiten, die die Helden in ihren Erzählungen immer eingenommen hatten, wenn sie gerade nicht bis zum Hals in Abenteuern steckten. Veland machte das sichtlich Spaß, sodass er nicht bemerkte, wie sehr zum Schlechten sich alles gewendet hatte. Statt an einer gedeckten Tafel zu sitzen und köstlichen Braten zu schlemmen, hockten sie nun zwischen Lagerkisten und Spinnenweben auf dem harten Boden und aßen irgendeinen wässrigen Eintopf.
Elmer machte für Veland eine Holzschale voll, nachdem er sich Darcar gegenübergesetzt hatte. Hungrig machte der Kleine sich sofort über die Mahlzeit her, Brot gab es auch, doch es war alt und trocken, den Schimmel hatten sie großzügig abgebrochen.
Darcar begutachtete angewidert den Topf, seit er vor seiner Nase stand. Er saß in eine Decke gewickelt neben dem Kamin, trug seine mittlerweile getrockneten Kleider, und machte keine Anstalten, sich von dem Topf zu nehmen. Noch immer war ihm kalt.
»Darcar?« Elmer hielt ihm eine bis zum Rand gefüllte Schale hin.
Darcar starrte darauf. »Da sind aber nicht die Ratten drinnen, oder?«
Elmer legte genervt den Kopf schief, er hielt Darcar für einen verwöhnten Schnösel. »Nimm schon!« Er drückte ihm die übervolle Schale in die Arme, sodass heiße Tropfen auf der Decke landeten und Darcar die Hände befreien musste, damit ihm nicht der Rest der heißen Brühe über den Schoß gegossen wurde.
»Ich esse das nicht«, trotzte er.
Elmer seufzte, während er nach vorne gelehnt im Topf rührte und sich dann selbst eine Schale mit der dünnen Brühe füllte. »Ich sage dir jetzt etwas, das ich hier im Loch gelernt habe. Entweder frisst du, was dir vor die Nase kommt, oder du verreckst elendig!«
Veland verfolgte die Unterhaltung stumm, seine großen Augen wanderten zwischen ihnen hin und her, den Löffel führte er weniger begeistert zum Mund, als wartete er darauf, was Darcar entscheiden würde.
Elmer sah es auch, nickte unauffällig in Velands Richtung. Er musste nichts sagen.
Darcar seufzte und blickte auf das Essen hinab. Er fischte den Holzlöffel aus dem Eintopf und rührte darin herum. Die Brühe war klar, Kräuter und Gemüsestücke wirbelten auf, sie roch gut, fast wie von Magda – aber eben nur fast.
»Das schmeckt gut«, ermutigte Veland ihn. »Und du musst essen!«
»Ja, Darcar«, stimmte Elmer ihm zu und feixte, »du musst essen!«
Darcar schmunzelte von einem zum anderen. Dann nahm er den ersten Löffel. Er kaute auf den Stücken herum und da war eindeutig Fleisch dabei. Es schmeckte wie … Geflügel, aber er meinte sich einzubilden, es wäre irgendwie… sauer und pelzig.
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