»Sonst wäre ich ja wohl bei denen, oder?«
Darcar richtete sich auf, setzte sich aufrecht, dabei schwindelte ihm, aber es war auszuhalten. »Wen genau meinst du mit…«
»Ich meine Henning«, erklärte Elmer, während er vor dem Feuer hockte und geübt die Scheite in die Flammen warf. Funken stoben auf wie brennende Glühwürmchen und verglühten in der Luft. »Den Rattenkönig und seine Schar der Verblendeten.«
Darcar verspürte einen tiefsitzenden Hass, als die Sprache auf den Rattenkönig fiel. Unwillkürlich umklammerte er seinen Becher so fest, dass seine Knöchel weiß hervortraten.
»Wenn du nicht zu ihnen gehörst, wieso haben sie dich dann nicht längt massakriert?« Darcar sah ihn wütend an. »Du wirst uns ausliefern, oder?«
Elmer wirkte gegenüber der Anschuldigung gelangweilt. »Dann hätte ich das längst getan.« Er deutete zur Destille. »Ich gebe ihnen Selbstgebrannten, deshalb lassen sie mich in Ruhe. Henning braucht das Zeug, sonst steht er nicht auf. Zittert wie ein Aal an der Angel. Also gebe ich ihm Schnaps, dafür geht er mir nicht auf den Sack. Nenn es Schutzgeld.«
Darcar dachte darüber nach und kam sich sogleich ein wenig dumm vor, da er sofort mit haltlosen Vorwürfen um sich geworfen hatte.
»Ich hätte dir nicht geholfen«, wandte Elmer dann jedoch seufzend ein, »lege mich nur ungern mit denen an und vertraue auch lieber niemandem. Aber dein Bruder kam angerannt, tränenüberströmt. Also hab ich gewartet, bis sie abgehauen waren, um dich rauszuziehen.« Er schenkte Darcar einen entschuldigenden Blick. »Deshalb musste ich dich hier unten verstecken, die wissen nichts von diesem Raum, ich lasse sie nur oben in den Laden.« Dann riet er ihm noch, während er sich die Hände abklopfte. »Du und dein Bruder sollten nicht mehr in der Stadt rumlaufen, das ist zu gefährlich.«
Darcar blickte in seinen Becher. »Ich …«, gestand er dann mutlos, »…was sollen wir denn sonst tun, wir müssen irgendwo einen sicheren Ort finden. Und Wasser und Essen…«
»Ihr könnt ja erst einmal hierbleiben«, bot Elmer an. Als Darcar überrascht den Blick hob, zuckte er nur gleichgültig mit den Achseln. »Stört mich nicht, wenn ihr hier seid, solange ihr euch versteckt und keinen Ärger mit Henning verursacht. Du musst dich erholen und deinen Bruder mag ich sehr, er hat sich gleich nützlich gemacht.«
Die Aussage verärgerte Darcar. »Wir sind keine Sklaven…«
»Nein«, fiel ihm Elmer sogleich besonnen ins Wort und suchte eindringlich seinen Blick, »keine Sklaven, aber wenn ihr überleben wollt, müsst ihr eben auch mit anpacken. Ich bediene euch sicher nicht. Ihr könnt mir helfen.«
Das leuchtete ihm ein, er wollte sich auch bestimmt nicht auf die faule Haut legen, doch die Vorstellung, wie Veland auf allen Vieren über den Boden kriechen musste, um zu putzen, zerriss ihm das Herz. »Ich helfe, wo ich kann«, erklärte er dann ernst. »Aber Veland darf ein Kind sein, solange er das möchte!«
Elmer schien zu verstehen, er nickte. Darcar wollte sich für das Angebot bedanken, doch er wusste gar nicht so genau, wie, als er dazu ansetzte.
Im gleichen Augenblick hörten sie kleine Füße die Holzstufen der Kellertreppe hinabtrampeln und blickten zur Tür. Veland schaute gehetzt hinein, die whiskyfarbenen Augen groß und freudesprühend. »Darcar!«, rief er und stürmte in das Gewölbe hinein, stolperte auf den steilen Steinstufen und nutzte den Schwung, um sich Darcar in die Arme zu werfen.
Darcar legte lachend den Arm um ihn, stellte blind den Becher ab und drückte ihn dann fest an sich, die Finger in seinem Schopf vergraben.
»Du bist wach!« Veland zog die Arme so fest zusammen, dass er Darcar würgte. Elmer lächelte über sie beide, senkte dann aber den Blick, als würde ihn etwas betrüben. »Du bist endlich wach!«
»V…« Darcar atmete erleichtert aus, schloss für einen Moment die Augen und drückte Velands Gesicht an seinen Hals. Es tat so gut, ihn zu halten, ihn zu spüren. So warm, so lebendig.
Jetzt wusste er, dass alles gut war. Ihm fiel ein riesiger Stein vom Herzen, die Erleichterung war groß und ermüdete ihn zugleich.
Elmer schlich zur Tür und machte sich lautlos aus dem Staub, Darcar sah ihm noch kurz nach, war dankbar und argwöhnend zu gleich. Das verunsicherte ihn, er wusste nicht, ob es klug war, dem Fremden zu vertrauen und einfach bei ihm zu bleiben. Sicher würde er irgendetwas dafür verlangen, früher oder später.
»Ich hab dich gerettet!« Veland richtete sich auf und lächelte Darcar stolz und glücklich ins Gesicht.
Darcar legte ihm eine Hand an die warme Wange, strich mit brennenden Augen und einem Kloß im Hals darüber. »Ja«, hauchte er und lächelte liebevoll, »das hast du. Du hast mich gerettet.« Diesen Triumph wollte er ihm nicht nehmen. Veland strahlte noch mehr, überschwänglicher Stolz machte ihn noch niedlicher, noch kindlicher – aber auch so unheimlich jung und verletzlich. Erneut warf er sich an Darcar, barg das Gesicht an der Brust seines großen Bruders, und schien auch nicht mehr loslassen zu wollen.
Darcar ließ sich zurück auf das Kissen fallen, küsste Veland auf den Kopf und genoss dann schlicht seine Nähe und das Gefühl, in Sicherheit zu sein. Zumindest für den Moment. Er wollte Veland keine Angst einjagen, seine Freude nicht schmälern. Vielleicht hatte Elmer tatsächlich nur gute Absichten.
Doch Darcar vertraute niemandem blind. Niemandem.
Die Bilder der Hinrichtung wollten sich ihm aufdrängen, die Schreie seines Vaters. Er verbannte sie, indem er sich an seinen kleinen Bruder klammerte.
*~*~*
Er musste wieder eingeschlafen sein, doch dieses Mal hielt Velands Nähe die Alpträume nicht fern. Nun, da Darcars Verstand nicht mehr wie wattiert war, schien sein Unterbewusstsein all die Dinge aufzuwirbeln, die er erfolgreich im Wachzustand verdrängt hatte. Der Mord an seinem Vater. Er schwebte über der Stadt, strudelnd in der Luft, versuchte mit Schwimmbewegungen hinab zu gelangen, doch er wurde festgehalten – von geflügelten, riesigen Rattenwesen. Er brüllte, kämpfte, aber es brachte nichts. Er hörte seinen Vater um Hilfe rufen, er sah das Blut, hörte sogar das Brechen der Knochen, obwohl er es in Wahrheit nie vernommen hatte. Sein Traumverstand gaukelte ihm vor, dass sein Vater nie gestorben war, dass er noch am Leben war, dass er gerettet werden konnte. Er kämpfte und kämpfte und kämpfte gegen die Monster, die ihn festhielten, wollte fallen, wollte seinen Vater retten. Es war, als hätte er eine zweite Gelegenheit erhalten, die er nicht vermasseln durfte. Sein Herz raste, er strampelte, konnte nur daran denken, seinen Vater zu retten. Er war erfüllt von zweiter Hoffnung, die umso schmerzhafter erschlagen wurde, da er erneut nicht im Stande war, etwas zu unternehmen. Die Ratten höhnten.
»Darcar!«
Erschrocken fuhr er aus dem Schlaf, saß kerzengerade und schweißüberströmt aufrecht auf dem Lager. Es dauerte einen Moment, bis er klar sehen konnte, sein Herz raste wie verrückt und er schnappte nach Luft.
»Du hattest einen Alptraum.«
Elmer! Seine Stimme holte Darcar zurück. Blinzelnd starrte er den anderen an und bemerkte, dass er dessen Oberarme umklammert hielt. Ob ihn festzuhalten oder von sich zu stoßen, wusste er nicht mehr. Es war beinahe dunkel im Raum, nur noch ein heißes Glühen schien aus dem Kamin, die Kerzen ausgeblasen, von oben fiel auch kein Licht herein, obwohl der Schrank beiseitegeschoben war und die Tür zum Kellerraum offenstand.
Es war Nacht.
»Nur ein Traum, ganz ruhig.« Ein Finger streifte Darcars nasse Stirn. »Du bist hier sicher.«
»Was?«, fragte er verwirrt, noch immer ganz erregt.
»Dein Fieber ist angestiegen.« Elmer drückte ihn zurück ins Kissen, erst da bemerkte Darcar, dass dessen Hand auf seiner Brust lag. Genau mittig, warm und kräftig. Er war sich der Berührung plötzlich mehr als gewahr.
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